Katar bereitet sich auf das größte Ereignis seiner Geschichte vor und wird von seinen Nachbarn boykottiert. Von dort sollten Millionen WM-Besucher kommen. Eine gigantische Fehlkalkulation.
Muss Katar befürchten, die Gastgeberrolle für Fußballweltmeisterschaft noch zu verlieren? Aus der Vogelperspektive mag es danach aussehen. Katar wurde von einer Reihe von Krisen durchgerüttelt, die zu politischen, ökonomischen und sozialen Konflikten zwischen den Golfmonarchien geführt haben.
Der Verlust der WM 2022 wäre ein Desaster für das Land, das so stolz ist auf seine diplomatische »Soft Power«. Die Möglichkeit, dass das Turnier doch noch woanders hin vergeben wird, ist aber gar nicht das größte Problem des Emirats. So hat sich Doha bei der Einschätzung, wie viele Touristen vor und nach der WM ins Land kommen könnten, massiv verkalkuliert. Diese Fehlplanung ist der Grund, warum die WM für Katar zu einem Milliardengrab auswachsen könnte.
Dass die Fifa Katar 2010 den Zuschlag für die WM gab, ist nach allen Maßstäben die seltsamste Entscheidung in der Geschichte des organisierten Sports. Das Land hat keine nennenswerte Fußballtradition, die Nationalmannschaft hat noch nie an einer Weltmeisterschaft teilgenommen. Auch wenn die Fifa Skandale gewohnt ist, erscheint Katar als besonders schräge Nummer: Dem Emirat wird vorgeworfen, Menschenrechte zu missachten. Dazu kommen Temperaturen von über 40 Grad Celsius, denen eigentlichen mit innovativen Kühlungstechnologien in den Stadien begegnet werden sollte.
Zur Fußball-WM hatte Katar mit einem Ansturm von Fans aus Saudi-Arabien gerechnet.
Diese Pläne sind in der Schublade verschwunden. Stattdessen wird die WM nun im Winter ausgetragen. Erstmals wird die Saison in den europäischen Ligen durch das Weltturnier unterbrochen. Zudem sind die Bestechungsvorwürfe rund um die WM-Vergabe längst nicht aus der Welt geräumt.
Nicht zuletzt sind Katars Nachbarn dem Emirat in herzlicher Abneigung verbunden. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) auf der einen und Katar auf der anderen Seite liefern sich eine kostspielige PR-Schlammschlacht, die letztlich alle ziemlich mies aussehen lässt. Der Vorschlag von Fifa-Präsident Gianni Infantino, die Zahl der WM-Teilnehmer von 32 auf 48 aufzustocken, würde für Katar eine »erniedrigende Aufgabe seines Kronjuwels« bedeuten, wie die New York Times schreibt. Ganz auf sich allein gestellt, so die Argumentation, könne das Emirat die Aufgabe nicht stemmen und wäre auf Mithilfe der ungeliebten Nachbarn angewiesen.
Obendrein könnte sich der umstrittene Chef des Weltfußballverbandes als Friedensstifter für die Golf-Region inszenieren. Wer hat den höchsten Turm, wer den ersten Indoor-Ski-Park, die größte von Menschenhand erschaffene Insel, das schickste Hotel? Die Golfmonarchien sind festgefahren in einem scheinbar endlosen Wettkampf um Status und internationale Aufmerksamkeit.
Die Fußball-WM auszurichten, ist in diesem Wettkampf die ultimative Trophäe. Manche Beobachter in Katar sehen den WM-Neid der Nachbarn sogar als Hauptgrund für die Krise zwischen den Nachbarstaaten. Die in Katar erscheinende Gulf Times zitiert den stellvertretenden Polizeichef Dubais Dhahi Khalfan, der insbesondere auf Twitter immer wieder in Richtung des Nachbarn poltert, mit den Worten: »Wenn Katar die WM entzogen wird, dann gibt es keine Krise mehr.« Genüsslich beruft sich die Zeitung dann auf nicht näher genannte Experten, die den Zuschlag für die WM als »große Errungenschaft für Katar« bezeichnen, die für andere Länder schwer zu verdauen sei.
