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Ölarbeiterstreiks hat Kasachstan

Wie die Schatzinsel zum Problemfall wurde

Analyse

Die gewaltsame Eskalation eines seit Monaten währenden Ölarbeiterstreiks hat Kasachstan an seinem 20. Unabhängigkeitstag erschüttert. Den Vorwürfen des Regierungsversagens begegnet Präsident Nasarbajew nun mit einem überraschenden Vorstoß.

Die streikenden Ölarbeiter waren schon da, als am Vormittag des 16. Dezembers nach und nach die Einwohner Zhanaozens nahe dem Kaspischen Meer auf dem Yntymak-Platz im Zentrum eintrudelten.  Wie in jeder größeren Stadt des Landes sollte auch hier das 20. Jubiläum der Unabhängigkeit Kasachstans mit »Pomp und Circumstance« gefeiert werden. Zum Feiern gab es für die Streikenden indes wenig Anlass: Seit Mai schon versammeln sie sich hier und propagieren Tag für Tag ihre Forderungen nach Anerkennung von Gewerkschaften und höheren Gehältern.

 

Als die Polizei kam, um Ruhe für das Staatsspektakel zu schaffen, stürmten in Arbeitermonturen bekleidete Männer die Bühne. Auf ihren Overalls war das Logo vom staatlichen Energiekonzern KazMunaiGas zu sehen. Die Männer zerstörten Equipment, warfen den Weihnachtsbaum um, setzten Häuser und Autos in Brand. Die Staatsgewalt reagierte umgehend: Ein YouTube-Video zeigt, wie die Sicherheitsorgane Schüsse auf die fliehende Menschenmasse abfeuerten. Die Regierung rechtfertigt später das Handeln der Polizei.

 

»Nun hat man, nachdem man monatelang die Forderungen der Ölarbeiter ignoriert oder diese eingeschüchtert hat, auf das Mittel der Gewalt zurückgegriffen«, so Viola von Cramon, Zentralasien-Expertin bei Bündnis 90/ Die Grünen. »Die Reaktion der Sicherheitsorgane war völlig unverhältnismäßig.«

 

Zhanaozen registriert am Ende des Tages offiziell 15 Tote und knapp 100 Verletzte. Menschenrechtsorganisationen sprechen von 70 Todesopfern und bis zu 500 Verwundeten. »Alles Gute zum Unabhängigkeitstag« verkündet ein Plakat mit einem am Ende des Tages immer noch unbeschädigten Präsidenten Nasarbajew auf der verkohlten Hauswand der Verwaltungszentrale von Ozenmunaigaz – eine Tochterfirma von KazMunaiGas und zentraler Akteur im Streik.

 

Harte Reaktion der Ölunternehmen

 

Auf der Halbinsel Mangyshlak – genannt Schatzinsel – halten bis zu 15.000 streikende Ölarbeiter seit Frühjahr die Energiebranche auf Trab. Ausgangspunkt des Protests war ein Regierungsdekret von 2008, das eine Gehaltserhöhung in der Ölbranche um nahezu das Zweifache vorsah – aber nicht wurde. Ausgehend von der Arbeitsniederlegung bei »Karashanbazmunai« in Aktau schwappte die Protestwut in andere Teile der Region: Zhanaozen, Atyrau, Aktobe.  Die Reaktion der Chefetagen: Die Proteste seien illegal, die Forderungen unberechtigt.

 

Arbeitnehmervertretungen werden als Gesprächspartner nicht anerkannt, ihre Anführer festgenommen. Als eine der Wortführerinnen, Natalia Sokolowa, wegen Anstiftung zu sozialen Unruhen im August zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wird, radikalisierte sich die Bewegung. Doch anstelle von Verhandlungen gab es Entlassungen – um die  1000 Streikende sollen ihren Arbeitsplatz mittlerweile allein in Zhanaozen verloren haben. Die Arbeiter empfinden dies als zutiefst ungerecht und protestieren. Was sollen sie in einer Ölstadt wie Zhanaozen  auch anderes machen?

