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Warum Syrer und Syrerinnen optimistisch sind

Hoffnung für Syrien

Analyse
 »Syrien für alle.« Bei einer Kundgebung in Damaskus halten Passanten Plakate hoch, die zur Einheit und Gerechtigkeit aufrufen.
Foto: Joud Hasan

Nach der Machtübernahme der Hayat Tahrir Al-Scham geben sich die neuen Herrscher in Damaskus offen und pragmatisch. Warum das neue Auftreten der Islamisten vielleicht eine Taktik ist, aber dennoch Hoffnung macht.

In der Geschichte bewaffneter Konflikte ist es keineswegs die Regel, dass Sieger sich so bald nach ihrem Triumph mit Vertretern der Verliererseite an einen Tisch setzen. Doch genau das hat Anführer der Hayat Tahrir Al-Scham Al-Dschaulani getan: Die neuen Machthaber, die auf diese einstigen Funktionäre nicht angewiesen wären, suchen demonstrativ das Gespräch auf Augenhöhe. Sie inszenieren einen Übergang, der nicht auf Demütigung, sondern auf Stabilität und Pragmatismus setzt.

 

Nichts davon soll von den brutalen Angriffen der letzten Wochen auf Kurdinnen und Kurden im Norden des Landes ablenken, nichts die berechtigten Ängste jener Syrerinnen und Syrer ignorieren, die vor den vorrückenden Milizen aus dem Norden bangten. Doch trotz dieser schrecklichen Gewalt und Unsicherheit haben viele Ereignisse der letzten beiden Wochen positiv überrascht.

 

Syriens Einheit neu erwacht

Entgegen der von westlichen Kommentatoren oft betonten konfessionellen und ethnischen Zerrissenheit Syriens manifestiert sich derzeit ein überraschendes Einheitsgefühl: Der Ruf »Wahid, wahid, wahid, Al-Scha‘b Al-Suri wahid!« (auf Arabisch: »eins, eins, eins, das syrische Volk ist eins«) hallt durch die Straßen und dominiert die Massenkundgebungen. Getragen wird diese neue Geschlossenheit sowohl von den islamistischen Rebellengruppen als auch der Bevölkerung. Die Kämpfer um Al-Dschaulani reagieren gezielt auf die Vorbehalte religiöser und ethnischer Minderheiten: Sie gewähren Sicherheitsgarantien, suchen den Dialog mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen und mahnen die eigenen Reihen zur Zurückhaltung. Ein bislang unerwartetes Narrativ der nationalen Einheit nimmt Gestalt an.

 

Die islamistische Führung ist sich bewusst, dass Syrien weit mehr ist als das vergleichsweise homogene, konservative Idlib. In Damaskus, Latakia, Aleppo, Homs und Hama finden sich völlig andere Konstellationen von Politik, Ethnien und Glaubensrichtungen. Um die Einheit des Landes zu sichern, müssen die neuen Machthaber die alteingesessenen städtischen Eliten und die traditionelle sunnitische Kaufmannsschicht für sich gewinnen – jene Gruppen, die seit jeher bedeutenden Einfluss auf die politischen und wirtschaftlichen Geschicke des Landes hatten. Schon Hafiz al-Assad wusste um ihre Bedeutung. Spielen diese Gruppierungen nun ihre Karten geschickt aus, dürften sie im Zuge der konstitutionellen Neuordnung den Islamisten weitreichende Zugeständnisse abverlangen.

 

Auch in der alwatisch geprägten Küste verlief die Machtübernahme reibungslos und unblutig. Vieles spricht dafür, dass die Vorkehrungen für den Tag nach Assad längst getroffen waren. Die Elite der Alawiten scheint nur auf den geeigneten Moment gewartet zu haben, um sich vom Regime loszusagen. Das Szenario, unter Assad zu einem alawitischen Rumpfstaat unter russischer Protektion zu verkommen, war für die alawitischen Führer abschreckend genug, um sich dagegen zu entscheiden.

 

Warum historische Vergleiche nicht ziehen

Während der Übergangs-Premierminister Al-Bashir in der ersten Regierungssitzung noch vor zwei Flaggen saß, der der syrischen Revolution und einer mit dem islamischen Glaubensbekenntnis darauf, zeigte er sich nach massiver Kritik am Tag darauf im TV-Sender al-Jazeera nur vor der Flagge der Revolution. Auch hat die Regierung verkündet, jegliche Änderungen an der Verfassung erst nach Ablauf der Übergangsperiode im März durch ein geordnetes Verfahren anzustreben. Natürlich können all solche Schritte als reine Taktiererei verstanden werden, um erstmal die eigene Macht zu konsolidieren. Die ideologische Borniertheit, mit der viele islamistische Gruppen aber sonst auftreten, zeigt sich hier erst einmal nicht.

