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Die Peschmerga und der Kampf gegen den IS

Der unvermeidbare Krieg

Analyse

Nach der Massenvertreibung der Jesiden rüsten sich kurdische Streitkräfte für die Gegenoffensive gegen den »Islamischen Staat« (IS). Doch den Peschmerga fehlen Geld und schweres Gerät, es droht ein langer Wüsten- und Häuserkampf.

Die neue Angriffswelle der Terrorgruppe »Islamischer Staat« (IS) gegen mehrere kurdische Städte im Irak war schon länger zu erwarten und kam wenig überraschend. Am 2. August war die IS-Großoffensive schon im vollen Gange: Innerhalb weniger Stunden überrannten die Islamisten mehrere Dörfer und eroberten Sindschar. Die gut 500 in der Gegend stationierten Peschmerga-Kämpfer leisteten mehrere Stunden Widerstand – bis ihnen, nach Angaben von Bewohnern, die Munition ausging und sie einen Rückzug einleiteten. Dadurch war Sindschar, das Zentrum der jesidischen Kurden im Irak, ungeschützt und ein leichtes Ziel für die Islamisten.

 

Dabei kam der Angriff keinesfalls unerwartet. Zum einen gab es Verlautbarungen der Islamisten, dass am Ende des Ramadan die Offensive gegen die Kurden eingeleitet werden würde. Zum Anderen haben die Ereignisse nach der Eroberung von Mossul klar aufgezeigt, dass IS stets nach dem gleichen Muster vorgeht: Ein massiver Frontalangriff, oft über Nacht, auf ein klar begrenztes Gebiet. Danach das Hissen der schwarzen Flagge und der Beginn eines Terrorregimes gegen alle Menschen, die nicht der IS-Doktrin entsprechen: Und dazu gehören neben gemäßigten Sunniten auch alle religiösen Minderheiten.

 

So verordneten die Dschihadisten in Mossul den Exodus der dortigen Christen – wie auch der Sprengung von Schreinen und anderen Sakralbauten. Diese Gewalttaten wurden hernach professionell in den sozialen Medien verbreitet – psychologische Kriegsführung par excellence. Dieser Doktrin entsprechend sind die Jesiden der »natürliche« nächste Gegner der Islamisten. Zum einen gehören sie einer Religionsgemeinschaft an, die schon seit Jahrhunderten von vielen Muslimen als »Teufelsanbeter« angesehen wird.

 

Zum anderen sind sie Kurden – was in den Augen des IS mit »säkular« und »Apostaten« gleichzusetzen ist. Denn die Kurden im Irak wie auch in Syrien haben es erfolgreich geschafft, den religiösen Radikalislamismus in ihrer Gesellschaft größtenteils zu unterbinden. Doch bereits vor dem Auftreten von IS gerieten Jesiden in den vergangenen zehn Jahren immer wieder ins Visier von deren dschihadistischen Vorläufergruppen. Die Zahl der noch heute im Irak lebenden Jesiden wird auf wenige hunderttausend geschätzt.

 

Massaker, Entführungen und Hungertod

 

Die Übernahme von Sindschar durch die Islamisten löste eine neue Fluchtwelle in Richtung der kurdischen Autonomiegebiete im Irak wie auch nach Syrien aus. Denn den Jesiden war von Anfang an klar, dass sie keine Überlebensmöglichkeit haben würden. Tausende Jesiden sind in das nahegelegene Gebirge geflohen; wer ausreichende Mittel hatte in Richtung Dohuk und Erbil. Die Situation in den Sindschar-Bergen verschlechtert sich dabei dramatisch: Ohne weitere Fluchtmöglichkeiten und durch Islamisten umzingelt sind nach Augenzeugenberichten mindestens 40 Kinder und alte Menschen durch Unterernährung und Verdursten gestorben.

 

In der Stadt Sindschar selber sowie in den umliegenden Dörfern sind mindestens 90 Jesiden von den Islamisten öffentlich hingerichtet worden, jesidische Heiligtümer wurden in die Luft gesprengt. Auch sind über 500 Frauen als Geiseln genommen worden. Es sind die klassischen Muster einer ethnischen Säuberung mit dem Ziel, die Religionsgemeinschaft endgültig aus dieser Region zu vertreiben.

