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Abdülhamid II und das Osmanische Reich

Der »rote Sultan«

Portrait

Als osmanischer Herrscher versuchte Abdülhamid II., Istanbuls Zugriff auf den Nahen Osten zu festigen. Der von ihm propagierte Panislamismus konnte den Untergang des Vielvölkerstaats jedoch nicht aufhalten.

Die meisten Porträts zeigen Abdülhamid II. als eher finsteren Gesellen. Während seine Vorfahren aus der Dynastie Osmans eher zu Schnurrbärten neigten, trug der Sultan lange Zeit einen frommen Vollbart. Europäische Zeitungen nannten ihn – in Anspielung auf blutige Massaker – den »roten Sultan«, gelegentlich auch »unspeakable Turk – abscheulicher Türke«. Denn im Bestreben, das Osmanische Reich, das er von 1876 bis 1909 regierte, zusammenzuhalten, ging er rücksichtslos gegen Minderheiten vor.

 

Die meisten Opfer verzeichneten dabei die Armenier Während die meisten osmanischen Sultane sich nicht sonderlich in die religiösen Belange der nichtmuslimischen Gemeinschaften des Vielvölkerstaates eingemischt hatten, förderte Abdülhamid Konversionen zum sunnitischen Islam aktiv – insbesondere unter den Schiiten. Vornehmlich auf dem Balkan mussten die Osmanen unter seiner Herrschaft zahlreiche Niederlagen einstecken, unter anderem verloren sie Bulgarien.

 

Zu Beginn seiner Amtszeit hielten westliche Beobachter Abdülhamid für reformwillig. In Begleitung von Journalisten reiste er durch die Provinzen des Imperiums, um Bauernkindern eigenhändig die Pockenimpfung zu verabreichen. Mit Banken, Telegrafen und Eisenbahnlinien versuchte der Sultan, Anschluss an die moderne Welt zu finden. 1886 nahm die osmanische Marine ein schwedisches U-Boot in Dienst, das auf den Namen des Sultans getauft wurde.

 

Von seinen Vorgängern hatte Abdülhamid aber eine schwere Hypothek geerbt: Das Osmanische Reich war chronisch pleite und galt als »krank«. Gegen Ende seiner Regentschaft verliehen europäische Mächte ihren diplomatischen Forderungen zudem gelegentlich dadurch Nachdruck, dass sie Kanonenboote im Bosporus auffahren ließen.

 

Deutsches Geld und deutsche Technik sollten Abdülhamid helfen, gegen Aufständische vorzugehen

 

Doch gerade deshalb musste man sich vor ihm in Acht nehmen. Abdülhamid suchte die Solidarität mit der muslimischen Bevölkerung in anderen Erdteilen, denn immerhin war er nicht nur Sultan, sondern auch Kalif. Eine Wiederbelebung der Idee der islamischen »Umma«, der Gemeinschaft aller Muslime, sollte die überall in seinem Reich aufflammenden nationalistischen Bewegungen – etwa unter den Arabern – eindämmen. Damit wollte er auch den expansiven Europäern Paroli bieten.

 

Aus diesem Grund entfaltete Abdülhamid eine rege Religionsund Kulturdiplomatie: Er sandte Emissäre nach Afrika und Asien, um für eine Anerkennung seiner religiösen Führungsrolle zu werben – sogar unter den Muslimen Chinas. 1901 ließ er in Peking die osmanisch-chinesische Hamidiye-Universität eröffnen. Aus der Sehnsucht vieler Muslime nach Einheit und Größe der islamischen Welt wollte der Sultan-Kalif Kapital schlagen.

 

Dabei hatte die Ausübung des Kalifats durch das Haus Osman lange Zeit nicht im Vordergrund gestanden: Die Sultane, die von Anatolien aus über Jahrhunderte den Nahen Osten beherrschten, trugen zwar den Titel »Kalif« und sahen sich als Beschützer des Islams. Bis heute ist allerdings unklar, wann sie diesen Titel annahmen und welche Aufgaben sie mit dem Kalifat verbanden. In der islamischen Geschichte galt der »khalifa« als »Nachfolger« des Propheten Muhammad, der die Einheit der Muslime garantierte.

