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Staudamm und Landwirtschaft an der türkischen Ägäis

Kahlschlag in Tahtacı

Reportage
Staudamm und Landwirtschaft an der türkischen Ägäis
Tahtacı: die Baustelle im zukünftigen Stausee Foto: Stefan Pohlit

Der Staudamm in Tahtacı, einem Alevitendorf im Golf von Edremit, ist fast fertig. Mit allen legalen Mitteln haben sich die Einwohner gegen den Bau, der auch den Olivenanbau bedroht, zur Wehr gesetzt – vergebens.

Mitte November im Dorf Tahtacı bei Burhaniye. Allah sei Dank, geht der Göttin im Ida-Gebirge nicht die Puste aus. Als Ersatz für den mangelnden Regen springt der Wind ein und wirbelt Feuchtigkeit vom Meer herauf. Die Bäume hängen voller Früchte, wenn auch dieses Jahr nur mit mickrigen Erträgen, auf die sich allenfalls die Ölpresse freut. Der Karınca Deresi (»Ameisenbach«) ist nahezu leer. Derweil baut der Staat an seinem Staudamm, dessen Reservoir einmal die Felder bewässern soll – ein Projekt aus der Menderes-Ära, von Recep Tayyıp Erdoğan aus der Mottenkiste geholt.

Staudamm und Landwirtschaft an der türkischen Ägäis
Tahtacı: der entstehende StaudammFoto: Stefan Pohlit

Unterhalb des Dorfes Tahtacı rechnet man bald mit nassen Füßen, so der Tenor. Tagaus tagein rollen LKW in die Mondlandschaft, die sich durch die Plantagen frisst. Alles von Wert wird ausgebaggert und verkauft: Ackerboden, Naturstein, Holz und uralte Bäume, die man am Leben lässt, um sie anderorts wieder einzusetzen.

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Der Lyriker Şener Bilen aus TahtacıFoto: Stefan Pohlit

»Eine Paradiesfrucht ist die Olive, lasst von ihr«, schreibt Şener Bilen, Tahtacıs eigener Dorfpoet, in seinem Gedichtband »Unsterblichkeitsbaum«, der im vergangenen Jahr erschien. Weil er für seinen kranken Bruder sorgt, hat Şener Bilen, Jahrgang 1966, nie geheiratet und das Dorf nie verlassen. Lyrik verkauft sich in der Türkei sowieso nicht. Immerhin hat ihn die Beteiligung an einer Anthologie mit Gleichgesinnten vernetzt. 

 

In Tahtacı gibt es weder ein Hotel, noch Wohnungen zur Miete. Die an die 200 Seelen sind Turkmenen – Angehörige einer alevitischen Minderheit, die (wenn auch entfernt) mit den sunnitischgläubigen Yörük in Verbindung stehen. Nach der Schlacht von Tschaldiran (1514) im Taurus-Gebirge verbürgt, haben sie sich unter Selim III. an der Ägäis angesiedelt. Ihr Name Tahtacılar (von türk. tahta = »Holz«) rührt von ihrer Spezialisierung auf Holzwirtschaft. Bis Ende des 19. Jahrhunderts (das heißt bis zur Einführung der Panzerkreuzer) waren sie, obschon keine Seefahrer, als Schiffsbauer geschätzt.

 

Ist es Zufall, dass der Stausee gerade hier entsteht, im einzigen Alevitendorf weit und breit? Nach anfänglichem Protest hat man sich mit der Lage abgefunden. Eine Klage gegen den Staat, koordiniert vom (sunnitischen) Nachbardorf Şahinler, haben sie verloren. Auf Nachfrage wiegeln die Eınwohner ab: »Wir sind zufrieden, es gibt keine Probleme!«, stottert der Betreiber des schönsten Dorfcafés der Ägais – vielleicht aus Angst, man könne ihm Belastendes in den Mund legen.

 

Es zieht, aber ein praller Maulbeerbaum hält den Wind vom Leib. Unter kaum hörbarem Gebrummel und Gekicher haben sich drei Kartenspieler um einen Tisch versammelt. Hier und da pflanzt sich ein Neuer an einen freien Platz und stiert schläfrig in die Runde. Sporadisch knattert ein Traktor oder ein einzylindriger patpat vorbei, so dass sich alle aufrackern und mechanisch winken. Sie kommen vom Feld, um sich zu zerstreuen – also zum Teufel mit dem Staudamm, mit Inflation und magerer Ernte. Nur so ein Unheimlicher, den sie Mezarcı, »Totengräber«, nennen, hört nicht auf zu stänkern: Warum die Türkei nicht in die EU darf, warum er hier festklebt und so weiter. Die anderen lachen. Erst als er weg ist, enthüllen sie, dass er in Russland auf dem Bau einen Haufen Kohle verdient hat, dass er sich zwar nicht wie Şener Bilen um einen Bruder, dafür um seine Mutter kümmert und ihm das auf den Senkel geht.

