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Eine offene Wunde

Eine offene Wunde

Feature

Der Angriff auf das Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi im September 2013 traf Kenia mitten ins Herz. Ein Jahr später sind die Anschläge noch immer nicht restlos aufgeklärt – und die Antiterror-Strategie des Landes steht auf dem Prüfstand.

Rückblick: Am Nachmittag des 28. Septembers 2013, vier Tage nach einer der schwersten Terrorattacken in der Geschichte des Landes, schlendert Joshua, ein Kenianer, der mit seinen markanten Gesichtszügen meist für einen Somali gehalten wird, durch einen »Nakumatt« in Nairobi. Ein eben solcher Nakumatt war genau eine Woche zuvor und etwa zur selben Stunde von Kämpfer der somalischen Terrorgruppe Al-Schabaab attackiert und mehrere Tage lang besetzt worden – das Ergebnis: 67 Tote und über hundert Verletzte.

 

Langsamen Schrittes schleicht Joshua vorbei an den Regalen der Lebensmittelabteilung, wo neben allerlei Nüssen, Kaffee- und Teesorten auch zahlreiche aus dem Westen importierte Produkte zu horrenden Preisen angeboten werden. Sein Weg führt ihn auch vorbei an der Spirituosenabteilung, eine separate Räumlichkeit innerhalb des Kaufhauses, in der verschiedenste Schnäpse, Weine und Biere den Käufer anlocken sollen – jedoch nicht an diesem Tag, denn der Raum bleibt verschlossen.

 

Hinter der Fleisch-Theke sitzt eine gelangweilt wirkender junge Frau, die mit ihrem Mobiltelefon spielt. Kundschaft scheint sie schon lange nicht gehabt zu haben. Tatsächlich mutet der besonders an Samstagen so rege frequentierte Supermarkt, in dem sonst die kenianische Mittel- und Oberschicht sowie viele der in Nairobi lebenden Ausländer allwöchentlich ihre Einkäufe tätigen, an diesem Tag eher an wie eine Geisterstadt. Menschenleere Gänge und gespenstische Stille, wo sonst großes Gedränge herrscht und kaum ein Durchkommen ist, lassen erahnen, dass irgendetwas anderes ist als sonst.

 

Doch ganz verlassen ist dieser Nakumatt doch nicht, denn bei seinem Streifzug durch die verschiedenen Abteilungen begegnet Joshua bemerkenswerterweise immer wieder sogenannten »Al-Shababes« – eine durchaus ambivalente Bezeichnung junger Kenianer für die meist von Burkas verhüllten Frauen der stetig wachsenden somalischen Mittelschicht in Kenias Hauptstadt. Vereinzelt sieht er auch kleine Gruppen von in Kanzus gekleideten Männern, die offensichtlich mit einem Gefühl absoluter Sicherheit durch die Gänge spazieren – und dies scheinbar mehr aus Neugier, als das sie das Bestreben hätten, irgendetwas zu kaufen.

 

Von nichtmuslimischen Kenianern fehlt jede Spur, von Europäern oder Amerikanern, die sich hier sonst allwöchentlich tummeln ganz zu Schweigen. Das Land befindet sich noch in Schockstarre, die Angst vor einem weiteren Anschlag dieser Art ist allgegenwärtig. Daran ändern auch die verschärften Sicherheitskontrollen am Eingang der Einkaufsmeile nichts. Heute, ein knappes Jahr später, ist in Nairobi kaum noch etwas zu spüren von der Angst, die im September 2013 wie ein bedrohliches Ungeheuer um sich griff.

 

Die Westgate-Shoppingmall soll schon bald wieder geöffnet werden, und auch anderenorts sind die Nakumatt-Supermärkte wieder gut besucht – die Kasse klingelt, und das sehr zur Freude der arbeitstüchtigen Inder rund um die Familie Atul Shah, die inzwischen mit über 30 Nakumatt-Kaufhäusern in Kenia, Uganda, Ruanda und Tansania zu einem der erfolgreichsten Unternehmen Ostafrikas avanciert sind. Doch wer denkt, es sei wieder alles beim Alten, der täuscht sich gewaltig. Kenia präsentiert sich der Welt derzeit wie eine große eitrige Wunde, aus der immer neue hasserfüllte Keimzellen des islamischen Terrors hervorgehen.