 

Nasarbajew verhängte am Tag nach den schwersten Ausschreitungen, die Kasachstan seit seiner Unabhängigkeit erlebte, den Ausnahmezustand in Zhanaozen. Internet, Telefon – und  Mobilfunknetze waren blockiert.  Zur selben Zeit verlagerten sich die Proteste in nahe andere Städte. Nasarbajew beeilte sich, der Bevölkerung zu versichern, dass die »Hooligans und Banditen«  für ihre Taten zur Verantwortung gezogen würden und kündigte eine Untersuchungskommission an.

 

Schuld sind immer die anderen Die staatlichen Medien verdächtigen die »Banditen« schnell, vom Westen finanziert zu sein: Zhanaozen sei ein Versuch der USA, in einer Provinz fernab vom Zentrum – zufällig auch noch reich an Öl und Gas – ein neues Staatswesen zu schaffen: »Den Plan eines ›Tengiz-Chevronistan‹ hat der Westen schon lange gefasst«, sagte beispielsweise Jurij Solozobov vom »Institut für nationale Strategie« in Moskau, der russischen Nezavissimaja Gazeta.

 

In den Fokus der Ursachenforscher rücken auch die im Exil lebenden »Staatsfeinde« Rakhat Alijew – der in Ungnade gefallene Ex-Schwiegersohn Nasarbajews, dem Österreich Asyl gewährt – sowie Mukhtar Ablyasow, Bankinvestor und Gründer der Partei »Demokratische Wahl Kasachstan«. Seine Auslieferung aus dem Londoner Exil fordert Astana bisher vergeblich. Vorwurf: Geldwäsche und Unterschlagung. Ablyasow ist auch Anteilseigner des Satellitensenders K+, der als einziger Kanal Informationen über die Ereignisse in Zhanaozen ausstrahlte und die Ereignisse damit überhaupt in die Welt brachte.

 

Weitere Spekulationen werden in Blogs verbreitet: Hat Nasarbajew die Eskalation etwa selbst veranlasst, um durch den Ausnahmezustand Ruhe zu schaffen? Haben die Energieunternehmen die Ausschreitungen initiiert, um die Streikenden loszuwerden und weitere Produktionseinbrüche zu verhindern? Bereits im September klagte KazMunaiGaz, die Produktion sei um 6 Prozent zurückgegangen.

 

Gewalt als Krisensymptom

 

Tolganay Umbetaliewa von der »Central Asian Foundation for Developing Democracy« in Almaty sieht die Eskalation ausschließlich in der Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber den Ölarbeitern begründet. »Es handelt es sich um einen rein sozialen Protest, der radikale Formen annahm, weil die Regierung die Forderungen der Ölarbeiter ignorierte. Sicherlich: Nicht jede Forderung kann erfüllt werden. Aber am Tisch sitzen, reden und versuchen, eine Lösung zu finden – all das wäre möglich gewesen.« Nun habe sich ein soziales Problem in eine handfeste politische Angelegenheit verwandelt. »Sofort ziehen alle die Möglichkeit eines Machtwechsels in Betracht. Aber es geht den Ölarbeiter nicht darum, dass Nasarbajew geht, sondern dass er ihnen zuhört«, meint Umbetaliewa.

 

Die Opposition hat versucht, die Streikenden für sich zu instrumentalisieren – ohne Erfolg: Die Ölarbeiter setzten unbeirrt auf Nasarbayjew, der auf die Geschäftsleitungen einwirken sollte. Der Präsident setzte jedoch die Miene eines Unbeteiligten auf und blieb tatenlos. Die bestreikten Unternehmen profitierten jedoch derweil von hart durchgreifenden Polizisten, unnachgiebigen Gerichten und der staatlichen Presse, die – wenn sie die Proteste überhaupt erwähnt – die Streikenden diskreditiert. 

