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Armut und Koranschulen in Nigeria

Brei mit Soße

Feature

Koranschüler in Nigeria schämen sich für ihre Armut. Sie werden beschimpft, manchmal sogar körperlich angegriffen und gelten als »Kanonenfutter« für die islamistische Sekte »Boko Haram«.

»Bei euch zuhause gibt’s nicht mal Soße zum Hirsebrei!« Ein barfüßiger, etwa siebenjähriger Junge in einem zu großen Fußballtrikot schlägt diesen Satz als Beispiel für eine Beleidigung unter Kindern vor. Er lebt in Albasu, einem Dorf im Bundesstaat Kano im muslimischen Norden Nigerias. Dass Kinder sich dort gegenseitig der Armut bezichtigen, wenn sie streiten, ist erstaunlich. Zwei Drittel der nigerianischen Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.

 

Im Norden und auf dem Land ist die Armut besonders groß. In Kano ist fast die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren zu klein für ihr Alter. Das deutet auf chronische Unterernährung hin. Auch Brei mit Soße liefert Kindern nicht die notwendigen Nährstoffe. Fleisch oder Obst können sich viele Familien schlichtweg nicht leisten. Wieso empfinden Kinder arm sein als peinlich oder gar beleidigend? Überall auf der Welt, so eine Studie der Universität Oxford von 2010, schämten sich Menschen dafür, arm zu sein.

 

Dabei spiele ihr absolutes Einkommen weniger eine Rolle als ihre Situation in Relation zum Rest der Gesellschaft. Jeder Mensch mache sich zu einem gewissen Grad die Erwartungen seines sozialen Umfelds zu Eigen – selbst dann, wenn er diesen nicht entsprechen kann. Viele arme Menschen würden daher versuchen, ihre Armut zu verstecken.

 

Kinder aus verschiedenen Bevölkerungsschichten besuchen selten dieselbe Schule

 

Je größer die Kluft zwischen Arm und Reich, desto schwieriger ist es, den Schein zu wahren. Seit den 1980ern wuchsen in Nigeria die Einkommensunterschiede stetig. Im Jahr 1980 lebte etwa jeder vierte Nigerianer in relativer Armut. Das heißt, ein Viertel lebte von weniger als zwei Dritteln des Durchschnittseinkommens. Im Jahr 2004 war es bereits jeder zweite. Die Ungleichheit ist in allen Lebensbereichen zu spüren.

 

Kinder aus verschiedenen Bevölkerungsschichten besuchen selten dieselbe Schule. Während die Kinder der Mittel- und Oberschicht in teuren Privatschulen lernen, besuchen vor allem die männlichen Kinder aus armen ländlichen Gegenden traditionelle Koranschulen. Sie leben bei ihrem Lehrer in der Stadt und verdingen sich nach dem Unterricht als Handlanger, Straßenhändler oder Kunsthandwerker. Jüngere Schüler arbeiten als Haushaltshilfen oder betteln auf der Straße.

 

Aus dem öffentlichen Raum der Städte Nordnigerias sind sie kaum wegzudenken. Viele Menschen in Nigeria halten wenig von solchen Lehrstätten und finden, die Eltern sollten ihre Kinder lieber in staatliche oder moderne islamische Privatschulen schicken, wo neben dem Koran auch andere Fächer unterrichtet werden. Um über die Runden zu kommen, genüge es schließlich nicht, den Koran lesen und rezitieren zu können. Und wer nur den Koran kenne, sei besonders anfällig für radikale Ideologien.

 

»Sie denken, wir seien Tiere«

 

Seit die islamistische Sekte »Boko Haram« (»westliche Bildung ist verboten«) Nordnigeria mit Anschlägen in Angst und Schrecken versetzt, sind traditionelle Koranschulen erst recht in Verruf geraten. Der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka beispielsweise schreibt im Newsweek Magazine, die Schüler seien absichtlich »herangezüchtet« worden, um sie später samt Maschinengewehren und selbstgebastelten Bomben auf die Gesellschaft »loszulassen«. Hunde werden gezüchtet und von der Leine gelassen, aber Menschen? Dass ihr Schulsystem nicht geschätzt wird, spüren die Koranschüler deutlich.

