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Interview mit Textilgewerkschafterin Kalpona Akter aus Bangladesch

»Ohne die Konsumenten wäre gar nichts passiert«

Interview
von Leo Wigger
Interview mit Textilgewerkschafterin Kalpona Akter aus Bangladesch
Wikimedia Commons / Iamtheboo

Die bangladeschische Aktivistin Kalpona Akter über Arbeitsrechte in Billiglohnländern, das Erbe des verheerenden Textilfabrik-Unglücks vor zehn Jahren – und die wahre Macht der Konsumenten in Europa.

zenith: Nach langen Diskussionen plant die EU ein Lieferkettengesetz, um Unternehmen zur Erfüllung von ethischen Mindeststandards auch in den Produktionsländern zu verpflichten. Wie sehen Sie diesen Entwurf?

Kalpona Akter: Ein Schritt in die richtige Richtung. Öffentlich feiern sich europäische Textilunternehmen in Europa gerne für ihre Bemühungen, die Arbeitsbedingungen in den Fabriken zu verbessern. Wir sollten uns nicht von ein paar Marketingphrasen abspeisen lassen. In Europa in der Öffentlichkeit das eine zu sagen, und dann die gesamte Verantwortung für die Umsetzung an die Fabriken vor Ort abzuwälzen: Damit sollten die Branchenriesen endlich nicht mehr durchkommen. Eine Schwäche des deutschen Lieferkettengesetzes, das ja schon seit Januar in Kraft ist: Es ermöglicht den Arbeitern keinen direkten Zugang zu Rechtsbeistand.

 

Zehn Jahre ist es her, dass durch den Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza 1.134 Menschen starben. Was hat sich seitdem an den Zuständen in der bangladeschischen Textilindustrie verändert?

Rana Plaza war ein weltweiter Weckruf. Das Unglück legte die fehlenden Sicherheitsstandards in den Fabriken auf dramatische Art und Weise offen. Es wurde deutlich, dass die ungezügelte Profitgier der Textilbranche Leben kosten kann. Es musste sich etwas ändern.

 

Ein internationales Abkommen, die »Bangladesch-Akkorde« zu Sicherheitsstandards, sollten in Reaktion auf das Unglück endlich Abhilfe schaffen. Das Schriftstück wurde im September 2021 von 159 Branchenriesen aus der Textilindustrie unterzeichnet und sollten einheitliche Mindeststandards in über 1.600 Fabriken schaffen. Hat das geklappt?

Tatsächlich haben sich die Sicherheitsbedingungen deutlich verbessert. Das Abkommen ist bahnbrechend. Endlich stehen den Arbeitern Mechanismen zur Gewährleistung ihrer Rechte zur Verfügung. Zum ersten Mal können sie sich gegen unsichere Arbeitsbedingungen und Verstößen wehren.

 

Wie klappt die Umsetzung?

Die funktioniert in der Praxis erstaunlich gut. Über 150.000 Sicherheitsmängel konnten schon identifiziert werden. Die Hälfte der rund 4 Millionen Angestellten in der Textilindustrie arbeitet seitdem in sicheren Umfeldern. Die Bedingungen sind deutlich besser geworden. Mir bereitet etwas anderes Sorge: Leider wurden in anderen Bereichen nach der Katastrophe von Rana Plaza keine vergleichbaren Erfolge erzielt.

 

»Schutzmaßnahmen beim Kontakt mit Chemikalien fehlen häufig«

 

Welche Bereiche meinen Sie genau?

Abgesehen von den Stückpreisen hat sich nichts an den problematischen Arbeitsbedingungen verändert. Beim Kampf für faire Gehälter, gegen geschlechterbasierte Gewalt und gegen die fehlende Versammlungsfreiheit hat es keinerlei nennenswerte Fortschritte gegeben. Textilarbeiter verdienen trotz schwerster Arbeit nur rund 75 Euro im Monat. Das reicht nicht, um eine Familie zu versorgen. Die soziale Absicherung für Arbeiter fehlt.

 

Wie sieht es in anderen Industrien in Bangladesch aus?

Noch düsterer. In der Leder- oder der Nahrungsmittelverpackungsindustrie sind die Zustände weiterhin unhaltbar. Schutzmaßnahmen beim Kontakt mit Chemikalien fehlen etwa häufig. Arbeiter, die diese Zustände ändern wollen, werden oft eingeschüchtert.

 

Sollten Konsumenten Produkte »Made in Bangladesch« also lieber meiden?

Ein Boykott ist überhaupt keine Lösung. Das hilft den Betroffenen nicht. In anderen Niedriglohnländern wie Indien sind die Zustände auch nicht besser. Das Problem liegt im System. Die Bedingungen in den Fabriken sind so, weil die Textilfirmen es sich erlauben können. Nur: Das ganze Geschäftsmodell ist nicht nachhaltig. Es müssen mehr Einnahmen aus den Wertschöpfungsketten in den produzierenden Ländern verbleiben.

 

Was kann man dann tun?

Ich rate den Konsumenten: Tauscht euer schlechtes Gewissen gegen Wut ein. Macht etwas. Ihr habt eine große Macht. Ihr könnt euch informieren und die Textilunternehmen danach fragen, was sie in ihren Fabriken gegen geschlechterspezifische Gewalt machen und ob sie den Mindestlohn zahlen. Die Initiative »Clean Clothes« macht in Deutschland zum Beispiel eine sehr gute Arbeit. Und öffentlicher Druck hilft. Ohne die Konsumenten wäre gar nichts passiert.


Kalpona Akter ist die Präsidentin der Vereinigung der Textil- und Industriearbeiter (BGIW) in Dhaka. Die ehemalige Kinderarbeiterin saß für ihren Einsatz für Arbeiterrechte im Gefängnis. Im Jahr 2016 erhielt sie den von Human Rights Watch verliehenen Menschenrechtspreis für außerordentliches Engagement.

Von: 
Leo Wigger

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