 

Eine klare Nachfolgeregelung hatte der Prophet aber offenbar nicht getroffen. Im Laufe der islamischen Geschichte erhoben viele den Anspruch auf das Kalifat. Zu den herausragenden Dynastien der sunnitischen Welt zählen die arabischen Umayyaden (661–750), die Abbasiden (750–1258) und die türkischen Osmanen, aus denen Abdülhamid hervorging. Für Abdülhamid war das Kalifat Herrschaftsideal und politisches Instrument zugleich.

 

Er gilt als der letzte Kalif, der einen religiös legitimierten Führungsanspruch global durchzusetzen versuchte. In inneren Angelegenheiten enttäuschte er besonders: Im 19. Jahrhunderts hatten tüchtige Beamte versucht, den osmanischen Staat zu reformieren. Nun entzog Abdülhamid diesen Technokraten Kompetenzen. Er regierte autoritär und investierte in seinen Geheimdienstapparat. Damit demontierte er ein System, das trotz Korruption und vieler Fehler Beachtliches geleistet hatte. Die türkische Militärund Verwaltungselite wandte sich gegen ihn

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Abdülhamid versuchte, einen religiös legitimierten globalen Führungsanspruch durchzusetzen

 

Mit zunehmendem Alter legte Abdülhamid paranoide Verhaltensweisen an den Tag. Nach mehreren Attentatsversuchen zog er sich in den auf einem Hügel gelegenen Yildiz-Palast zurück – heute ein beliebtes Ausflugsziel in Istanbul. 1908 kam es in Konstantinopel und Saloniki zu Aufständen und schließlich zu einer veritablen Revolution: Die sogenannte jungtürkische Bewegung forderte die Wiedereinsetzung der Verfassung von 1876, die Abdülhamid bereits zwei Jahre später faktisch suspendiert hatte, ein Parlament und die Beschränkung der Macht des Sultans.

 

Abdülhamid reagierte zunächst, indem er die Nähe zu konservativen, religiösen Gruppen suchte: Panislamismus hieß seine Gegenideologie. Im Konflikt mit den Jungtürken fand er Verbündete – vor allem im Deutschen Kaiserreich, aber auch in Großbritannien. Die Jungtürken kritisierten deshalb den Einfluss ausländischer Mächte. Abdülhamid versuchte indes, Deutschland und England gegeneinander auszuspielen, die beide strategische Interessen im Orient verfolgten.

 

Während sich in Europa die Industrienationen auf ein Kräftemessen vorbereiteten, ließ der Sultan mit deutschem Geld und deutschen Ingenieuren eine Eisenbahn bauen. Die »Bagdad-Bahn« sollte den Truppentransport gegen Aufständische in den Provinzen erleichtern, doch die Briten, die am Suezkanal und am Persischen Golf Truppen- und Handelsstützpunkte unterhielten, fühlten sich dadurch bedroht.

 

Durch eine Verkettung ebenso dramatischer wie schicksalhafter Ereignisse und Fehlentscheidungen stand das Osmanische Reich im Herbst 1914 aufseiten der beiden Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn im Krieg. Eine Gruppe vormals jungtürkischer Offiziere hatte die Macht an sich gerissen und Abdülhamid 1909 zur Abdankung gezwungen. Sein Bruder Mehmet Reschat folgte ihm auf dem Thron, besaß aber kaum Einfluss gegenüber der schrittweise entstehenden Militärdiktatur des »Komitees für Einheit und Fortschritt«.

 

1924 schaffte die neu gegründete Türkische Republik das Kalifat offiziell ab. Abdülhamids Herrschaft fasziniert heute viele Forscher – auch in der Türkei, wo die Auseinandersetzung mit der osmanischen Vergangenheit eine Renaissance erlebt. Dass die Türkei sich einerseits den nahöstlichen Staaten als Vorbild anbietet und als islamische Führungsmacht wieder regional und global Politik betreibt, sehen manche Beobachter als Anknüpfung an die Ära Abdülhamids. Vor allem in Afrika und Asien entstehen zahlreiche türkische Kulturzentren, Schulen und Moscheen.

 

Dennoch: Abdülhamid hat dem Osmanischen Reich mit seiner Politik wohl mehr geschadet als gedient. An dessen Untergang trug er allerdings nicht die Schuld.

Von: 
Daniel Gerlach

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