Das Weltmeer mit seinen Monsunwinden hat wie kaum ein anderer geografischer Faktor zur Ausbreitung des Islams und muslimischen Lifestyles beigetragen – zwischen Afrika, Asien und dem Nahen Osten. Ein Blick auf das Dossier Indischer Ozean.
Gezeiten, Gebetsrufe, Geister, Gemeinschaft. Der Indische Ozean trennt und verbindet. Er schafft Distanzen und macht es möglich, sie zu überwinden. Er ist ein sozialer Raum, der durch viele Akteure und deren Praktiken über Jahrhunderte bis in die heutige Zeit (re)produziert wurde. Insbesondere muslimische Gemeinschaften trugen dazu bei, den Indischen Ozean als Raum zu schaffen, der lokal immer wieder neu gemacht und gedacht werden kann.
Wind kommt auf. Wie jedes Jahr kündigt er die Regenzeit an. Es sind die Monsunwinde, die seit Jahrhunderten Händler auf verschiedenen Routen über den Indischen Ozean lenken – und damit auch deren Ansichten, Ideen und Religionen verbreiten. Schon vor dem Auftreten Muhammads bestanden Handelsbeziehungen zwischen Arabien und dem indischen Subkontinent; der Islam begann dort noch im 7. Jahrhundert eine Rolle zu spielen. Migration und Handel brachten die neue Religion in diesem Zeitraum ebenfalls zum Horn von Afrika.
Ab dem 8. Jahrhundert – und insbesondere im 9. und 10. Jahrhundert – florierte der Handel zwischen muslimisch-arabischen Seefahrern und Swahili-Händlern, Kaufleuten aus Sumatra, vom Malaiischen Archipel und vielen Inseln des Indischen Ozeans. Gleichzeitig festigte die Expansion islamischer Kalifate und Sultanate vielerorts den Islam als dominanten Referenzpunkt des sozialen Lebens. Somit entstanden ozeanübergreifend muslimische Gemeinschaften, die zwar den Islam unterschiedlich auffassten und diskutierten, sich aber einheitsstiftend als muslimische Gemeinschaft, als umma, verstehen konnten. Die umma schuf translokale Netzwerke, die sich bis heute kreuz und quer über den Indischen Ozean erstrecken, und zum Teil auch weit über ihn hinaus.
Händler und Migranten: Wirtschaftsbeziehungen mit Arabien brachten den Islam schon früh nach Südasien und ans Horn von Afrika
Betrachten wir den Indischen Ozean nicht einfach als eine Masse von Wasser, die zwischen Kontinenten liegt, sondern als etwas, was in sich eine Einheit bildet, so finden wir eine alternative imaginierte Geographie. Nicht die Ozeane sind die Passepartouts der Kontinente, sondern sie selbst werden zu Bildern, die von Kontinenten eingerahmt werden. Viele Zentren befinden sich daher – zentrumsuntypisch – »am Rand«, in der topographischen Peripherie, in den kontinentalen Küstengebieten.
Gleichzeitig rücken Inseln in den Fokus. Völlig umgeben vom Meer, sind Inseln in besonderer Weise beeinflusst von den maritimen Netzwerken und wirken mit an der Entfaltung des ozeanischen Raums. Das Meer wird zum möglichen »Hinterland«. Wohin öffnet sich eine kleine Inselgruppe wie die Lakkadiven, die zwar nationalstaatlich zu Indien gehört und deren Sprache mit Indiens Tamil verwandt ist, deren Bevölkerung aber mehrheitlich muslimisch ist – zum nahegelegenen, hinduistisch geprägten Indien oder zum muslimisch konnotierten Indischen Ozean, in den die Inseln eingebettet sind? Und inwiefern schließt das eine das andere aus? Was wird als Zuhause empfunden, wer als »zu mir gehörig«? Wie gestaltet sich die Situation für Minderheiten?
Sowohl Muslime, die sich aufgrund ihres nichtmuslimischen Umfelds als Minderheit empfinden – beispielsweise in der südafrikanischen Hafenstadt Durban –, als auch muslimische Gruppierungen, die sich im Verhältnis zu anderen Muslimen als Minderheit sehen – etwa die im Oman lebenden Ibaditen –, werfen interessante Fragen in Bezug auf ihr Verhältnis zum Indischen Ozean auf. Täglich ruft der Muezzin zum Gebet, täglich richtet sich der Blick der Muslime nach Mekka, täglich lernen Schüler, den Koran in seiner Originalsprache zu rezitieren.
Zwar wird Arabisch in muslimischen Gesellschaften gelehrt und oft als Lingua franca für Muslime verstanden, doch können sich bei Weitem nicht alle Muslime auf Arabisch verständigen. Der symbolische Wert einer gemeinschaftsstiftenden Sprache bleibt dennoch bestehen; die privilegierte Stellung des Arabischen als Sprache des Islams ist nicht an politische Grenzen gebunden. Einerseits schafft die Melodie der Sprache Vertrautheit, ist Teil des Klangteppichs in den Orten im und am Indischen Ozean. Andererseits kann das Arabische, obwohl es die Kommunikation beispielsweise in Gelehrtennetzwerken möglich macht, auch als Mittel zur Ausgrenzung derjenigen benutzt werden, die der Sprache nicht mächtig und trotzdem Teil der Gemeinschaft des Indischen Ozeans sind. Aneignen und abgrenzen, zwei Seiten einer Medaille.
