Der syrische Intellektuelle Sadiq al-Azm sprach mit zenith über die Arbeit des Syrischen Nationalrates, die Herausforderungen der Zukunft und sein eigenes Engagement in der syrischen Opposition.
zenith: Die Arabische Liga hat jüngst wirtschaftliche Sanktionen gegen Syrien verhängt. Sind Sie zufrieden mit dem bisherigen Vorgehen der Arabischen Liga?
Sadiq al-Azm: Ich persönlich bin zufrieden mit den Schritten, die die Arabische Liga unternommen hat. Die Tatsache, dass sie gegen Baschar al-Assad vorgeht, ist sehr wichtig. Dass die Arabische Liga gegen eines ihrer Mitglieder Sanktionen verhängt, ist ein bisher historisch einmaliger Schritt. Weniger glücklich bin ich mit der Position derjenigen arabischen Staaten, die selbst revolutionären Wandel durchlaufen haben. Wenn es um Syrien geht ist, ihre Position nicht konsistent.
Sind Sie enttäuscht, weil der Irak und der Libanon sich nicht an den wirtschaftlichen Sanktionen der Arabischen Liga beteiligt haben?
Der Libanon ist nicht sein eigener Herr, das muss man verstehen. Aber wenn jemand zu den Oppositionskräften, die Saddam Hussein absetzen wollten, gesagt hätte, warum macht ihr keinen Deal mit ihm, hätte man sich sehr viel Ärger eingehandelt. Und jetzt schlagen die Iraker der syrischen Opposition etwas Ähnliches vor, etwas, das sie selbst konsequent zurückgewiesen hätten. Das ist natürlich teilweise so aufgrund des iranischen Einflusses und aufgrund der Tatsache, dass es jetzt eine schiitische Regierung im Irak gibt, aber ich finde das sehr zynisch. Selbst die Ägypter, die ihre eigene Revolution durchlaufen haben – der Militärrat und die neue Regierung – sind recht emotionslos, wenn es um die syrische Revolution geht.
Sadiq al-Azm,77,
ist emeritierter Professor für europäische Philosophie an der Universität Damaskus. Nach der Promotion in Yale, lehrte Azm u.a. an der AUB in Beirut und der Universität von Damaskus. Bis 2007 war er Gastprofessor in Princeton und ist zurzeit Fellow am Käte-Hamburger-Institute der Universität Bonn im Wissenschaftskolleg »Recht als Kultur«.
Nein, aber Essam Sharaf, dessen Regierung vor kurzem zurückgetreten ist, war ein Produkt des Tahrir-Platzes. Dennoch gibt es kein revolutionäres Gemeinschaftsgefühl gegenüber der syrischen Revolution.
Wie ist ihr eigenes Verhältnis zur syrischen Revolution? Sind sie Mitglied des Syrischen Nationalrats?
Ich stehe natürlich mit dessen Mitgliedern in Kontakt, aber ich bin nicht direkt in die täglichen politischen Aufgaben involviert, die täglichen Streitereien und Uneinigkeiten. Das ist nicht mein Ding. Nach dem Krieg von 1967 habe ich eine Zeit mit den Palästinensern gearbeitet, und diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass ich nicht für Verhandlungen in Hinterräumen und diesen Kuhhandel gemacht bin. Ich war in Jordanien während des »Schwarzen Septembers«. Wenn ich geglaubt hätte, was die Palästinenser übereinander sagen, wäre ich wahrscheinlich zu der Erkenntnis gekommen, das jeder Palästinenser ein Verräter ist. Und was momentan innerhalb der syrischen Opposition passiert, erinnert mich ein wenig an diese Zeit. Es geht immer um Personen, nicht um programmatische Punkte, die direkten Probleme oder Ideen. Konflikte immer auf der persönlichen Ebene auszutragen ist eine alte arabische Malaise. Dabei ist Einigkeit gerade in der jetzigen Situation unabdingbar. Deshalb habe ich auch darauf gedrängt, dass der Nationalrat der »Freien Syrischen Armee« politische Deckung gibt.
Was ist dabei herausgekommen? Unterstützt die »Freie Syrische Armee« den Syrischen Nationalrat?
Es gab keinen direkten Kontakt zwischen der »Freien Syrischen Armee« und dem Syrischem Nationalrat – sie lächelten sich zu, aber es gab keine direkten Absprachen. Vergangenen Mittwoch jedoch war Burhan Ghalioun, der Sprecher des Syrischen Nationalrates, in Antalya, um sich zum ersten Mal mit Repräsentanten der »Freien Syrischen Armee« zu treffen. Sie haben sich auf eine Art modus operandi geeinigt. Teil dieser Abmachung ist, dass die »Freie Syrische Armee« auf eine Art und Weise agieren wird, die die friedlichen Proteste in Syrien nicht delegitimiert.
In den letzten Wochen kursierten Bilder, die zeigten, wie die »Freie Syrische Armee« Regierungsgebäude bombardierte und einige Assad-Einheiten direkt angriff.