 

»Arbeitskämpfe kommen in modernen Gesellschaften einfach vor. Doch die Regierung war seit Mai nicht in der Lage, deeskalierend zu wirken. Sie hatte nicht einmal Ansätze eines Konfliktschlichtungsmechanismus vorzuweisen«, so Zentralasien-Expertin Beate Eschment von der »Forschungsstelle Osteuropa« in Bremen. »Wir beobachten ein absolutes Versagen der Regierung.« Eschment sieht die Gewalt gegenüber Bürgern als ein Zeichen von Schwäche des Systems. Früher sei der seit zwanzig Jahren herrschende Präsident stets in der Lage gewesen, Konflikte gewaltfrei zu lösen – etwa indem er bessere Posten an potenzielle Gegner vergab und damit die Machtbalance innerhalb des Elitennetzwerkes aufrechterhielt. »In der letzten Zeit war ein zunehmend radikaleres Vorgehen beispielsweise Kritikern gegenüber zu beobachten.« Eschment hält es für möglich, dass Nasarbajew innerhalb der Elite unter zunehmendem Druck steht.

 

Andrea Schmitz von der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) sieht zudem das Verhältnis Nasarbajews zur Bevölkerung beschädigt. »Die Gewalt in Zhanaozen zeigt die Grenzen des von Nasarbajew geschaffenen ›Gesellschaftsvertrags‹, der darin besteht, dass Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg des Landes gegen den Verzicht auf politische Mitsprache getauscht wird«, sagt sie im Interview mit der Deutschen Welle.

 

Neuwahlen am 15. Januar 2012

 

In der Region Maghystau, die den Reichtum des Landes erwirtschaftet, selbst jedoch arm ist, geht dieser Vertrag nicht auf. Das Desinteresse am Streik verschärft den Missstand. Umbetaliewa sieht im Westen, vor allem aber im Süden Kasachstans, die Beliebtheit Nasarbajews schwinden. »In den letzten fünf Jahren haben wir hier zunehmend Enttäuschung registriert.«

 

Als Nasarbajew die für Ende 2012 geplanten Präsidentschaftswahlen in den April 2011 vorzog, interpretierten Beobachter diesen nicht ersichtlich notwendigen Schritt als Folge einer Verunsicherung über die politische Stimmung im Land, geschürt durch den Wandel in der arabischen Welt. Im November forderte zudem das Parlament seine Auflösung. Am 15. Januar 2012 finden Neuwahlen statt.

 

Tatsächlich will Nasarbajew nun offenbar energisch verhindern, dass sich die Zhanaozen-Proteste auf die  Parlamentswahlen verlagern und scheint denen, die ihm Schwäche und Versagen vorhalten, beweisen zu wollen, dass er unangefochten die Fäden in der Hand hält.  

 

Köpfe rollen im engsten Umfeld des Präsidenten

 

Die bevorstehenden Wahlen rettete Nasarbajew vorerst mit der Meldung, dank seiner Intervention würden nun 900 entlassene Ölarbeiter wieder eingestellt würden. Am Tag darauf entschied sich Nasarbajew spontan und publikumswirksam, nach Zhanaozen zu fahren und das Gespräch mit den Streikenden zu suchen.

 

Er ging erneut in die Offensive, als er die Vereinten Nationen bat, die Kommission zur Untersuchung der Vorfälle in Zhanaozen zu unterstützen: Die Möglichkeit einer transparenten, fairen Ermittlung – wie von der EU und der OSZE gefordert – hatte niemand ernsthaft in Betracht gezogen. Der von Oppositionellen gegründeten »Bürgerkommission« blieb der Zutritt nach Zhanaozen jedoch verwehrt.

 

Mit seinem konsequenten Handeln hat sich Nasarbajew nicht nur dem internationalen Druck gebeugt, sondern auch den Forderungen der Streikenden erst einmal den Wind aus den Segeln genommen. Es ist zu fragen, ob dies der Angst vor einem Wahldesaster oder tatsächlicher – wenn auch spät entdeckter – entdeckter Solidarität geschuldet ist.