Selbst wenn der Tourismus anziehen sollte, wirft er nicht zwangsläufig die erhofften Gewinne ab.
Im Vergleich mit den Nachbarn stellt sich Katar in seiner Selbstdarstellung durchaus geschickt an. Das liegt auch an der PR-Abteilung – die inzwischen in einigen Feldern konstruktiv reagiert und bereit ist, Kritik aufzugreifen und Besserung zu geloben. Als Amnesty International Anfang 2019 mal wieder die miserablen Arbeitsbedingungen auf den Baustellen für die Stadien anprangerte, bedankte sich die Regierung bei der Menschenrechtsorganisation und ließ mitteilen, dass »die Arbeitsreform eine Reise ist und kein Ziel an sich«, dass »weitere Veränderungen notwendig sind« und dass sie »weiter mit internationalen Organisationen und NGOs als Partner und Berater an den Arbeitsreformen« kooperieren werde.
Der Ausgang des Fußball-Weltturniers ist aber schwieriger zu bemessen als eine bloße PR-Kampagne. Wenn man weiter blickt als auf aktuelle Schlagzeilen und hohle Rhetorik, stellt sich die Frage, welche tatsächlichen Auswirkungen die Blockade auf Katar und seine wirtschaftliche Entwicklungspläne hat. Da lassen sich zum einen die Opportunitätskosten und der künftige Nutzen des Turniers abwägen. Die kurzfristigen Kosten für den Bau der Infrastruktur wiegen nicht allzu schwer. Zwar gab es vereinzelte Finanz- und Lieferengpässe, aber der Bau schreitet voran, die Stadien werden nach und nach fertiggestellt. Die langfristigen Kosten sind dagegen enorm.
Die Erfahrungen der Vorgänger legen nahe, dass das Event in Katar wohl kaum den erwünschten ökonomischen Nutzen bringen dürfte. Einigen Schätzungen zufolge dürfte die WM in Katar ungefähr 220 Milliarden US-Dollar kosten, das ist mehr als das 30-fache der Gesamtkosten, die Südafrika für das Turnier 2010 ausgegeben hat, etwa 6,7 Milliarden. Der letzte Gastgeber, Russland, gab umgerechnet 14,2 Milliarden US-Dollar aus. Moskau erhoffte sich durch die WM langfristig erhebliche Mehreinnahmen – und ging von 31 Milliarden innerhalb der folgenden zehn Jahre aus. Analysen, die nach dem Turnier angefertigt wurden, beziffern die Gewinnmargen inzwischen auf maximal 1,3 Milliarden.
Brasilien hat sich die Ausrichtung der WM 2014 geschätzt 11 bis 14 Milliarden US-Dollar kosten lassen – gemessen an den erhofften Einnahmen, langfristig zwischen 3 und 13 Milliarden, hat sich das Turnier für die brasilianischen Steuerzahler nicht wirklich gelohnt. Der teuerste Stadionneubau in der Hauptstadt Brasília dient inzwischen als Busparkplatz, und auch die Arenen in Cuiabá, Natal und Manaus sind weitgehend ungenutzt.
Katar hat angekündigt, Lehren aus den Fehlern bei den vergangenen Turnieren zu ziehen. Dank kurzer Wege zwischen den Stadien wäre es möglich, zwei Spiele am selben Tag zu verfolgen. »Zu den Spielen werden die Fans mit der Metro, dem Auto, dem Fahrrad oder sogar mit Wassertaxis fahren, die diese Weltmeisterschaft zur grünsten und nachhaltigsten aller Zeiten machen sollen«, kündigen die Ausrichter an. Die Kapazität der meisten Stadien soll nach dem Turnier von 40.000 auf 20.000 Plätze reduziert werden. Später sollen heimische Profiklubs hier ihre Spiele austragen. Das Ras-Abu-Aboud Stadion soll sogar ganz zurückgebaut werden und einer Wohn- und Geschäftsmeile weichen.
Um aus einem Sportgroßereignis tatsächlich Profit zu ziehen, sollte die Infrastruktur im besten Fall schon bereitstehen, sodass für die Modernisierung der Stadien, Hotels und Verkehrswege keine Unsummen ausgegeben werden müssen. Die USA haben beispielsweise für die WM 1994 gerade einmal fünf Millionen US-Dollar in ihre Stadien investiert.