Isolierte Attacken auf Regierungsgebäude wird es wohl vorerst nicht mehr geben. Die »Freie Syrische Armee« wird Regierungseinheiten und die Milizen des Regimes nur noch direkt angreifen, wenn es konkret darum geht, Demonstranten zu schützen. Der friedliche Charakter der Proteste soll nicht in sein Gegenteil verkehrt werden.
»Wenn die Straße eine Flugverbotszone fordert, sollte der Nationalrat das aufnehmen«
Bis jetzt sollen zwischen 20.000 und 25.000 Deserteure zur »Freien Syrischen Armee« übergelaufen sein, aber um einen wirklichen Wechsel der Kräfteverhältnisse zu erreichen, müssten es doch viel mehr sein.
Ja. Was bisher noch nicht eingetreten ist, was aber zusätzlich zur Eskalation des Konflikts beitragen würde, ist, wenn die »Freie Syrische Armee« die Notwendigkeit sieht, die Tore für Freiwillige zu öffnen und syrische Bürger dazu aufzufordern, der ihnen beizutreten. Dann würde die Situation der in Libyen immer ähnlicher werden. Alle Syrer haben Militärdienst geleistet und natürlich sind genug Waffen verfügbar. Der Konflikt könnte so einem Bürgerkrieg gefährlich nahe kommen.
Trotz dieser realen Gefahren herrscht in der syrischen Opposition Uneinigkeit an allen Ecken und Enden, einige Gruppen haben sich dem Nationalrat nicht angeschlossen. Es wird vor allem darüber diskutiert, ob mit dem Regime verhandelt werden soll oder nicht.
Die einzige Gruppierung, die bereit wäre mit dem Regime zu verhandeln, ist Hassan Abdel-Azims Block, dem unter anderem Michel Kilo angehört. Gravierender ist aber momentan die Tatsache, dass die Straße eine Flugverbotszone fordert und die internationale Gemeinschaft dazu aufruft, für den Schutz von Zivilisten zu sorgen, was ein Euphemismus für militärische Intervention ist.
Aber der Syrische Nationalrat hat die Forderung nach einer Flugverbotszone nicht wiedergegeben, sondern hat stattdessen klar gemacht, dass eine militärische Intervention unter keinen Umständen erwünscht ist.
Ja, das ist das Problem – darüber haben wir auch in Kairo während des Treffens mit der Arabischen Liga gesprochen. Von Anfang an stand fest, dass der Nationalrat den Willen der Menschen auf den Straßen vertritt und die syrischen Demonstranten weder bevormundet noch die Revolution an sich reißt. Sprich, wenn die Straße eine Flugverbotszone fordert, sollte diese Forderung von Seiten des Nationalrates angenommen werden. Es wird innerhalb des Rates darüber nachgedacht, aber bisher hat sich die Position nicht verändert.
Die Annahme des Nationalrates, dass eine Flugverbotszone schlicht unrealistisch ist, weil es auf internationaler Ebene keinen Appetit für eine Intervention gibt, und es deshalb praktisch illusorisch ist, sich dafür einzusetzen, macht doch durchaus Sinn. Schließlich sind bisher alle Versuche, eine Resolution im UN-Sicherheitsrates zu erlassen, am chinesischen und russischen Veto gescheitert.
Manchmal scheinen Dinge unrealistisch, aber wenn man sich dafür einsetzt, wird doch etwas daraus. Es muss zumindest eine gewisse Konstanz zwischen den Demonstranten und dem Nationalrat geben. Für die Russen ist Syrien nur Kleingeld und die aktuelle Situation eine Möglichkeit, dem Westen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Im Übrigen denke ich, dass die Türkei eine Pufferzone im Norden einrichten wird.
»Was soll mit den 25 verschiedenen Geheimdiensten passieren?«
Wird intern bereits darüber diskutiert, wie ein zukünftiger syrischer Staat aussehen könnte, falls Assad doch schneller abtritt als erwartet?
In den Erklärungen, die der Nationalrat bisher erlassen hat, wird stets von einem zivilen, also einem säkularen Staat gesprochen. Allerdings gibt es einige bedeutende Punkte, die noch geklärt und durchdacht werden müssen. Was zum Beispiel soll mit den 25 verschiedenen Geheimdiensten passieren? Geht man wie Paul Bremer im Irak vor und löst einfach alle Geheimdienste auf? Mein eigener Ansatz wäre, erst einmal Wahlen abzuhalten. Es muss eine Regierung an die Macht kommen, die eine wirklich populäre Basis im Volk hat.
Also sollen die Geheimdienstmitarbeiter erst mal die Regierung wählen, die dann für ihre eigene Zerschlagung verantwortlich sein wird?