 

Der raue Ton gehört zu ihrem achselzuckenden Humor. Halil berichtet in höflichem Französisch, wie er es in Nancy zu Wohlstand gebracht hat. Seine Frau sei gestorben. Dafür sei er im Besitz einer Villa am Strand von Ayvalık und habe eine Freundin. Nur seine Kinder hätten ihm ausgeredet, nochmal zu heiraten.

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Onkel Halil, gennant Mösyö, im Dorfcafé von TahtacıFoto: Stefan Pohlit

Für die verlorenen Einkünfte entschädigt der Staat mit ein paar Kröten pro Hektar. Sollte der angekündigte Stausee auch das Dorf verschlingen, wäre die Abfindung für ihre selbstgebauten vier Wände auf dem heutigen Wohnungsmarkt ein Witz. Man würde sie mit Krediten abspeisen, die einen dauerhaft bei der Bank verpflichten. Doch wer malt gern den Teufel an die Wand? Zugegeben, es ginge noch schlimmer: Im fünfzehn Kilometer entfernten İvrindi schürft gar die Firma TÜMAD nach Gold – ein Prozess der Verwüstung, bei dem man Zyanid in den Boden pumpt. Hüseyin, unter dem Namen Paşa eines der Dorf-Originale, hat außer einem geerbten Haus sowieso nichts mehr. Dann haben ihm Unbekannte seine Kühe gestohlen. Der Schock hat ihm buchstäblich den Verstand geraubt.

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Hüseyin, genannt Paşa (rechts), mit einem Nachbarn in TahtacıFoto: Stefan Pohlit

Sobald die Sonne untergeht, wird es kalt – aber ohne den Frost der guten alten Zeit. Der Muhtar erzählt, dass die Bäche einst so viel Wasser führten, dass es zum Anbau von Baumwolle reichte. Die kleine Grundschule an der Einfahrt haben sie aufgegeben. Noch bis vor kurzem betreute dort ein einziger Lehrer simultan fünf Klassen. Geheiratet wurde unter sich, im Austausch mit Tahtacı-Dörfern im Ida-Gebirge. Auf dem Dorfplatz, gleich neben der Atatürk-Büste, ruht ein Heiliger, dessen Grab sie mit Tüchern behängt haben. Jeden Donnerstagabend werden hier Kerzen entzündet – »eher ungezwungen«, sagt ein Olivenbauer, der auch Hüseyin heißt. »Macht nix«, meint er. »Wenn wir die Zeremonie mal vergessen, holen wir sie in der darauffolgenden Woche nach.«   

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Tahtacı: Bierkästen vor dem DorfladenFoto: Stefan Pohlit

Ali Öztoprak hat das Epithet Trenci (von türk. tren, »Zug«) seinem Arbeitgeber, der staatlichen Eisenbahn, zuzuschreiben. Pensioniert und in zweiter Ehe verheiratet, engagiert er sich in der alternden Gemeinde als Chronist sowie als Elektriker und Installateur. Er hat kleinere Filme produziert und plant ein Museum. Weil seine Tochter in den Kindergarten muss, wohnen sie während der Ernte in Burhaniye und pendeln tagsüber ins Dorf. Ali Kemal Deveciler, seit 2019 Bürgermeister für die Republikanische Volkspartei CHP, habe, so berichten es die Menschen auf dem Wochenmarkt, in der von Korruption gebeutelten Kreisstadt aufgeräumt. Viele Gebäude sind restauriert, die osmanischen Moscheen von historischer Bedeutung. Der 1,5 Kilometer weite Sandstrand von Ören mit dem Umweltsiegel »Blaue Flagge« bietet ein Panorama von Ayvalık über den Golf und die Gipfel des Ida. Bescheidene Ausgrabungen erinnern an das biblische Adramyttion, Namensgeber der Kommune Edremit im Norden. In der verwaisten Feriensiedlung schütten Steineichen gurkengroße Eicheln über den Asphalt aus. 