 

Noch dazu zeigen diese ersten Anzeichen eines halbwegs geordneten Übergangs der Macht über staatliche Institutionen deutliche Unterschiede zu den Fällen in Libyen und dem Irak. In Tripolis wäre es undenkbar gewesen, dass sich Rebellen nach dem Sturz von Gaddafi mit dessen Regierungsmitgliedern zusammensetzten – ebenso in Bagdad nach Saddam Hussein, wo alle Mitglieder der Baath-Partei systematisch aus dem Staatsapparat geworfen wurden. 

 

Die Lehre aus dem Irak-Desaster der Amerikaner ist unübersehbar: Die HTS weiß um die verheerenden Folgen der radikalen Entbaathisierung damals im Irak. Deswegen liegt der Fokus der HTS gerade auf eine symbolische Säuberung. Betroffen ist die obere Führungsriege der besonders belasteten Regimeanhänger, soweit  diese nicht schon das Land verlassen haben, die mittleren und unteren Ränge der Beamtenbürokratie bleibt aber verschont.

 

Welche Rolle die syrische Zivil- und Exilgesellschaft nun hat

Ein wichtiger Akteur bleibt in vielen Analysen derzeit ausgeklammert: die syrische Zivilgesellschaft – sowohl im Land als auch im Exil. Seit vielen Jahren beschäftigen sich unzählige Syrerinnen und Syrer damit, wie ein Syrien nach Baschar Al-Assad aussehen könnte, schreiben Verfassungsentwürfe und entwerfen Pläne für den Übergang. In großen Teilen des Landes gibt es auch bereits Erfahrungen mit Strukturen jenseits der Kontrolle des Regimes: Lokale Koordinationskomitees, die bereits zu Beginn der Aufstände Proteste und Basisversorgungen organisierten, und die zahlreichen lokalen Räte, die etwa in den befreiten Gebieten Aleppos oder Idlibs entstanden, sind nur zwei Beispiele solcher Initiativen. Auch Organisationen wie »The Day After» oder Netzwerke syrischer Ökonomen, Juristen und Bildungsinitiativen arbeiten seit Jahren an Plänen, wie sich ein Syrien neu aufstellen lässt. Besonders hervorstechen tut der Rat der syrischen Charta, dessen Mitglieder verschiedenste konfessionelle und ethnische Repräsentanten umfasst, die sich gemeinsam seit Jahren mit der Frage einer friedlichen Transformation im Land auseinandersetzen.

 

In der Situation des Vakuums, die nach dem Sturz des Regimes unweigerlich entsteht, ist es Gold wert, solche Akteure, Ideen und Entwürfe zu haben. Sicherlich: Für die Islamisten werden die liberal-demokratische Vorstellungen der Opposition nicht die ersten Impulse geben. Dennoch können existiertende, ausgearbeitete Vorschläge jetzt eine große Wirkung entfalten, weil auf das Machtvakuum in Syrien eben nicht Ratlosigkeit folgt, sondern klare Vorstellungen vorliegen, was jetzt getan werden müsste.

 

Und all diejenigen, die sich 13 Jahre lang dem Regime von Assad widersetzt haben, werden auch jetzt nicht klein beigeben, wenn islamistische Milizen versuchen sollten, ein neues unterdrückerisches Regime zu errichten. Die nun dominierenden Gruppen, selbst islamistisch gefärbt, erkennen, dass sie ohne den Rückhalt der syrischen Mitte kaum eine stabile, funktionierende Ordnung aufrechterhalten können. Genau hier liegt das eigentliche Potenzial für einen Aufbruch: bei den Syrerinnen und Syrern selbst, die, getragen von einer neu erwachten Einheit, daran arbeiten, ein Land zu formen, in dem weder konfessionelle Spaltung noch autoritäre Willkür den Ton angeben müssen.

 

Letztlich nährt sich daraus der vorsichtige Optimismus in Syrien: Nicht deshalb, weil nun von außen herbeigesehnte Wunder in Erfüllung gingen, sondern weil sich im Innern der Gesellschaft über Jahre hinweg ein Fundament aus pragmatische Vernunft, Versöhnungswillen und überkonfessionelle Verständigung gebildet hat. Auf dem Boden jahrzehntelanger Erfahrungen – sei es in den Exilzirkeln, den lokalen Räten oder in Initiativen wie dem Rat der syrischen Charta – ist ein beeindruckendes Geflecht aus Akteuren gewachsen, das nun in der Lage ist, dem Machtvakuum nach Assads Sturz mehr entgegenzusetzen als bloße Improvisation.

Von: 
Mounir Zahran und Michael Nuding

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