Lesezeit: 10 Minuten
Armee und Muslimbrüder in Ägypten

Dafür oder dagegen

Analyse

In Ägyptens polarisierter Atmosphäre wird der Raum für differenzierte Sichtweisen eng. Armee und Muslimbrüder dämonisieren den Gegner und rationalisieren Gewalt. Die Aufarbeitung der blutigen letzten Wochen bleibt so auf der Strecke.

Im aufgeheizten politischen Klima Ägyptens ist es dieser Tage nicht einfach, eine Meinung abzugeben, ohne im Voraus unmissverständlich klarzustellen, wo man nicht steht. Wer die exzessive Gewalt des Militärs gegenüber dem Sit-In der Muslimbrüder verurteilt, wird schnell als Sympathisant der Islamisten dargestellt. Im Anti-Mursi-Lager wird dieser gerne mit Hitler verglichen, auf Plakaten sind beide nebeneinander abgebildet, darüber der Satz: »Hitler wurde demokratisch gewählt. Mursi ebenfalls.«

 

Auch im Lager der Muslimbrüder ist man um zweifelhafte Vergleiche und Anschuldigungen nicht verlegen. Nach dem Angriff der Armee auf die Sitzkundgebung der Islamisten sagt ein Demonstrant, die ägyptische Armee hätte skrupellos um sich geschossen, »wie die Armee der Juden«. Weit verbreitet ist zudem der Vorwurf, dass die Christen im Lande die Armee zum harten Vorgehen gegen Mitglieder der Bruderschaft ermutigt hätten. Im Internet kursieren Interviews, in denen Islamisten eine Rachekampagne gegen ihre politischen Gegner und die Christen im Lande ankündigen.

 

Das landläufig populäre Feindbild USA wird auf beiden Seiten bedient. Teile von Mursis Gefolgschaft beschuldigen die USA, die demokratische Legitimität Mursis nicht ausreichend verteidigt zu haben und sich zusammen mit den »Anti-Demokraten« des Gegenlagers und »den Zionisten« gegen den Ex-Präsidenten verschworen zu haben. Diese vertraute Konspirationslogik der Islamisten hielt ihre Sprecher jedoch nicht davon ab, an internationale Organisationen und den Westen zu appellieren, den »Putsch gegen die Legitimität« nicht zuzulassen.

 

Noch stärker sind die Ressentiments gegenüber den USA jedoch unter jenen Millionen, die vergangenen Freitag General Al-Sisis Aufruf folgten und die Armee feierten. US-Präsident Obama bekommt auf Plakaten einen langen Bart und wird als »Obama bin Laden« zu einem Unterstützer des internationalen Terrorismus. Den USA wird vorgeworfen, zu enge Kontakte zu den Islamisten gepflegt und in ihrem strategischen Interesse die Muslimbrüder als wichtigsten politischen Partner im Lande gefördert zu haben – auch nachdem im vergangenen November klar wurde, dass den Muslimbrüdern mehr an Machtkonzentration, als an demokratischem Regieren gelegen war.

 

Diese Annäherung der USA an die Islamisten am Nil, deren Aufstieg nach dem Sturz Mubaraks von vielen als unaufhaltsam angesehen wurde, ist kaum von der Hand zu weisen und von vielen Journalisten hinreichend belegt worden.

 

US-Botschafterin Patterson – »Schläferzelle« der Muslimbrüder?

 

Manche Vorwürfe gegenüber den USA gehen jedoch weit über diese strategischen Arrangements der Weltmacht hinaus. »Persona non grata« steht auf vielen Plakaten der Mursi-Gegner unter dem Konterfei der amerikanischen Botschafterin Anne Patterson. Der Abgeordnete des (seit 2012 vom obersten Gerichtshof aufgelösten) Parlaments Mustafa Bakri wirft ihr vor, den mittlerweile inhaftierten Wirtschaftsmagnaten und hochrangigen Muslimbruder Khairat al-Shater sogar in dessen Privathaus besucht zu haben.