 

Längst sind Küstenstätte wie Lamu oder Mombasa, eigentlich beliebte Touristenziele, von Orten der Idylle zu zwei der wichtigsten Rekrutierungsstellen somalischer Islamisten geworden. Immer mehr junge kenianische Männer schließen sich, von Arbeitslosigkeit und Armut geplagt, der Terrorzelle an – von da aus verschlägt es sie meist nach Somalia, um dort gegen ihre Landsleute in der kenianischen Armee einen scheinbar aussichtslosen, heiligen Krieg zu führen.

 

So wie Hassan (Name geändert), der auf Nachfrage offen bekennt: »Wenn ich die Chance bekomme, irgendwo im Dschihad zu kämpfen, zum Beispiel in Somalia, dann gehe ich. Ich bin bereit dafür, bereit zu gehen, zu kämpfen und zu sterben.« Daher geht es immer mehr Müttern in Mombasa wie Sauda Ibrahimu, die eines Tages ihren Sohn nach dem Moscheebesuch nicht mehr wiedersah – einige Monate später erhielt sie einen Anruf und mit ihm die Nachricht, dass ihr Sohn, der inzwischen einen neuen Namen angenommen hatte, »für Allah« im somalischen Krieg gegen die Truppen der Afrikanischen Union gefallen sei.

 

Religiöse Spannungen hat es in dem muslimisch geprägten Mombasa schon seit langem immer wieder gegeben – was sich geändert hat ist die Radikalität der Nachrichten, die von muslimischen Predigern in den Moscheen verbreitet werden. Inzwischen scheint es in einigen Vierteln der Küstenmetropole schon zum guten Ton zu gehören, im Zuge des Freitagsgebetes Hass gegen Andersgläubige zu schüren und unverhohlen zum gewaltsamen Dschihad aufzurufen. Hetzvideos des radikalen Predigers Aboud Rogo Mohammed, aber auch DVDs mit Anleitungen zum Bau von Sprengstoffgürteln, werden Mombasas Geschäften unter der Ladentheke verkauft.

 

Lässt Kenias Regierung radikale Prediger gezielt ermorden?

 

Aboud Rogo, dem enge Verbindungen zu Al-Qaida nachgesagt wurden, galt viele Jahren lang als einer der gefährlichsten Islamisten des Landes; die USA verdächtigten ihn unter anderem als einen der Drahtzieher der Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam 1998, bei denen mehr als 200 Menschen ihr Leben verloren. Seine plakativen Botschaften wie »Hakuna dawa ya kafiri, ila bunduki«, was so viel heißt wie »Es gibt kein Heilmittel gegen die Ungläubigen außer die Schusswaffe«, machten ihn in Kenia nicht nur zum Vorbild vieler junger, radikalisierter Muslime, sondern auch zum Staatsfeind Nummer 1, bis er im August 2012 in seinem Auto mit mehreren Schüssen von zwei vorbeifahrenden Schützen hingerichtet wurde.

 

Daraufhin kam es in Mombasa zu tagelangen, blutigen Straßenschlachten zwischen der Polizei und muslimischen Jugendlichen. Laut Aggrey Adoli, Polizeichef der Küstenregion, tappt die kenianische Polizei bei der Suche nach den Verantwortlichen auch fast zwei Jahre nach Aboud Rogos gewaltsamen Tod angeblich immer noch immer Dunklen – vermutlich, weil man seitens der Sicherheitsbehörden die Wahrheit gar nicht so genau wissen will, schließlich ist die Polizei selber bisher der einzige Hauptverdächtige; ebenso wie im Falle der Ermordung von Sheikh Ibrahim Omar, der am 3. Oktober 2013 ebenfalls in seinem Auto erschossen wurde.

 

Sheikh Ibrahim Omar galt ebenso wie Aboud Rogo als Teil eines islamistischen Netzwerkes in Mombasa, dessen Basis in der berüchtigten Masjid-Musa-Moschee zu suchen ist, die aufgrund ihres Rufes als Rekrutierungszentrum der Al-Schabaab bereits mehrfach das Ziel von Razzien der kenianischen Sicherheitsbehörden wurde. Genau wie bereits nach Aboud Rogos Tod folgten auch auf die Ermordung von Ibrahim Omar gewaltsame Proteste in Mombasa, unter anderem wurde eine Kirche im Brand gesteckt.

 

Man munkelt, es handelte um einen gezielten Vergeltungsschlag des kenianischen Sicherheitsapparates als Reaktion auf die Westgate-Attacke, die zwei Wochen zuvor 67 Menschen in den Tot gerissen hatte. Viele Sicherheitsexperten und Menschenrechtsorganisationen sind sich einig, dass die in den letzten Jahren massiv gestiegene Gewalt kenianischer Polizisten gegen Teile der muslimischen Bevölkerung auch vor der Hinrichtung radikaler Prediger inzwischen kein Halt mehr macht.