Dass Katar mit der WM keinen Gewinn machen würde, war schon lange absehbar, der Konflikt mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Staaten wird die Verluste aber noch in die Höhe schießen lassen. Sowohl langfristig als auch kurzfristig. Das betrifft vor allem den Tourismus.
Bleiben die Golf-Touristen weg, hat Katar ein Problem, denn Hotels im mittleren Preissegment sind Mangelware.
Seit Beginn der Blockade im Juni 2017 kommen fast keine Touristen aus den Nachbarstaaten mehr ins Emirat. Die Tourismusbehörde in Doha rechnet damit, dass es drei Jahre dauern wird, diesen Verlust auszugleichen. Das ist eine optimistische Annahme – eine Neuausrichtung des Tourismus erfordert sorgfältige Planung und müsste das gesamte kommende Jahrzehnt in den Blick nehmen.
Im ersten Halbjahr 2018 kamen knapp eine Million Touristen nach Katar, im gleichen Zeitraum 2017 waren es noch 1,5 Millionen. Besuchten in den ersten sechs Monaten 2017 noch mehr als 600.000 Reisende aus den anderen Staaten des Golfkooperationsrates Katar, waren es 2018 nur noch 100.000. Auch die Zahl der Touristen aus anderen arabischen Staaten, wie etwa Ägypten, sank um fast die Hälfte. Dass im gleichen Zeitraum etwa 60.000 Touristen mehr aus Asien, Europa und den USA eingetroffen sind, kann die Verluste nicht ausgleichen.
Zur Fußball-WM hatte Katar mit einem Ansturm von Fans aus Saudi-Arabien gerechnet – denen ist der Besuch im Nachbarland zurzeit aber verboten. Wenn man die Asienmeisterschaft in den VAE im Dezember 2018 als Maßstab (die Katar überraschend gewann) nimmt, dürfte die Krise massive Auswirkungen auf die Zuschauerzahlen haben. In Abu Dhabi musste die Sportbehörde 18.000 Tickets aufkaufen, um die Plätze im Zayed-Sports-City-Stadion zu füllen. Möglicherweise wird Katar es sich einiges kosten lassen, damit in zweieinhalb Jahren die Fernsehzuschauer keine leeren Stadien zu Gesicht bekommen.
Selbst unter den besten Voraussetzungen bringen große Sportereignisse die etablierten Touristenrouten durcheinander – Sehenswürdigkeiten und Museen sind für Sportfans nicht die üblichen Ziele. Sowohl in Peking und London ging die Zahl der Touristen im jeweiligen Olympiajahr insgesamt sogar zurück. Ins Britische Museum kamen während der Spiele im Jahr 2012 22 Prozent weniger Besucher als üblich. Die britische Regierung musste in ihrer Bewertung letztlich eingestehen, »dass es eine erhebliche Verdrängung gab. Viele Besucher fühlten sich abgeschreckt von der Aussicht auf überfüllte Plätze und überhöhte Preise«.
In Katar könnte das Turnier Besucher von Hotspots wie dem Arabischen Museum für moderne Kunst, dem Aqua-Park, der Corniche in Doha oder dem Waqif-Souk abziehen. Der verengte Blick vieler Ausländer auf bestimmte Sehenswürdigkeiten verstärkt dieses Problem, das die gesamte Region mit Katar teilt.
Selbst wenn der Tourismus anziehen sollte, wirft er nicht zwangsläufig die erhofften Gewinne ab. Schließlich müssen die Infrastrukturkosten für den Aufenthalt Hunderttausender Fans berücksichtigt werden. Vor der WM 2010 rechnete Südafrika mit 450.000 Besuchern, letztlich reisten nur etwa zwei Drittel davon an. Schließlich musste die Regierung für die Kosten der nicht genutzten Kapazitäten einstehen.
