Die Parlamentswahlen sollen einen weiteren Meilenstein in Ägyptens Übergangsphase markieren, doch der erste Tag ließ noch Raum für Verbesserungen. Zudem werden viele Revolutionsmitstreiter vom Tahrir die Wahllokale nicht betreten.
Nach den letzten Ausschreitungen am Tahrir-Platz zweifelten viele, ob die ägyptischen Parlamentswahlen pünktlich am 28. November 2011 beginnen würden. Zu zerrüttet schien das Vertrauensverhältnis zwischen Volk und Militärregierung, zu instabil die Situation in Kairo. Doch in den Tagen der Unruhen versicherte der Militärrat um Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi stets, dass die Wahlen wie geplant stattfinden würden, auch nachdem sich mehrere Parteien für eine zweiwöchige Aufschiebung des Wahltermins aussprachen.
Organisatorische Probleme verursachen lange Wartezeiten
So begannen also heute morgen die ersten freien Wahlen in der Geschichte Ägyptens. Schnell jedoch wurde klar, dass der erste Tag der Wahlen nicht ohne Probleme verlaufen würde. Viele Wahllokale öffneten ihre Türen erst mehrere Stunden nach der vereinbarten Uhrzeit, da die zuständigen Richter nicht auftauchten oder die Wahlzettel zu spät eintrafen. Sogar fünf Stunden nach dem offiziellen Beginn der Wahlen warteten noch bis zu 300 Wahllokale auf die notwendigen Dokumente.
Doch auch wo die Wahlzettel vorhanden waren, war ein reibungsloser Ablauf nicht zwingend gegeben. Mehrere Wahllokale wurden schon zur Mittagszeit geschlossen, weil auf einigen Wahlzetteln ein notwendiger Stempel fehlte. In anderen Wahllokalen wurde dieses Problem dadurch gelöst, dass der zuständige Richter den Stempel mit seiner Unterschrift ersetzte. Die unterschiedlichen Handhabungen von organisatorischen Missständen weisen auf einen erheblichen Mangel an geeigneter Gesetzgebung über die genauen Abläufe am Wahltag hin.
Diese Probleme und eine unerwartet hohe Wahlbeteiligung führten in Kairo zu Schlangen mit bis zu tausend Menschen, die vor den Wahllokalen ihrer ersten Möglichkeit an einer freien Wahl teilzunehmen entgegen fieberten. So verbrachten Wähler oft mehrere Stunden auf der Straße, um dann schließlich ihre Stimme abzugeben. Es gab jedoch auch viele Wahllokale, die gut organisiert waren und für Zufriedenheit bei den Wählern sorgten – trotz langer Wartezeiten. Des Weiteren kam es nur in einzelnen Fällen zu kleineren Ausschreitungen und der erste Tag der Wahl verlief größtenteils friedlich – in einem Land, in dem sich die Polizei noch vor wenigen Tagen tödliche Straßenkämpfe mit Demonstranten lieferte.
Wahlkampf dauert bisweilen an
Auffällig waren am heutigen Tat die vielen Verstöße gegen das offizielle Wahlkampfende 48 Stunden vor der Wahl. Viele Repräsentanten der politischen Parteien waren in der Nähe von Wahllokalen, verteilten Broschüren oder versorgten die Wartenden mit Tee und Stühlen – während sie ihnen erklärten, für wen sie wählen sollten. Vor allem die Muslimbruderschaft, die den Protesten der vergangen Woche eine Absage erteilt und sich vom Tahrir-Platz ferngehalten hatte, war am ersten Wahltag bei vielen Wahllokalen präsent, um ihre Partei »Freiheit und Gerechtigkeit« zu unterstützen. Mitarbeiter der gut organisierten Partei bauten an zahlreichen Wahllokalen Infostände auf, betreuten Wähler und sicherten so ihre ohnehin breite Unterstützung in der Bevölkerung.
Die taktische Entscheidung der Muslimbruderschaft, die Proteste nicht zu unterstützen und auf die geplante Ausführung der Wahlen zu drängen, scheint vorerst aufgegangen zu sein. Ein anderer Teil der Oppositionsbewegung jedoch ist gespalten über die Frage, wie mit den Wahlen umzugehen ist: Viele der Demonstranten der letzten Woche sprechen sich für einen Wahlboykott aus und weisen auf die Forderungen an die Militärregierung hin, die noch vor wenigen Tagen von Hunderttausenden auf dem Tahrir-Platz skandiert wurden.
»Der Militärrat muss zurücktreten und dann kümmern wir uns selber um unser Land«, entgegnet Aktivistin Lobna Darwish auf die Frage, warum sie nicht wählen gegangen ist. Als »Marionettenparlament« ohne Macht – und vor allem ohne jeglichen Einfluss auf den Militärrat – bezeichnet Darwish das politische Organ, für das seit heute Repräsentanten gewählt werden.
Oppositionsbewegung geteilt zwischen Beteiligung und Boykott
Viele junge Revolutionäre teilen diese Ansichten. Ein Sitzstreik vor dem Kabinettsgebäude drückt die Unzufriedenheit mit der vom Militär eingesetzten Übergangsregierung aus. Der erst letzte Woche ernannte Premierminister Kamal Ganzouri genießt keine Unterstützung. »Wir wollen eine revolutionäre Regierung. Die Wahlen sind nicht legitim, weil der Militärrat nicht legitim ist«, meint ein Demonstrant und steht mit dieser Aussage nicht alleine da.
Derweil haben Aktivisten eine Internetkampagne gestartet mit dem Ziel, die hohe Wahlbeteiligung von einer Legitimation des Militärrats zu trennen. Videoaufnahmen von Wählern, die aussagen, dass sie nicht über die Legitimität des Militärrats abstimmen, sollen diese Assoziation verhindern. Es ist jedoch davon auszugehen, das Feldmarschall Tantawi eben genau diese Verbindung herstellen wird. Schon im Frühsommer leitete er von der hohen Beteiligung im Verfassungsreferendum Unterstützung für die eigene Rolle in der Übergangsphase ab.
Doch diejenigen, die eine Wahlbeteiligung als »unausgesprochene Kapitulation« bezeichnen, waren heute in der Minderheit. Euphorische Menschen, die den heutigen Tag als »historisches Ereignis« feierten, und sogar die langen Wartezeiten verständnisvoll hinnahmen, bestimmten das Bild der ägyptischen Öffentlichkeit. Während die Öffnungszeiten der Wahllokale kurzfristig auf 21 Uhr verlängert wurden, ist nun sicherzustellen, dass die Wahlurnen, die über Nacht in den Wahllokalen verweilen, bis zum zweiten Tag der Wahl sicher sind, und dass es weiterhin keine Ausschreitungen gibt.
Langfristig gesehen ist zu hoffen, dass diese Wahl wirklich den Auftakt des Endes der Übergangsphase bedeutet. Unter den Wählern waren heute 90-Jährige, die zum ersten Mal in ihrem Leben wählten und dies als »Chance etwas zu verändern« ansahen. Es liegt am Militärrat, diese Hoffnungen nicht zu enttäuschen und den Weg zum Wandel frei zu machen. Die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz und vor dem Kabinettsgebäude werden ihn daran erinnern.