Die Muslime in der Türkei begegnen dem Anti-Islam-Film »Innocence of Muslims« im Gegensatz zu anderen Ländern der Region zwar mit Kritik, gewalttätige Proteste aber bleiben aus. Sagt das auch etwas über die Türken aus?
Dunkles Make-Up, umfunktionierte Afro-Perücke als langer Wuschel-Vollbart und ein weißes Kleid – fertig ist der Quoten-Islamist. Diese einfallsreiche Idee hatte scheinbar auch Regisseur Alan Roberts, als er seinen islamophoben Film »Innocence of Muslims« drehte. Inzwischen ist der Trailer des Films im Youtube-Account von »Sam Bacile« von mehr als vier Millionen Internetnutzern gesehen worden.
Doch trotz weiteren Uploads auf diversen Video-Plattformen und Internetseiten muss Roberts anscheinend noch etwas üben, um mit seinem Film auch in der Türkei die gewünschte Provokation zu erreichen. Es ist zwar zweifelhaft, ob die Beteiligten der öffentlichen Fahnenverbrennungen vor den westlichen Botschaften von Rabat bis Kabul den Filmtrailer auch wirklich gesehen haben.
Die islamische Welt ist dennoch empört über das Schmähvideo gegen den Propheten Muhammad und drückt ihre Gefühle in gewalttätigen Demonstrationen aus. Viele Muslime im Nahen Osten, in Nordafrika und darüber hinaus fassen das Video als eine große Beleidigung ihres Glaubens auf. Die einzige nennenswerte Flaute in der Protestwelle ist wohl die Türkei.
Seit Tagen scheinen die türkischen Muslime den Skandal zu ignorieren und sich nicht sonderlich mit dem Thema zu beschäftigen. Nur eine kleine Gruppe von rund 300 Personen protestierte am vergangenen Freitag unter der Schirmherrschaft der Jugendorganisation der islamischen »Saadet Partisi« (SP), der »Partei des Glücks« in Istanbul.
»Wir wollten zeigen, dass wir diese Schandtat gegen unseren verehrten Propheten nicht auf uns sitzen lassen können und haben nach dem Freitagsgebet zu einer Demonstration aufgerufen«, erklärte Emrah Kaya, Chef-Manager der Jugendorganisation der SP gegenüber zenith. Die Frage, ob es noch weitere Proteste gegen den Trailer in der Türkei gegeben hat, verneint er und meint, dass weder die Regierung noch andere Verbände oder Parteien sie bei ihrem Aufruf unterstützt hätten.
Protestflaute über Kleinasien
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wiederum warnte die Muslime, provokativen Aufrufen von Islamisten zur Gewalt nicht zu folgen, und verurteilte als einer der wenigen muslimischen Staatsmänner öffentlich den Mord am US-Botschafters in Libyen, Christopher Stevens, und drei weiterer amerikanischer Diplomaten: »Niemand, der für sich in Anspruch nimmt, er handele im Namen des Islams, kann die Terrortaten und die Gewalt beim Angriff auf die US-Botschaft in Libyen rechtfertigen.
Diejenigen, die solche Aktionen unter Ausnutzung islamischer Rhetorik und Symbole ausführen, schaden den Muslimen am meisten!« Sowohl türkische Medien, als auch einflussreiche islamische Gelehrte wie Fethullah Gülen rieten den Muslimen im Lande, Ruhe zu bewahren und sich nicht von Provokationen beeinflussen zu lassen.
Man solle sich als Muslim vielmehr fragen, wieso man den Propheten Muhammad der Welt nicht richtig erklären konnte, betonte Gülen am Samstag. Die Botschaft der türkisch-muslimischen Elite ist deutlich: den Fokus auf die eigenen Versäumnisse und Fehler legen, statt Gewalttaten gegen Unschuldige zu verüben.
Haben die türkische Politik und Gesellschaft aus den Kontroversen um Salman Rushdies »Satanischen Verse«, die Karikaturen der Jyllandsposten oder die jüngste Koranverbrennung in Afghanistan durch US-Soldaten dazugelernt? Oder lassen sich die Türken einfach nicht von dem unprofessionell erscheinenden Film beeinflussen, der eher einem Home-Video ähnelt?
Ein belastungsfähiges Stimmungsbild der türkischen Bevölkerung fehlt, aber Erklärungen gibt es. Tanel Demirel, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Cankaya-Universität in Ankara, sagt im Gespräch mit zenith, er kenne die Gründe für die Gelassenheit der Türkei. Es gebe »einige wichtige Fakten«, die für die Betrachtung dieses Konflikts entscheidend seien: »In der Türkei gibt es keinen Hass gegen die USA oder die christlichen Welt. Wir sind politisch unabhängig vom Westen und waren auch historisch nie wirklich direkt mit westlichem Kolonialismus konfrontiert.«
Außerdem seien die Lebensumstände der Muslime in der Türkei völlig andere als die in den meisten muslimischen Ländern: Die Menschen seien einfach finanziell abgesichert und oft viel wohlhabender, so dass es etwa keinen Grund für Existenzängste gebe.
Erdogan und Gülen geben sich staatsmännisch
Weiterhin, führt Demirel aus, sei die Türkei schon seit 1946 eine mehr oder weniger gute Demokratie. Man löse daher Probleme auf diplomatischem Weg oder mittels einer freien Presse in einer freien Gesellschaft. Man halte sich, empfiehlt der Politologe, aber auch die historische Erfahrung der Türken vor Auge.
»Das türkische Volk hat schon seit den Osmanen Toleranz gegenüber verschiedenen Religionen und Kulturen gelernt«, erläutert Demirel. »Ich denke, dass wir uns auch deswegen sehr viel weniger von islamophoben Aussprüchen oder eben Hetz-Videos beeindrucken lassen.« Weitaus wichtiger sei jedoch, dass es in der Türkei ein deutlich geringeres Potential für islamistische Extremisten gebe.
Die türkischen Muslime seien gemäßigter und fühlten sich »für die gesamte islamische Welt verantwortlich«. Türkische Muslime als Modell für einen friedlichen Islam? Auf den ersten Blick scheint es so, denn sogar SP-Manager Kaya betont, dass es sehr wichtig sei, friedlich zu demonstrieren und Proteste nicht unmittelbar vor Botschaften zu organisieren.
Aber sowohl Demirels Romantisierung türkischer Politik und Gesellschaft, als auch die friedvollen Aussagen Kayas spiegeln wohl eher Selbstverständnis und Kommunikationsstrategie der türkischen Elite. Seit 1946 putschte das türkische Militär viermal gegen die Demokratie, von einer freien Presse kann erst seit einigen Jahren die Rede sein.
Kayas »Partei des Glücks« ist die wohl extremste islamische Gruppierung der Türkei und konnte unter dem Demagogen Necmettin Erbakan noch zigtausende, wütende Demonstranten gegen die USA oder Israel mobilisieren. Die Realitäten der sowohl wirtschaftlich, als auch militärisch guten Beziehungen der Türkei mit den USA und anderen Nato-Verbündeten spielen eine mindestens ebenso große Rolle wie das türkische Selbstbild.
So scheint es naheliegend, dass Ankara jegliche Ausschreitungen eher unterbinden würde, um seinen wirtschaftlichen und militärischen Status bei seinen Partnern nicht in Gefahr zu bringen. Die augenscheinlich friedliebende Haltung der Türken ist daher wohl kein Zufall, denn wie soll schon Albert Einstein gesagt haben? Alles ist relativ.