 

Für Mustafa Bakri ist die Botschafterin eine »Schläfer-Zelle« der islamistischen Organisation. In einer Meinungsumfrage der säkularen Tageszeitung Youm7 sprachen sich 90 Prozent der Leser dafür aus, Patterson wegen Einmischung in die inneren Belange Ägyptens des Landes zu verweisen. Auf den Pro-Armee-Demonstrationen tauchten am vergangenen Freitag wiederum Poster eines anderen Staatsmannes auf, zu dessen Standardrhetorik das Prinzip der Nicht-Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder zählt: Wladimir Putin grüßt darauf mit den Worten: »Bye bye Amerika«.

 

Im angespannten und aggressiven Klima dieser Tage haben Kommentatoren staatsnaher und privater Medien auch einen Unruhestifter im Inneren ausgemacht: Die vor dem Bürgerkrieg im eigenen Lande nach Ägypten geflohenen Syrer. Sie werden beschuldigt, für die Muslimbrüder zu arbeiten und die Sicherheit des Landes zu bedrohen. In den vergangenen Wochen häuften sich fremdenfeindliche Vorfälle gegenüber Syrern. Manche von ihnen wurden bei Personenkontrollen von der Polizei verhaftet und Tage lang gefangen gehalten.

 

Es geht bei solchen Vorwürfen nicht um Logik oder Kohärenz, schreibt die ägyptisch-britische Bloggerin Sarah Carr, die seit über 10 Jahren in Ägypten lebt. Das Ziel beider Lager sei, den politischen Gegner zu diskreditieren und jeglichen Anspruch auf Legitimität zu dekonstruieren. Der Vorwurf der Zusammenarbeit mit äußeren Mächten funktioniere dabei in Ägypten immer. In diesem hysterischen Klima der zugespitzten Konfrontation geht es beiden Lagern vor allem darum, Versionen zu verbreiten, die den eigenen Machtanspruch rechtfertigen.

 

Dieser Kampf um Deutungen schließt die beiden blutigsten Gewaltausbrüche der letzten Wochen mit ein: Die rund 80 Toten, welche in den frühen Morgenstunden des 27. Juli nahe des Sit-Ins der Muslimbrüder in Nasr City im Gewehrfeuer der Sicherheitskräfte starben und jene 51 Toten, die am 8. Juli vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde auf die selbe Weise ums Leben kamen. Der Graben zwischen den Versionen beider Seiten könnte nicht größer sein. Die Muslimbrüder sprechen von einem gezielten Angriff der Armee auf ihre Mitglieder.

 

»Die Armee schoss, um zu töten«, sagt Mohamed Al-Beltagy, eine der führenden Persönlichkeiten in der Organisation, der noch nicht verhaftet wurde. »Die Muslimbrüder haben den Zwischenfall bewusst provoziert, um Sympathien für sich zu erzeugen«, kontert der Innenminister der neuen Regierung, General Mohamed Ibrahim. Eine unabhängige Untersuchungskommission der beiden Vorfälle dagegen blieb aus und wurde auch nur von wenigen Politikern gefordert. Sie hätte zudem aus dem gegenwärtigen Justizapparat zusammengestellt werden müssen, in dem viele Juristen nach wie vor dem alten Regime und damit in diesen Tagen der Armee nahestehen.

 

Human Rights Watch: »80 Prozent der Toten vom 27. Juli sind auf Scharfschützen zurückzuführen«

 

Reporter der britischen Zeitung The Guardian haben versucht, die Ereignisse vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde am frühen Morgen des 8. Juli zu rekonstruieren und dafür Videomaterial ausgewertet und mit 31 Augenzeugen und Ärzten vor Ort gesprochen. In dem Material, welches den Reportern zur Verfügung stand, finden sich keine Hinweise für die Version der Armee, demnach eine Gruppe von 15 bewaffneten Motorradfahrern das Hauptquartier der Garde hätte angreifen wollen.

 

Der Guardian folgert, in jener Nacht spielte sich ein »koordinierter Angriff der Sicherheitskräfte« auf mehrheitlich  unbewaffnete Demonstranten ab. Auch Human Rights Watch (HRW) wertete Videomaterial aus und sprach mit Augenzeugen und Ärzten vor Ort, um den Ablauf der Ereignisse in der Nacht des 27. Juli in Nasr City zu untersuchen, in der rund 80 Anhänger Mursis durch Schüsse der Sicherheitskräfte ums Leben kamen. Die Rekonstruktionen von HRW ergeben, dass Mursi-Unterstützer am späten Abend den Sit-In in Nasr City verließen und sich den Sicherheitskräften und Gegendemonstranten nahe der 6.Oktober-Brücke annäherten.

