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Al-Schabaab und Kenia

Die Lehren von Nairobi

Analyse

Nach dem Anschlag von Nairobi traten die gesellschaftlichen Spaltungen in Kenia offen zu Tage. Al-Shabaab setzt auf das wachsende Misstrauen zwischen den Religionsgemeinschaften – doch das Kalkül der Islamisten geht erst einmal nicht auf.

Am 21. September verübte die von Somalia aus operierende Al-Shabaab-Miliz in Nairobi einen Anschlag auf ein Einkaufszentrum. Die Westgate Mall war vor allem bei wohlhabenden Kenianern und Ausländern beliebt und war am Samstagvormittag, als sich der Angriff ereignete, gut besucht. Nachdem die Angreifer das Gebäude gestürmt hatten, verschanzten sie sich in einem Supermarkt. Der Angriff entwickelte sich zur Geiselnahme, welche erst am 24. September von den Sicherheitskräften beendet werden konnte.

 

Nach bisherigen Erkenntnissen starben insgesamt 72 Menschen, mehr als die Hälfte davon Kenianer. Etwa 240 weitere Personen wurden verletzt. Seit Kenia 2011 entschied, im Nachbarland Somalia militärisch zu intervenieren, warnen Experten vor einem erhöhten Risiko für Anschläge durch die mit Al-Qaida in Verbindung stehende Al-Shabaab. Über den Kurznachrichtendienst Twitter verbreitete diese nach dem Angriff auch tatsächlich, dass es sich um einen Vergeltungsanschlag für das kenianische Engagement in Somalia handle.

 

Dennoch drängen sich zwei Fragen auf: Welche Ziele verfolgt Al-Shabaab mit dem Angriff? Und warum kam es gerade jetzt zu einem Anschlag? Seit sich Übergriffe und Anschläge im Nordosten Kenias gehäuft hatten, gab es Pläne für eine mögliche militärische Intervention in Somalia. Als es zusätzlich zur Entführung mehrerer Touristen und Entwicklungshelfer kam, gab die Regierung im Oktober 2011 bekannt, nun militärisch eingreifen zu wollen.

 

Der Beschluss wurde umgehend umgesetzt, als Ziele wurden die Verhinderung weiterer Anschläge und Entführungen, die Verringerung des Flüchtlingsstroms von Somalia nach Kenia, sowie die Zurückdrängung und empfindliche Schwächung Al-Shabaabs genannt. Ursprünglich war geplant, die Operation schnell abzuschließen, das Unterfangen stellte sich aber aus mehreren Gründen als schwieriger heraus als zunächst angenommen.

 

Kenias Muslime fühlen sich zunehmend gegängelt

 

Zum einen hatte man nicht mit den einsetzenden schweren Regenfällen gerechnet, welche den Einsatz behinderten. Zum anderen waren die kenianischen Kräfte schlecht auf die von Al-Shabaab angewandte Guerilla-Kriegsführung vorbereitet. So wurde ein schneller Rückzug unmöglich. Stattdessen strebte Kenia nun eine schnellstmögliche Eingliederung seiner Truppen in den von der Afrikanischen Union geleiteten AMISOM-Einsatz an. Dies geschah schließlich im Februar 2012, führte aber letztlich dazu, dass die kenianischen Kräfte in Somalia blieben.

 

Bis heute sind mehr als 4000 Soldaten der »Kenya Defence Forces« in Somalia im Einsatz. Die ausgesprochene Anschlagsdrohung bestand daher fort. Tatsächlich wurden auch weiterhin bewaffnete Angriffe in Nairobi, Mandera, Garissa und Mombasa verübt. Dennoch schien es lange so, als bliebe der große Vergeltungsschlag, den Al-Shabaab angekündigt hatte, aus. Die Art der Ausführung des Anschlags und mögliche Hintergrundüberlegungen Al-Shabaabs legen die Vermutung nahe, dass die Miliz nicht in erster Linie das Ziel verfolgte, der internationalen Gemeinschaft in Erinnerung zu rufen, dass sie nach wie vor eine ernstzunehmende Gefahr darstellt.

 

Stattdessen ist der Anschlag vor allem als Zeichen an die kenianische Regierung zu verstehen und zielt auf die Schwächung der inneren Stabilität Kenias ab. Seit langem weisen internationale Beobachter darauf hin, dass die Polarisierung der somalisch-stämmigen und muslimischen Bevölkerung Kenias voranschreitet. Durch viele kleine Anschläge, die Al-Shabaab bereits vor dem militärischen Einschreiten verübte, wurden in Kenia Feindseligkeiten gegenüber der somalischen Minderheit und Muslimen im Allgemeinen geschaffen und befeuert.