 

Am 3. August startete ein großangelegter Gegenangriff mit bis zu 10.000 Kämpfern und schweren Waffen. Doch die Kämpfe ziehen sich weiter hin, die Kontrolle über die Dörfer wechselt ständig und die Frontlinie hat mittlerweile eine Länge von weit über 120 Kilometern erreicht. Gleichzeitig haben sich die Jesiden zu eigenen Selbstverteidigungseinheiten zusammengeschlossen und liefern sich heftige Gefechte rund um Sindschar. Bis dato hatten Jesiden keine Möglichkeit, in die Peschmerga-Armee einzutreten und waren daher stets auf den Schutz von staatlichen Stellen angewiesen.

 

Gleichzeitig hat der Vormarsch des IS die verschiedenen kurdischen Gruppen zusammengeschweißt und Trennlinien aufgeweicht. So hatten die Peschmerga-Kämpfer kurz vor ihren Rückzug aus Sindschar die syrisch-kurdische Miliz YPG um Unterstützung gebeten. Diese reagierte prompt und schickte hunderte kampferfahrene Männer und Frauen über die syrisch-irakische Grenze, um an diversen Frontlinien an der Seite der Peschmerga zu kämpfen und oft auch die Leitung zu übernehmen. Auch die PKK hat in den vergangenen Tagen auf die anhaltenden Kämpfe reagiert und die ersten Kämpfer aus den nordirakischen Kandil-Bergen in Richtung Sindschar entsandt – ein einmaliger Vorgang in der neueren kurdischen Geschichte.

 

Die USA halten an der außenpolitischen Linie gegenüber Bagdad und Erbil fest – mit fatalen Konsequenzen

 

Selbst Iraks Premier Nuri al-Maliki vollzog eine Gradwendung um 180 Grad – wohl auch durch den Druck aus Iran – gegenüber den Kurden. Standen sich die irakische Armee und die kurdischen Peschmerga-Kräfte vor nicht allzu langer Zeit noch feindlich gegenüber, will Maliki nun die irakische Luftwaffe zur Unterstützung mobilisieren. Dabei befürchten kurdische Offiziere aber zu Recht auch »friendly fire« – wie es in den letzten Wochen immer wieder vorgekommen ist.

 

Die Obama-Regierung scheint bezüglich der Kurden an der gleichen außenpolitischen Linie wie die Bush-Regierung festzuhalten – mit fatalen Konsequenzen: Trotz der drohenden ethnischen Säuberung gegenüber der Jesiden, wie auch der Tatsache, dass die Kurden im Irak und Syrien momentan das einzige Bollwerk gegenüber IS darstellen, blockieren die USA jede ernstzunehmende Hilfe. Eine im Mai eröffnete Pipeline zwischen dem kurdischen Nordirak und der Türkei ist noch immer nicht im Betrieb, da auf Druck der USA die Türkei von Öleinkäufen absieht.

 

Auch ein Öl-Tanker, der unter kurdischer Flagge die US-Küste anlaufen wollte, musste wieder abdrehen. Und Waffenverkäufe an die Peschmerga-Kräfte werden durch die Obama-Regierung weiterhin unterbunden. Entsprechend war ein Desaster wie der Rückzug aus Sindschar zu erwarten: Durch den sich immer länger hinziehenden Krieg gegen IS wird die Munition immer knapper – und schwere Waffen wie Panzer und Artillerie sind nur schwer auf dem internationalen Markt für die Kurden aufzutreiben. Die wenigen Kampfflugzeuge und Hubschrauber sind fest in der Hand der irakischen Zentralregierung. Und so läuft es auf einen blutigen Häuser- und Wüstenkampf hinaus, der die angespannte Wirtschaftslage der Kurdischen Autonomieverwaltung weiter verschärfen wird.

Von: 
Benjamin Hiller

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