 

Ungefähr zwei Stunden nach Ausbruch der anschließenden Straßenschlacht sollen die ersten scharfen Schüsse gefallen sein, die laut Augenzeugen aus erhöhter Position abgegeben wurden. Ärzte vor Ort gaben an, dass ein Großteil der Opfer von Schüssen in den Kopf, den Nacken oder die Brust getroffen wurde. Ein am Sit-in tätiger Arzt sagte gegenüber HRW: » Die Art der Verletzungen unterscheidet sich diametral von jenen, die wir am 8. Juli am Hauptquartier der Republikanischen Garde vorfanden. Dort hatten wir es mit Einschusswunden zu tun, die auf wahlloses Schießen hindeuten.

 

Dieses Mal sieht es so aus, als wären 80 Prozent der Opfer von Scharfschützen getroffen worden.« Die meisten ägyptischen Medien sprachen in Folge des Ereignisses von »Zusammenstößen« zwischen den Muslimbrüdern und den Sicherheitskräften, nicht etwa von einem »Massaker«, wie es in vielen westlichen Medien zu lesen war. »Zusammenstöße« sind die Ägypter aus den letzten beiden Jahren gewöhnt. Doch selbst wenn ägyptische Medien die Ereignisse jener beiden Nächte weniger vage benannt hätten: An der Popularität der Armee in diesen Tagen hätte dies womöglich wenig geändert.

 

Vieles deutet darauf hin, dass die Generäle auch deshalb so brutal vorgehen, weil die Armee zur Zeit eine beispiellose Unterstützung genießt. Auch die Grassroots- Aktivisten der »Tamarrod«-Kampage haben dazu aufgerufen, am 26. Juli auf die Straße zu gehen und Al-Sisi sein gefordertes »Mandat gegen den Terrorismus« zu geben.

 

Fern scheinen die Tage vor etwas mehr als einem Jahr, in denen eine Mehrheit der Gesellschaft einen »Rückzug der Armee in die Kasernen« forderte.

 

»Armee und Muslimbrüder setzen Gewalt aus taktischem Kalkül ein«

 

Der Menschenrechtsaktivist Mohamed Abdel Salam geht davon aus, dass Armee wie Muslimbrüder ein Maß an Gewalt ganz bewusst aus taktischem Kalkül einsetzen. »Eigentlich hat die Armee kein Recht, das politische Leben zu beherrschen, so wie sie es zurzeit tut. Also spricht sie von der terroristischen Bedrohung und um diese glaubhaft werden zu lassen, muss es zu Zusammenstößen im Lande kommen.« Etliche ägyptische Journalisten waren sich in der Vermutung einig, dass die Sicherheitskräfte Zusammenstöße zwischen den beiden Lagern eskalieren ließen, anstatt von Beginn an einzugreifen.

 

Laut Abdel Salam kommt auch den Muslimbrüdern die Gewalt nicht ungelegen. »Die Bewegung arbeitet schon jetzt an ihrem Bild in den Geschichtsbüchern. Sie will die Opferrolle an die nächste Generation weitergeben und zeigen: Wir wurden aus dem Amt geputscht, wir wurden ins Gefängnis geworfen, wir wurden getötet. Die Muslimbrüder brauchen Opfer in den eigenen Reihen, um diesen Narrativ zu pflegen.« Es gibt hinreichend stichhaltige Hinweise dafür, dass die Führer der Organisation nicht nur auf friedliche Massenproteste setzen, sondern durch ihre Agitation die Gewaltbereitschaft unter den Anhängern steigerten.

 

Mohamed al Beltagy erklärte wenige Stunden vor dem Sturz Mursis, als sich das Eingreifen des Militärs bereits abzeichnete, »die Zeit für den Märtyrertod« sei nun gekommen. Der »spirituelle Führer« der Organisation, Muhammad Badie peitschte seine Anhänger in Nasr City am Freitag nach Mursis Sturz mit den Worten auf: »Wir werden Mursi zurückbringen, unsere Seelen für ihn opfern!« In der folgenden Nacht kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern, bei denen landesweit 30 Menschen starben.