 

Die Tötung von Ibrahim Omar rief auch Sheikh Abubakar Shariff, genannt Makaburi, was auf Swahili so viel heißt wie »Friedhof«, auf den Plan, der aufgrund seiner radikalen Einstellungen und seiner offenkundigen Sympathie für Al-Schabaab seit der Ermordung von Aboud Rogo zu Kenias neuem Staatsfeind aufgestiegen war. Er soll laut Aussagen des kenianischen Geheimdienstes für die Ermordung von 23 Christen in einer Kirche in Mombasa verantwortlich gewesen sein. Makaburi wetterte immer wieder gegen die kenianischen Sicherheitskräfte, die wie schon im Fall Rogo nun auch bei Omar die Schuld für die außerrechtliche Entledigung des Predigers zu tragen hätten.

 

Nach Mombasa kehrt die Gewalt nun auch nach Nairobi zurück

 

Anfang 2014 rechtfertigte Makaburi, dessen kleines Büro im Herzen der Mombasa-Insel einem dreckigen, kleinen Hochsicherheitstrakt glich, da er ständig befürchtete, ebenso wie die zwei anderen Scheichs einem Mordkomplott zum Opfer zu fallen, in einem Interview die Attacke auf Westgate als legitime Selbstverteidigung somalischer Muslime: »Die kenianische Armee begeht die gleichen Gräueltaten, und noch viel schlimmere Dinge in Somalia, als das, was in Westgate passiert ist. Gemäß der islamischen Religion hatten sie jedes Recht, das zu vergelten, was die kenianische Armee in Somalia tut«, so Makaburi.

 

Es sollte eines seiner letzten Interview sein, denn wenige Wochen später, am 1. April 2014 wurde auch er vor einem Gerichtsgebäude in Mombasa auf offener Straße mit mehreren Schüssen hingerichtet. Er ist somit der dritte bekannte radikale islamistische Geistliche, der innerhalb von zwei Jahren auf gewaltsamem Wege beseitigt wurde. Natürlich hat die kenianische Polizei in keinem der Fälle eine heiße Spur: »Wir benötigen Beweise, um voranzukommen. Wir warten darauf, dass sich Zeugen melden«, so Polizeichef Adolis. Doch nicht nur radikale Prediger fallen Hinrichtungen an Kenias Küste zum Opfer.

 

Auch, liberale Geistliche, die Gewalt gegenüber Andersgläubigen ablehnen oder als mit dem Koran unvereinbar verurteilen, leben inzwischen gefährlich. Wie etwa Scheich Mohamed Idris, der am 10. Juni 2014, als er sich gerade auf den Weg zur Moschee machte, vor seiner Haustür von Unbekannten mit mehreren Schüssen in den Bauch niedergesteckt wurde. Die Ermordung des liberalen Predigers veranlasste die kenianische Polizei, erneut hart gegen mögliche Terrorverdächtige durchzugreifen – und das nicht nur in Mombasa, sondern auch wieder in der Hauptstadt Nairobi, wo die Sicherheitslage nach diversen Bombenangriffen sich wieder verschärft hat.

 

So tötete beispielsweise am 31. März 2014 ein Sprengsatz sechs Menschen in Stadtviertel Eastleigh, einige Wochen später, am 23. April, explodierte eine Autobombe nahe einer Polizeistation und tötete vier Menschen. Im Mai folgte unter anderem ein Sprengstoffangriff auf zwei Busse auf Nairobis vielbefahrener Thika-Road, der drei Menschenleben forderte, sowie ein Anschlag auf den Gikomba-Markt, bei dem mindestens zwölf Menschen den ums Leben kamen.

 

Der vorläufige traurige Höhepunkt der neuerlichen Gewaltexzesse in Kenia: die Erstürmung einer Polizeistation, eines Hotels, einer Bank und eines Regierungsbüros im Küstenort Mpeketoni sowie der Überfall auf eine Polizeistation in der Ortschaft Kibiboni in der Nähe von Lamu – Ergebnis: insgesamt 71 Tote. Für die meisten Attacken hat die Al-Schabaab-Miliz bereits die Verantwortung übernommen und angekündigt, von den Angriffen nicht abzulassen, bis auch der letzte kenianische Soldat Somalia verlassen habe. Die Polizei reagierte prompt mit der Erschießung zahlreicher Terrorverdächtiger. Die Stimmung ist aufgeheizt, und Besserung vorerst nicht in Sicht, denn Präsident Uhuru Kenyatta ist nicht bereit, von seinen Plänen abzurücken: »Wir werden solange in Somalia bleiben, bis die dortige Regierung Ordnung in ihr Land bringt«, so Kenyatta.