 

Das Misstrauen innerhalb der Minderheitsgemeinde wuchs, da sie im öffentlichen Leben – bei Kontrollen durch die Polizei, Behördengängen etc. – immer stärker das Gefühl vermittelt bekam, sich für ihre Herkunft und ihren Glauben rechtfertigen zu müssen.

 

Al-Shabaab hat die Reaktionsfähigkeit der kenianischen Regierung unterschätzt

 

Darüber hinaus ist auch eine Radikalisierung innerhalb der muslimischen Gemeinde zu beobachten. Al-Shabaab zehrt vor allem im Nordosten Kenias, in Nairobi und in der Küstenregion von einem Netzwerk an Unterstützern und Sympathisanten. Der über Tage andauernde Anschlag auf die Westgate Mall, bei dem die Mehrzahl der Opfer Kenianer waren, erschütterte die Gesellschaft und rief alte Ängste und Vorurteile wach. Er ist geeignet, das ablehnende und teils repressive Verhalten gegenüber somalisch-stämmigen Kenianern und Muslimen zu verstärken und so die Polarisierung und Radikalisierung voranzutreiben. Dies belastet die ohnehin fragile gesellschaftliche Stabilität Kenias.

 

In der Tat wurde kurz nach dem Anschlag auf die Westgate Mall der als radikal geltende Prediger Ibrahim Rogo Omar und drei seiner Begleiter in Mombasa ermordet. Daraufhin verübten gewaltbereite muslimische Jugendliche einen Brandanschlag auf eine Kirche. Vertreter der muslimischen Gemeinde reagierten deeskalierend, indem sie den Brandanschlag verurteilten und sich von den Tätern distanzierten.

 

Umgekehrt rief jedoch ein Vertreter der christlichen Gemeinde öffentlich dazu auf, zu erklären, warum gerade Christen Opfer der Anschläge auf das Einkaufszentrum in Nairobi und die Kirche in Mombasa waren. Die Situation blieb über Tage angespannt und zeigt, dass solchen Einzeltaten das Potenzial einer schnellen und ernsthaften Destabilisierung Kenias innewohnt. Dieses Destabilisierungspotential ist nicht nur Al-Shabaab, sondern auch der kenianischen Regierung bewusst.

 

Nach dem Anschlag auf das Einkaufszentrum in Nairobi reagierte Präsident Uhuru Kenyatta jedoch geschickt, indem er in einer vielbeachteten Rede das gesamte Volk zur Geschlossenheit aufrief und betonte, dass es den Angreifern nicht gelingen dürfe, das kenianische Volk zu spalten. Hier hat Al-Shabaab die Reaktionsfähigkeit der kenianischen Regierung unterschätzt. So mag man angenommen haben, dass die Aufmerksamkeit der Exekutive durch die laufenden Verhandlungen gegen den Vizepräsidenten William Ruto und die anstehende Prozesseröffnung gegen den Präsidenten vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) gebunden ist und durch eine ausbleibende schnelle Reaktion ein Vakuum für eine echte Destabilisierung Kenias entsteht.

 

Das Kalkül bezüglich des Zeitpunkts des Anschlags ging nicht auf, die Lage hat sich trotz der unmittelbar folgenden Ausschreitungen in Mombasa wieder beruhigt. Dennoch hat Al-Shabaab ein wichtiges Ziel erreicht: die Miliz konnte erfolgreich demonstrieren, dass sie nach wie vor handlungsfähig und nicht so sehr geschwächt ist, wie manche Experten vermuteten. Bedenklicher ist jedoch, dass es ihr gelungen ist, dem kenianischen Volk, den politischen Entscheidungsträgern und der internationalen Gemeinschaft vor Augen zu führen, wie fragil der Frieden in Kenia ist.

 

Je mehr Anschläge dieser Art Al-Shabaab zu verüben imstande ist, desto stärker wächst – trotz der Aufrufe des Präsidenten – das Misstrauen verschiedener Bevölkerungsgruppen gegen einander. Darauf setzt Al-Shabaab, um den Druck auf die kenianische Regierung zu erhöhen, ihr militärisches Engagement in Somalia zu beenden. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass das Anschlagsrisiko in Kenia, insbesondere in der Grenzregion zu Somalia, aber auch in Nairobi und Mombasa, weiterhin hoch ist.


Daniela Dietmayr unterstützt das Regionalbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Nairobi, wo sie die Entwicklung des Prozesses gegen die Staatsführung Kenias vor dem Internationalen Strafgerichtshof verfolgt.

Von: 
Daniela Dietmayr

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