Die arabische Sprache ist Teil des Klangteppichs am Indischen Ozean – sie kann jedoch auch als Mittel der Ausgrenzung dienen
Vielerorts wird von kosmopolitischen Gesellschaften gesprochen, Gesellschaften, die weltbürgerlich das Fremde beheimaten. Über die Häfen (auch die Flughäfen) kamen fremde Einflüsse über das Wasser und wurden lokal angenommen, eingebettet, adaptiert. Ein Sansibarer kann beispielsweise von seiner Studienzeit in Saudi-Arabien erzählen, während er mit einem indischen Kaufmann über die Vermarktung der neuen Stoffe mit indonesischem Design verhandelt – womit er seinen nächsten Verwandtschaftsbesuch im Oman finanzieren möchte.
Die Beheimatung des »Fremden« zeigt sich nicht nur in den alltäglichen Beziehungen zu Menschen mit vielfältigen Biographien und nicht nur in der Handhabung von Gütern, die weit gereist sind. Sie zeigt sich auch im Umgang mit Geistern; wobei das »Fremde« ganz persönlich angenommen, zu eigen gemacht und damit ent-fremdet werden kann. Swahili-Geister in Gujarat, madagassische Geister auf Sansibar, arabische Geister in Indonesien oder auf den Komoren: Bestärkt durch das verbreitete Bewusstsein, dass Geister auch im Koran als Teil der Lebenswelt beschrieben werden, finden sich verschiedene Geister- und Verkörperungspraktiken, in denen die Grenzen zwischen dem »Fremden« und dem »Eigenen« verschwimmen und neu geschaffen werden.
Wenn Bi Fatuma ihren Körper einem arabischen Geist (ruhani) in Mombasa an der Küste Kenias zur Verfügung stellt, dabei die Beziehung zu dem Geist stärkt, sodass sie sich von ihm für eine eventuelle Hochzeit der Tochter beraten lassen kann, so bezieht sie zwar »Arabisches« in ihr kenianisches »Eigenes« mit ein, doch grenzt sie sich damit gleichzeitig von Nichtislamischem in ihrem Land ab, schafft also neues »Fremdes«. Die Annahme und Auseinandersetzung mit Menschen, Gütern und Geistern aus verschiedenen Gebieten des Indischen Ozeans deutet auf eine starke Hinwendung zum Ozean hin und hebt die Identifizierung mit einer den gesamten Raum umspannend gewähnten umma hervor.
Versteht man also den Indischen Ozean als identitätsstiftenden Raum, der translokal praktiziert wird, so wird das, was aus einer kontinentalen Perspektive als das »Fremde« bezeichnet werden konnte, zum »Eigenen«. Somit könnte diese dynamische Annahme verschiedener Einflüsse aus der Region eine ozeanische Gemeinschaft charakterisieren. Soziale, kulturelle und religiöse Praktiken befinden sich in einem ständigen Austausch miteinander sowie mit politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Einflüssen.
Mit der lokalen Pflege des Bewusstseins für die Zugehörigkeit zu einer ozeanischen Gemeinschaft an verschiedenen Orten wurde zum Beispiel die Indian Ocean Rim Association (IORA) möglich, eine Organisation, dessen Anliegen es ist, den politischen und wirtschaftlichen Austausch der Mitgliedsstaaten im und um den Indischen Ozean zu stärken. In Treffen, Workshops und Foren arbeiten die 20 Mitgliedsstaaten seit 1995 an gemeinsamen Strategien für förderliche Kooperationen in der Region. Die Academic Group der IORA skizziert in ihrer Selbstbeschreibung, dass sie sich für die Förderung einer Kultur der »Indischen Ozeanheit« (Indian Oceanness) einsetzt, was die Wechselwirkungen von überregionaler Politik und lokalen Selbstverständnissen in exemplarischer Weise hervorhebt und die Orientierung zum Meer aufweist.
Gezeiten, Gebetsrufe, Geister, Gemeinschaft. Der Indische Ozean ist eine historisch gewachsene Region, die bis heute durch lokale Ausübungen von Praktiken geprägt ist, die auf die umma verweisen. Ähnlich wie kontinentale Regionen bietet der Indische Ozean einen Raum für Zugehörigkeit – insbesondere für Muslime, die an seinen kontinentalen Küsten oder auf seinen Inseln leben. Durch ihr Verständnis von der Gemeinschaft des Ozeans, durch ihr Selbstverständnis, dieser translokalen Gemeinschaft anzugehören, und durch ihre Praktiken, die aufeinander bezogen sind, bestätigen sie den Indischen Ozean immer wieder neu als Raum.
Hanna Nieber wurde 1985 in Münster geboren. Sie studierte Afrikanistik in Leipzig und beschäftigt sich heute im Rahmen ihrer Promotion mit »kombe«, auf Koranversen basierender Medizin auf Sansibar.