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Landfrauen auf dem Wochenmarkt von BurhaniyeFoto: Stefan Pohlit

Unter Alis – alias Trencis – Anleitung geht es am Morgen zur Ernte. Bergauf, wo das Terrain (voraussichtlich) vom Stausee verschont bleibt, gehört ein Flecken Land Alis Schwester Sabır, einer armen und etwas wunderlichen Greisin. Von ihrem einstigen Besitz sind lediglich acht Bäume geblieben. Vor knapp zwanzig Jahren habe sie voreilig ein Papier unterzeichnet – ohne zu ahnen, dass sie damit in die Scheidung einwilligen und alles an ihren Mann abtreten würde. Der habe die Plantagen verscherbelt und sie in einem leeren Haus sitzen lassen. Sabırs Tochter Meryem ist aus Izmir angereist. Die Herbstferien in der Privatschule, wo sie unterrichtet, sind der Grund, warum die Familie die Ernte gerade jetzt anberaumt. Das wird auch Zeit, denn mitunter wacht einer von ihnen morgens auf und findet heraus, dass ihm Diebe zuvorgekommen sind.

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Oivenbauer Ali Öztoprak und seine Nichte MeryemFoto: Stefan Pohlit

Während man das umliegende Areal gepflügt und die Bäume beschnitten hat, verwildert Tante Sabırs Olivenhain unter Unkraut. Mit der Säge nimmt sich Ali unerwünschte Triebe vor, die um die Stämme sprießen. Die Kronen strotzen vor toten Zweigen, die wie Knäckebrot in der Hand brechen. An so dürrem Holz wachsen keine Oliven, erklärt Ali. Wären die Bäume davon befreit worden, würde der Ertrag üppiger ausfallen.

 

Nach antiker Tradition werden die Oliven mit langen Stöcken aus dem Baum geknüppelt und regnen – mit einem Beifang aus Blättern und Holzschnipseln – auf die Planen nieder. Gründlicher geht das mit einem elektrischen Rechen, der die Oliven per Vibration aus den Zweigen schüttelt. Die Technologie stammt aus Italien und hat sich erst vor ein paar Jahren durchgesetzt. Den nötigen Saft liefert eine Autobatterie.

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Sabır Konur vor ihrer OlivenernteFoto: Stefan Pohlit

Ist die Arbeit an einem Baum getan, werden die Planen in der Mitte zusammengelegt. Tante Sabır setzt sich zur Auslese vor den Haufen. Mit den reifsten, schwärzesten Früchten macht sie als Tischoliven mehr Gewinn. Mancherorts werden sie als hurma (»Datteln«) auch roh gegessen. Der Rest wandert in den Sack für die Ölpresse. Zwar ist der Graben, der sich unterhalb entlang schlängelt, ausgetrocknet.

 

Die Nähe zum Grundwasser macht sich aber an einigen Bäumen durch größere Früchte bemerkbar. Alles, schon vorher hier herum lag, wird Sabır erst in ein paar Tagen aufsammeln: Heruntergefallene Oliven gelten wegen ihres bitteren Geschmacks als minderwertig. In der Fabrik vergütet man sie für nur 20 Lira (etwa 0,56 Euro) pro Kilo. Nur den Wildschweinen, die im Gebüsch hausieren, scheinen sie zu schmecken.

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Oliventransport in die ÖlfabrikFoto: Stefan Pohlit

Um sich bei Laune zu halten, pausieren viele Bauern zum Frühstück im Freien. Es gibt Brot, Käse, Salça, Sucuk und natürlich Oliven. Dann werden etwa 300 Kilogramm Oliven verladen uns es geht über einen Feldweg von Tahtacı zur Genossenschaft im 5 Kilometer entfernten Şahinler. Der Inhalt der Säcke wird in normierte Kisten geleert und grob gewogen. Ein Gabelstapler befördert die Kisten vor eine Grube. Aufgehäuft, werden die Oliven maschinell ausgelesen, per Fließband durch ein Wasserbad und in die Presse geschickt.

 

Während im Herzen der Fabrik ein Computer die Weiterverarbeitung koordiniert, mag sich draußen, vor der Teeküche, im Lauf der letzten 30-40 Jahre kaum etwas verändert haben. Hier kennt jeder jeden, sie sind gemeinsam alt geworden. Niemand fragt nach Religion, die sie traditionell unterscheidet. Das Geschäft mit dem Öl, der Kampf um ihre freundliche kleine Welt und die Niederlage gegenüber dem Staat schweißen sie zusammen.   

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Das fertige Produkt in der Olivenölfabrik des Dorfs ŞahinlerFoto: Stefan Pohlit
Von: 
Stefan Pohlit

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