 

Ignorierten Kenias Sicherheitsdienste Hinweise auf einen bevorstehenden Anschlag?

 

Seit November 2011 ist die kenianische Armee in Somalia, um die Grenze zu sichern, nachdem Al-Schabaab-Milizen Ausländer auf kenianischem Boden entführt hatten. Die Meinungen innerhalb der kenianischen Bevölkerung bezüglich des Truppenverbleibs ins Somalia sind gespalten. Magereth Wambui, Studentin in Nairobi, ist nicht begeistert von den Plänen des Präsidenten, die Armee weiter in Somalia kämpfen zu lassen: »Kenia hat genug andere Probleme, wir sollten uns jetzt nicht um Somalia kümmern. Und ich denke, eine Großteil der Bevölkerung sieht das auch so.«

 

Susy Tumaini aus Mombasa ist sich nicht sicher: »Eigentlich bin ich dagegen, dass kenianische Soldaten in Somalia kämpfen. Aber inzwischen glaube ich, dass wenn wir nicht in Somalia wären, es hier an der Küste noch viel schlimmer wäre und es noch mehr Entführungen gäbe.« Doch viele Menschen in Kenia treibt immer noch eine ganze andere Frage um; nämlich die, wie es im September 2013 überhaupt zu einem derartig verheerenden Angriff auf das Einkaufszentrum Westgate kommen konnte und vor allem, wieso die Sicherheitskräfte trotz der Hilfsangebote zahlreicher ausländischer Terrorspezialisten – laut einem kenianischen Sicherheitsbeamten waren sowohl das FBI wie auch israelische Experten an der Befreiung von Geiseln beteiligt – ganze vier Tage brauchten, um dem Schrecken endlich ein Ende zu setzten.

 

Man hätte erwartet, dass spätestens nach 24 Stunden ein Spezialtrupp das Gebäude systematisch durchkämmt und alle Terroristen gefangen oder ausgeschaltet hätte. Stattdessen folgten auf den ersten drei weitere Tage des Sterbens, Bangens sowie der Information und Desinformation seitens kenianischer Medien, die mit den Ereignissen scheinbar genauso überfordert waren wie die Sicherheitskräfte. Schon seit mindestens 2012 war der NIS, Kenias Geheimdienst, über die Gefahren eines Anschlages auf das Westgate-Einkaufszentrum informiert gewesen, wie ein zenith vorliegendes Dokument beweist. Der Tipp soll aus Israel gekommen sein, doch war der kenianische Sicherheitsapparat offenbar zu sehr mit sich selbst und seinen internen Querelen beschäftigt, als dass er sich effektiv um die Bekämpfung dieser Bedrohung hätte kümmern können.

 

Befehlschaos und der Verdacht der persönlichen Bereicherung

 

Und so stürmten schließlich am Mittag des 21. September 2013 Bewaffnete ungehindert die Shopping-Mall. Zwei von ihnen verschafften sich Zugang über das Parkdeck im zweiten Stock, in dem zu dem Zeitpunkt ein Kinderkochwettbewerb stattfand, der schnell ein jähes Ende nahm. Zwei weitere Attentäter drangen über den Haupteingang ein und eröffneten das Feuer. Kurz danach zogen sich die vier Schützen in den im Westgate befindlichen Nakumatt-Supermarkt zurück.

 

Die Auswertung der Videoaufzeichnungen legt nahe, dass keiner von ihnen den Nakumatt danach wieder verlassen hat. Auch deuten die Videoaufzeichnungen – entgegen der Aussagen von Innenminister Joseph Ole Lenku – darauf hin, dass es sich insgesamt nur um vier Angreifer handelte, und nicht um 10 bis 15, wie zunächst behauptet wurde und was freilich erklärt hätte, warum die Sicherheitskräfte solange brauchten, um Herr der Lage zu werden.