 

Schwerer ins Gewicht fallen die personellen Konsequenzen, die Nasarbajew aus Zhanaozen zog. Er entließ zunächst den Gouverneur von Mangystau, Krymbek Kusherbajew. Das Verhältnis soll ohnehin abgespannt gewesen sein – eine der möglichen Erklärungen, weshalb Nasarbajew ihn mit den Streiks allein ließ. An seine Stelle tritt nun der frühere Innenminister Baurzhan Mukhamedow. 

 

Köpfe rollten auch in den oberen Chefetagen von KazMunaiGaz. »Meiner Weisung, die Streiks schnell beizulegen, wurde nicht nachgekommen«, erklärte Nasarbajew. »Man darf niemals vergessen, dass Stabilität die Hauptbedingung für Kasachstans Erfolg ist.«

 

Die entscheidende Sensation ist jedoch Nasarbajews Entschluss, den Vorsitzenden des Nationalen Fonds »Samruk-Kasyna« zu entlassen, der sämtliche staatlichen Anteile in maßgeblichen kasachischen Unternehmen und Banken verwaltet. Der Vorsitzende kontrolliert daher vollständig die kasachische Energiebranche und ist aus der Sicht des Präsidenten ebenfalls verantwortlich für das Missmanagement des Streiks.

 

Die Personalie ist brisant, denn es handelt sich um den Ehemann seiner Tochter Dariga, Timur Kulibajew. Bislang galt der Milliardär als enger Vertrauter seines Schwiegervaters. Der Aufsichtsratsvorsitzende bei KazMunaiGas wurde zuletzt als Nachfolger im Präsidentenamt gehandelt.

 

Alles wieder auf null

 

Die Nachricht hat selbst den Berater Nasarbajews, Yermukhamet Yertysbajew, überrascht – schließlich hat er schon Szenarien entwickelt, wie eine Machtübergabe ablaufen könnte, sofern Nasarbajew – immerhin 71 Jahre alt – sein Amt nicht mehr ausüben kann. Die Frage der Nachfolge beschäftigt das Land seit Jahren. Die Angst vor einer Destabilisierung des Landes, wenn die Machtbalance erst gebrochen ist, ist groß. Eine Antwort blieb Nasarbajew seiner Bevölkerung und ausländischen Investoren bisher schuldig. Sofern er keine ehrenrettende Option für Kulibajew vorsieht, beginnt die Diskussion um die Nachfolge wieder bei null.

 

Kulibajew wäre damit auch der zweite Schwiegersohn, den Nasarbajew ins Aus manövriert. Rakhat Alijew brachte sich 2007 in Misskredit beim »Führer der Nation« und wurde der Entführung zweier Bank-Manager beschuldigt. In Abwesenheit wurde er zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt.

 

Während Nasarbajew mit  Zugeständnissen bei den Streikenden seine Unterstützung festigen und Ruhe herstellen konnte – am Donnerstag gab es erstmals keine Streikenden auf dem Yntymak-Platz mehr – passen die schnellen Personalentscheidungen in der sensiblen Energiebranche gar nicht zu dem Präsidenten, der seine Macht stets dadurch absichert, dass er die Interessen im Netzwerk der Clan-Eliten vorsichtig austariert. In den staatlichen Strukturen sind Vertreter aller Clans und Regionen des Landes repräsentiert. Die Neubesetzungen wirken nun wie übers Knie gebrochen.

 

Innerhalb der Eliten hat die Konkurrenz in den vergangen Jahren zugenommen – angespornt auch durch die ungelöste Frage der Nachfolge – und scheint auch Nasarbajew nervös zu machen. Nutzte Nasarbajew die Krise der Ölstreiker, um Akteure, die den Balanceakt zu unterlaufen drohen, loszuwerden? Oder beobachten wir einen Präsidenten, der in seinem 20. Regierungsjahr zunehmend das Gespür für das schwierige Spiel des Interessenausgleichs verliert? Die vermeidbare Eskalation des Streiks in Zhanaozen war zumindest kein Beweis für politisches Feingefühl.

Von: 
Ivonne Bollow

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