Antikes Erbe und die Probleme der Moderne. Urfa im Südosten der Türkei bietet viele Einsichten, lockt aber bisher wenige Besucher. Geht es nach Touristenführer Mesut, soll sich das bald ändern.
Mesut möchte gerne reden. Über all das, worüber er sonst mit niemandem reden kann. Mesut ist 20, Kurde und lebt in Urfa, einer tief religiösen Stadt im Südosten Anatoliens. Die Propheten Hiob und Abraham sollen hier gelebt, gelitten und geglaubt haben. Wohl deshalb hat Urfa seit 1983 den Beinamen »berühmtes Urfa« (Şanlıurfa). Für Mesut bedeutet dieser Ruhm, dass immer mehr Touristen kommen, mit denen er Englisch sprechen kann. Während er mit ihnen die heiligen Karpfen in den Becken in Gölbaşı füttert, erzählt Mesut bereitwillig von der Stadt – und von sich. Urfa liegt weit ab von den türkischen Touristenhochburgen an der Ägäis und der Mittelmeerküste.
Während sich die deutschen Touristen vor allem rund um Antalya und Alanya tummeln und sich einige noch bis nach Kappadokien ins Landesinnere vorwagen, verirren sich nur wenige in die östlichen Gebiete der Türkei. Das ist schade, findet Mesut. Mesut lebt schon immer in Urfa. Sein Vater ist Arzt, seine Mutter natürlich zu Hause – was für eine seltsame Frage, findet er. Mesut hat eine Freundin. Aber eigentlich kann er sich darüber nicht so richtig freuen, weil er nur am Telefon und in der Schule mit ihr reden darf. Aber so richtig Stimmung komme in einem Klassenraum ja auch nicht auf. Mesuts Lieblingsort in Urfa ist die Ulu-Moschee, eine wirklich schöne Stätte, mit ihren gewölbten Hallen und dem weitläufigen Vorhof. Von einem Hügel hinter der Moschee hat man einen wunderschönen Blick über die Stadt und ihre heiligen Stätten. Außerdem kann man hier gut reden.
Mustafa Kemal war doch auch nur ein Mensch
In sicherer Entfernung von der Moschee redet Mesut sich seine eingesperrten Gedanken von der Seele: Schwule seien ekelhaft. Er habe einen Holländer getroffen und sich mit ihm angefreundet. Ein netter Kerl, sie hätten zusammen Çay getrunken und sich gut über Europa unterhalten. Später habe der Holländer ihm über Facebook geschrieben, dass er schwul sei. Seitdem zweifelt Mesut an seiner Menschenkenntnis und mit dem Holländer chatte er nicht mehr. Danach ist Mesut wieder der geübte Touristenführer. Er kennt die schönsten Plätze und erklärt genau, wie sich seine neuen Freunde in der »Ibrahim Halilullah« – der Geburtsgrotte des Propheten Abraham – zu benehmen habe. Er ist ein netter Junge und auch sehr intelligent. Er möchte gerne in Ankara Jura studieren.
In Ankara wird Politik gemacht, und man kann dort im Staatsdienst Karriere machen. Er liebt sein Land, nur mit Atatürk ist er nicht so ganz einverstanden. Die Kurden würden den Vater der Türken lieber bei seinem bürgerlichen Namen Mustafa Kemal nennen. Der Mann sei schließlich auch nur ein Mensch gewesen und habe durchaus Fehler gemacht. Nach dem Besuch der Moschee und der Geburtsgrotte Abrahams führt Mesut die Fremden über den Basar. Urfa ist sehr traditionell und der Orient, das Exotische, ist greifbar. Die syrische Grenze ist ja auch fast schon in Sichtweite. Mesut erklärt, dass die Stadt schnell größer wird und sich zu allen Seiten ausbreitet – Gentrifizierung par excellence. Die Innenstadt erinnert aber eher an 1001 Nacht – nur leider weit nach der Erfindung des Automobils. Davon gibt es, trotz horrender Benzinpreise, mehr als genug.
Menengiç aus Espresso, Milch und Pistazien
Der Basar quillt über vor Gewürzen, Metallwerkzeugen, Stoffen und Lederwaren. Eine alte Karawanserei – zur Zeit des osmanischen Reiches noch eine Durchgangstation für die großen Karawanen – beherbergt heute mehrere kleine Cafés. Überall sitzen Männer – und zwar nur Männer, trinken Çay in rauen Mengen und spielen Backgammon, bis der Muezzin ruft. Mesut kennt den Inhaber des einen Cafés; ein Schulfreund, der stets gute Noten hatte. Weil sein Vater alt ist und Hilfe braucht beim Führen des Cafés, kann der Sohn nicht studieren gehen. Mesut bedauert das sehr. Jeder sollte mal etwas anderes sehen als Urfa. Am besten trinkt man hier Menengiç, kurdischen Kaffee, der wie eine weiche Mischung aus Espresso, Milch und Pistazien schmeckt.
Die verspielt verzierten, kleinen Silbertassen mit Deckel verschönern das Geschmackserlebnis zusätzlich. Nach ein paar Runden Backgammon geht Mesut mit seinen Touristen in ein Kebap-Restaurant. Das sieht von außen aus wie ein Straßenstand; dass man in dem schmalen und klapprigen Gebäude dahinter in den zweiten Stock hochklettern kann, scheint von außen eher gefährlich. Der Kebap ist lecker, aber alleine findet man hier nicht hin. Beim Essen schlägt die Stimmung um. Mesut ist plötzlich den Tränen nahe. Er muss etwas loswerden. Seine Familie und sowieso alle Kurden seien geprägt durch ihre starke Stammeskultur. Das sei normal für ihn, so sei er aufgewachsen. Aber sein Stamm habe vor kurzem seinen Cousin umgebracht.
Wie auch Mesut hatte sein Cousin eine Freundin. Sein Cousin jedoch wollte mehr als nur zu Telefonieren und dafür nicht auf die Hochzeit warten. Danach habe er fliehen müssen. Seine Freundin sei von ihrem Vater an den Stamm ausgeliefert und getötet worden. Der Cousin habe sich versteckt. Deshalb sei der Stamm zu Mesut gekommen, um ihn auszufragen. Mesut habe jedoch geschwiegen. Ein paar Tage später sei sein Cousin aber dennoch tot aufgefunden worden. Mesut weiß nicht, wie er darüber denken soll. Sein Cousin fehlt ihm sehr. Aber der Stamm habe nun mal die Ehre der beiden Familien retten müssen. Plötzlich wirkt das Traditionelle, das Exotische hier in Urfa doch nicht mehr nur spannend. Wer Anatolien genießen möchte, muss sich auch mit den Kehrseiten dieser Welt auseinander setzen. Mesut zeigt seinen neuen Freunden nicht nur Urfa, sondern auch das, was unter der Oberfläche der schönen Stadt liegt. Sein Lohn dafür: Er hat endlich mal wieder jemanden zum Reden.