 

Doch die Videos der Überwachungskameras legen ohnehin ganz andere Gründe für den schleppenden Verlauf der Operation nahe. Denn während im Inneren des Nakumatt scheinbar entspannte Terroristen beginnen, ihre Waffen abzulegen und in aller Ruhe ihre Gebete zu verrichten, sind an anderer Stelle schwerbewaffnete Soldaten zu sehen, die mit vollen Einkaufstaschen den Nakumatt unverrichteter Dinge wieder verlassen. Auch ein Juweliergeschäft im Westgate wurde fast komplett leergeräumt, ebenso wie einige Fotoläden, und es ist nicht anzunehmen, dass dieselben Al-Schabaab-Kämpfer, die nach Zeugenaussagen Geld von verzweifelten Menschen in Todesangst ablehnten, sich später beim Juwelier noch schnell bereichern wollten, ehe sie ihre letzte Reise Richtung Paradies antraten.

 

Vielmehr deutet alles darauf hin, dass die von Präsident Kenyatta als so mutig und tapfer gepriesenen Soldaten zwischen kleineren Kampfhandlungen immer wieder längere Pausen einlegten, um ihr mageres Gehalt, für das man wohl nur ungerne das eigene Leben riskiert, etwas aufzubessern, schließlich hatte kurz nach Beginn des Angriffs auf das Einkaufzentrum außer den Sicherheitskräften niemand mehr Zutritt zum selbigen. Auch das Befehlschaos und die schlechte Abstimmung zwischen Polizei und Militär könnte einer der Gründe gewesen sein, weshalb dieser Angriff, bei dem es keine Hinweise auf eine Geiselnahme oder Verhandlungen irgendeiner Art gibt, so lange gedauert hat.

 

Viele Angehörige der Opfer fühlen sich von der Regierung Kenyatta im Stich gelassen

 

Wer aber wie der kenianischen Journalist John Allen-Namu derartige Erkenntnisse an die Öffentlichkeit bringt, wird von Regierungsseite schnell als Verräter diskreditiert, der den Ruf der kenianischen Sicherheitskräfte mutwillig in den Schmutz ziehe. Als am 24. September schließlich drei Stockwerke der Mall einstürzen, begruben die Trümmer alle vier auf den Videoaufnahmen zu sehenden Al-Schabaab-Kämpfer unter sich. Das Drama hat ein Ende.

 

Doch auch die Gründe für den Einsturz bleiben unklar. Die kenianische Regierung behauptet, die Terroristen hätten ein Matratzenlager in Brand gesteckt, um die Arbeit von Polizei und Militär zu behindern. Inzwischen deutet aber vieles darauf hin, dass es die Sicherheitskräfte selbst waren, die ein Teil des Gebäudes zum Einsturz brachten – wohl um davon abzulenken, dass einige Tresore in Juweliergeschäften geknackt wurden. Inzwischen identifiziert wurde der Kopf des Angriffstrupps: Hassan Abdi Dhuhulow, ein Somali mit norwegischem Pass.

 

Die Namen der anderen Angreifer sollen Omar Nabhan, Khattab al-Kene, und Umayr lauten. Es ist jedoch nicht klar, ob dies wirklich ihre Namen sind und ob es wirklich nur vier Angreifer waren, die an der Attacke auf Westgate beteiligt waren. Die damals 15-Jährige Raisah Viranah will mindestens 6 bewaffnetet Männer auf dem Parkdeck gesehen haben, und seitens des Innenministeriums hieß es, es seien mindestens fünf somalische Kämpfer während der Attacke getötet worden. Doch ihre Leichen sind bis heute nicht aufgetaucht.

 

Die Familien der 67 Opfer sind, soweit dies möglich ist, inzwischen wieder zur Tagesordnung übergangen, doch viele fühlen sich von der Regierung im Stich lassen. Zu viele Fragen sind immer noch ungeklärt, und auch der Heldenkult, der sich rund um die Polizei und Armee gebildet hat, wird von vielen nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen. Unter den Opfern des Terrorangriffes befand sich übrigens neben dem Neffen des Präsidenten auch der ghanaische Dichter Kofi Awoonor, der für das »Storymoja Hay Festival« angereist war und zum Zeitpunkt des Terrorangriffes gerade eine Vorlesung im Westgate gab.

Ein Teil seines Gedichtes »On Being Told of Torture« wurde am 27. Oktober 2013 in Bezug auf die Westgate-Tragödie in vielen kenianischen Zeitungen abgedruckt. Dort heißt es: »The space will be filled, in spite of the hurt, by the immensity of the love that will defy dying and death«.

Von: 
Nicolai Klotz

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