 

Der zwölfjährige Ismail, der in Kano zur Schule geht, erzählt zum Beispiel, dass manche einen Hund einem Koranschüler vorziehen würden. »Sie denken, wir seien Tiere«, sagt Ismail. Fast alle Schüler wurden schon einmal auf offener Straße beschimpft, und viele sogar körperlich angegriffen. Viele Eltern in Nordnigeria schicken ihre Kinder in traditionelle Koranschulen, weil sie ihnen eine moderne Schulbildung nicht finanzieren können.

 

Zwar kostet der Grundschulbesuch offiziell nichts, aber in Wirklichkeit müssen Schulbücher, Uniform und Schreibmaterial bezahlt werden. Manche Lehrer erheben zusätzlich inoffizielle Gebühren, um ihr mageres Gehalt aufzubessern. Arme Bauern sind zudem darauf angewiesen, dass ihre Söhne während der Landwirtschaftssaison auf den Feldern mithelfen. Kaum eine Grundschule ist auf Schüler eingerichtet, die aufgrund der Feldarbeit zu Hause eine Saison lang von der Schule fernbleiben.

 

Doch aus Scham über ihre Armut sprechen die Koranschüler wie auch ihre Eltern selten über diese Dinge. Stattdessen erzählen sie davon, wie wichtig es sei, den Koran zu kennen. Und dass die Entbehrungen, die ein Leben als traditioneller Koranschüler bereithält, den Willen stärkten und Geduld lehrten. Den Bessergestellten in der nigerianischen Gesellschaft kommt das gelegen. So können sie auf die kulturelle Rückständigkeit der Armen und ihre vermeintliche Ignoranz gegenüber moderner Bildung verweisen, und unbequemen Fragen nach der extrem ungleichen Wohlstandsverteilung im Land aus dem Weg gehen.

 

Armut verbieten?

 

Arme Bevölkerungsschichten müssen in Nigeria als Sündenböcke herhalten. So heißt es, sie ließen sich ideologisch in die Irre leiten und stellen nun das »Kanonenfutter« für die Sekte. Dabei ist sehr wenig bekannt darüber, wer »Boko Haram« tatsächlich unterstützt. Mitwisser hüten sich aus Angst vor Vergeltungsschlägen davor, Informationen preiszugeben. Und seit die Sicherheitskräfte Informanten kurzerhand als vermeintliche Sektenmitglieder inhaftierten, ist die Bereitschaft Auskunft zu erteilen erst recht gesunken.

 

Manches deutet allerdings darauf hin, dass »Boko Haram« seine Mitglieder aus diversen Bildungsmilieus rekrutiert. Zu Beginn des Aufstandes erregten junge Uniabsolventen Aufsehen, die demonstrativ ihre Abschlussurkunden zerrissen, um sich dann der Sekte anzuschließen. »Boko Haram« entstand aus der salafistischen Bewegung in Nigeria heraus und steht westlicher Bildung kritisch gegenüber. Salafisten distanzieren sich aber auch von traditionellen Koranschulen.

 

Dass junge Koranschüler ihren Lebensunterhalt erbetteln müssen, sei unislamisch. Auch die Herstellung von magischen Tränken und Amuletten, wie sie in vielen traditionellen nigerianischen Koranschulen gelehrt wird, läuft salafistischem Gedankengut zuwider. Dieser Faktoren ungeachtet, glauben heute viele Nigerianer, dass traditionelle Koranschulen für die »Boko Haram«-Krise verantwortlich seien. Statt Unterstützung für Koranschüler und ihre Familien halten sie ein Verbot traditioneller Koranschulen für angemessen.

 

Ein Verbot macht aber weder moderne Bildung erschwinglicher, noch ändert es etwas an der ländlichen Armut. Stattdessen birgt es die Gefahr, das ohnehin niedere Ansehen der Koranschüler in der Gesellschaft weiter zu mindern. Arm sein wäre dann nicht nur beschämend, sondern sogar strafbar.

Von: 
Hannah Höchner

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