Das Ausbleiben der Touristen aus den Nachbarstaaten und die unsicheren Informationen über die Zahl der potenziellen Besucher stellen auch für die Hotelbranche in Katar ein Risiko dar – für 2022 und darüber hinaus. Die Fifa schreibt vor, dass Katar 2022 bis zu 60.000 Hotelzimmer zur Verfügung stellen muss. Stand 2017 lag die Kapazität bei etwas mehr als 22.400, plus 2.700 Ferienwohnungen. Realistischen Einschätzungen zufolge dürften Katars Hotels 2022 über rund 46.000 Zimmer verfügen. Viele von ihnen werden leer stehen. Seit Beginn der diplomatischen Krise im Sommer 2017 kämpft der Hotelsektor mit Leerständen und musste massive Verluste verzeichnen.
All dies muss nicht heißen, dass es sich für Katar nicht doch auszahlen könnte, die WM auszurichten. Große Sportereignisse sind machtvolle Werkzeuge, um Differenzen zu überbrücken. Ein Beispiel ist die Entspannung zwischen Süd- und Nordkorea während der Olympischen Winterspiele von Pyeongchang. Von Großereignissen kann auch ein – von der Diplomatie wohl geplantes – Signal ausgehen. So waren die Olympischen Sommerspiele 2008 in Peking ein Symbol für Chinas neue Rolle in der Weltpolitik – die Winterspiele 2022 in der chinesischen Hauptstadt sollen dieser Botschaft weiter Vorschub leisten.
Grundsätzlich bietet sich der Ausbau des Tourismus auch als Strategie an, um die Abhängigkeit von Öl und Gas zu reduzieren. Nach Angaben des »World Travel & Tourism Council«, einer Institution der globalen Tourismusindustrie, trägt der Sektor in den Staaten des Golfkooperationsrates 54,7 Milliarden US-Dollar zum Inlandsprodukt bei – Tendenz steigend. Die Weltbevölkerung wächst und auch das verfügbare Einkommen – insbesondere die wachsenden Mittelschichten in China und Indien sind hungrig auf neue Erfahrungen.
Wäre da nicht dieser Haken: Katar hat auf die falsche Zielgruppe gesetzt. Der Kern der Pläne für die Fußball-Weltmeisterschaft und die Zeit danach richtet sich fast ausschließlich an kaufkräftige Besucher aus den Golfstaaten mit einem Hang zur Familienunterhaltung in der Hauptstadt. Riesige moderne Einkaufszentren wie die Al-Hazm-Mall oder »Doha Festival City« mit Angeboten für die ganze Familie fallen genau in diesen Trend. Kein Wunder, verbindet doch der Hang zu dieser Art von Freizeitgestaltung die Kataris mit ihren Nachbarn.
Als Riesendesaster könnte sich aber vor allem die Planung der Hotelinfrastruktur erweisen. Bis 2021 sollen in Katar 21 neue Hotels eröffnet werden – fast alle in der Vier- und Fünf-Sterne Kategorie. Eine maßgeschneiderte Vorbereitung für Gäste aus den Golfstaaten. Wenn die weiterhin ausbleiben, hat Katar aber ein Problem. Denn schon jetzt sind Hotels im mittleren Preissegment, die von Touristen aus anderen Weltgegenden bevorzugt werden, Mangelware.
Zurzeit weist wenig darauf hin, dass die WM für Katar eine Brücke zu den Nachbarn schlagen wird. Vielmehr ist das Turnier sowohl Symptom als auch Ursache der Spannungen. Auch wenn die WM ohne Probleme über die Bühne geht, sind die Transaktionskosten immens – auf politischer, ökonomischer und moralischer Ebene. Das Turnier könnte als die größte Geldverschwendung in die Geschichte des Sports eingehen.
»Der strategische Fahrplan, gemäß der ›Vision 2030‹, und die Ausrichtung der WM 2022 geben Katar die Möglichkeit, enorme Fortschritte in Richtung seiner langfristigen Ziele zu erzielen.« In den offiziellen Kommuniqués der Ausrichter ist weder Platz für Zweifel an den eigenen Kalkulationen noch für Pläne für mögliche Kurskorrekturen. Ob das Organisationskomitee in der Lage ist, die durch die Blockade verursachten Kosten und jene für das Turnier gleichzeitig zu stemmen? Wahrscheinlicher ist folgendes Szenario: Die Regierung lässt alles laufen und nimmt die Verluste einfach hin. Katar kann sich das leisten – zumindest kurzfristig.