Ähnlich wie in der Türkei werden dann das Militär und die Geheimdienste Schritt für Schritt ziviler Kontrolle unterstellt. Ein weiterer ganz wichtiger Punkt, der noch nicht diskutiert wurde, sind die Golan-Höhen. Manchmal scheint es, dass die Amerikaner und Europäer den Eindruck haben, dass sobald Baschar entmachtet ist, die syrische Armee sofort zum Golan vorrücken wird.
Sie fordern also mehr Klarheit über die Absichten einer möglichen, zukünftigen Regierung in Damaskus.
Ja, deshalb habe ich angestoßen, dass ein Statement verabschiedet wird, welches besagt, dass Syrien alle internationalen Verträge und Abkommen einhalten wird, um der Welt zu versichern, dass die Opposition nicht als erstes alle bestehenden Verträge für ungültig erklären wird.
Während der ägyptischen Revolution hat ein ähnliches Bekenntnis, unter anderem zu den Friedensverträgen mit Israel, dazu beigetragen, Zweifel auf westlicher Seite an den Absichten der neuen Regierung zu beseitigen und diese stärker zu unterstützen.
Eben. Jetzt sagen die Amerikaner, »Ach unter Baschar war alles ruhig« – alles ruhig an der westlichen Front, an der Golan-Front. Es ist wichtig darauf zu verweisen, dass es auch in Zukunft weiterhin ruhig bleiben und es keine unkalkulierbaren Größen in Damaskus geben wird.
Die Christen unterstützen das Assad-Regime mehrheitlich immer noch. Gibt es Versuche, die Christen zu überzeugen sich der Revolution anzuschließen?
Ich denke, das ist momentan unmöglich, aber man muss ihnen natürlich immer wieder versichern, dass ihre Rechte unter einer zukünftigen Regierung auch weiterhin gewährleistet werden. Michel Kilo hat etwas sehr Treffendes in diesem Zusammenhang geschrieben, nämlich dass wir das Wohlergehen der Christen in Syrien nicht von Despotismus abhängig machen sollten. Aber man darf natürlich auch nicht vergessen, dass es viele christliche Oppositionelle in Syrien gibt und viele Christen momentan freitags in die Moschee gehen.
»Sobald das Assad-Regime fällt, wird sich die Business-Elite sofort auf die Seite der neuen Regierung stellen«
Wie sieht es mit den Kurden aus? Burhan Ghalioun hatte neulich die Kurden in Syrien mit den Algeriern in Frankreich verglichen, was für viel Empörung gesorgt hat.
Er musste diese Aussage sofort zurücknehmen und hat sich dafür entschuldigt. Die Tatsache, dass die Opposition die alte syrische Flagge angenommen hat und sich bewusst von der Flagge, die mit der pan-arabischen Baath-Partei verbunden wird, losgesagt hat, deutet an, dass Syriens Tage als Speerspitze des arabischen Nationalismus vorbei sind.
Trotz der wirtschaftlichen Sanktionen hat sich die wirtschaftliche Elite nicht gegen das Regime gestellt. Wie erklären Sie sich das?
Der wirtschaftlich-militärische Machtapparat scheint besser gefestigt zu sein als erwartet. Meine Einschätzung ist, dass sobald das Assad-Regime fällt, sich die Business-Elite sofort auf die Seite der neuen Regierung stellen wird, weil sie es satt hat, die Kommissionen und Tribute an die Soldaten zahlen zu müssen. Unter dem Tisch helfen einige Geschäftsleute der Revolution bereits. Sie unterstützen Familien, die ihre Häuser verloren haben und einige Oppositionelle finanziell. Sie wollen nicht alle Brücken abbrechen und behalten einen Fuß in beiden Lagern.
Wenn man Sie vor Ausbruch der Proteste in Syrien gefragt hätte, ob Sie mit einer derartigen Entwicklung in Syrien gerechnet hätten, was hätten Sie geantwortet?
Ich habe die vergangenen zehn Jahre mit Unterbrechungen in Damaskus gelebt. Als die schiitische Regierung von Ministerpräsident Maliki im Irak an die Macht kam und konfessionelle Spannungen in Syrien allgemein zunahmen, fühlte ich, dass die sunnitische Mehrheit in Syrien irgendwann ähnliche Ziele verfolgen könnte. Ich hätte erwartet, dass die Bevölkerung Hamas als erste auf die Straße gehen würde und Revanche übt für das, was ihr 1982 widerfahren ist. Es war eine große Erleichterung, dass ich mich geirrt habe. Hama blieb ruhig und schloss sich erst relativ spät den Protesten an – vielleicht aus Schadenfreude, weil ihnen der Rest des Landes 1982 auch nicht zur Hilfe kam. Die Syrer sind sich der konfessionellen Sprengkraft allgemein bewusst und haben sich bewundernswert zurückgehalten. Was mir bisher persönlich Mut gemacht hat ist, dass Syrien selbst nach neun Monaten noch nicht in einen Bürgerkrieg abgerutscht ist – das allein ist schon ein Wunder.