 

Einen Tag später kündigte Safwat Hegazy, ein weiteres hochrangiges Mitglied der Organisation, gegenüber ägyptischen Medien »großangelegte Maßnahmen« an, um die Forderungen der Muslimbrüder durchzusetzen. Zudem sind im Zuge der Auseinandersetzungen in verschiedenen Landesteilen Kopten ins Visier von Islamisten geraten. Im oberägyptischen Minya sollen Islamisten die Häuser von Kopten markiert haben und ihnen mit Angriffen gedroht haben, sollten sie sich an Demonstrationen zugunsten der neuen Regierung beteiligen.

 

Darüberhinaus kursieren Gerüchte, demnach Mitglieder der Muslimbrüder Anhänger, die den Sit-In verlassen wollen, einschüchtern und mit dem Tode bedrohen würden. Fotos von Pro-Mursi-Demonstranten, die angeblich von den eigenen Leuten zu Tode gefoltert wurden, zirkulieren in den sozialen Netzwerken. Mohamed Abdel Salam meint, die Bewegung müsse sich von innen heraus reformieren und sich von der gegenwärtigen Führungsriege befreien. Dazu sei ein Dialog mit den eigenen Nachwuchskräften nötig. Viele Mitglieder aus der Jugendorganisation der Muslimbrüder haben sich in den frühen Tagen des Aufstandes gegen Mubarak dem Demonstranten auf dem Tahrir-Platz angeschlossen – weit bevor die Führungsriege dazu aufrief.

 

»Warum haben wir schon wieder nur die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen?«

 

Im polarisierten Klima dieses ägyptischen Sommers drohen die Stimmen jener Ägypter unterzugehen, die weder die Rückkehr der Armee auf die politische Bühne begrüßen, noch die polarisierende Politik der Muslimbrüder verteidigen. Doch es gibt sie, auch wenn sie auf den ersten Blick wie ein skurriles Sammelsurium wirken, das die entgegengesetzten Enden der politischen Landschaft Ägyptens umfasst. Linke Gruppen wie die »Revolutionären Sozialisten«, die Aktivisten der Jugendbewegung »6. April« und Gewerkschaften sind ebenso darunter wie Salafisten, die die Muslimbrüder durch ihren Versuch der Machtkonzentration verprellt haben.

 

Mittlerweile mahnen auch prominentere Stimmen der ägyptischen Meinungslandschaft, den Graben im Lande nicht noch tiefer werden zu lassen. Der beliebte Komiker Bassam Youssef, der bis zum Sturz Mursis ein unermüdlicher Kritiker der Muslimbrüder und der Politik Mursis war, gehört dazu.  Nicht wenige westliche Beobachter sind nach dem Eingreifen des Militärs und den Massakern an den Mursi-Anhängern dem umkehrschlussartigen Reflex erlegen, die Muslimbrüder als Garanten für eine demokratische Entwicklung am Nil zu sehen.

 

Doch auch das ist ein Trugschluss. Die autoritäre Kaderorganisation der Muslimbrüder ist weder demokratisch im Inneren, noch hat ihre Führungsriege in den vergangenen 13 Monaten zur weiteren Demokratisierung des Landes beigetragen. Die Muslimbrüder bleiben eine Organisation, die zwischen Ideologie und machtpolitischem Pragmatismus schwankt und ein ambivalentes Verhältnis zu politisch motivierter Gewalt an den Tag legt. Wer in diesen Tagen auf die Brüder setzt, lässt jene im Stich, die glaubwürdiger für Demokratie in Ägypten eintreten, auch wenn deren Stimmen in der Hysterie dieser Tage nicht so laut zu hören sind.

 

Die Journalistin Rana Allam schreibt: »In diesen Tagen wird man von der einen Seite als Ungläubiger und von der anderen als Verräter bezeichnet. Warum sind die Ägypter wieder einmal in eine Ecke gedrängt, in der sie nur die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen haben?«

Von: 
Martin Hoffmann

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.