Lesezeit: 17 Minuten
Kinder von IS-Kämpfern aus Tunesien in Lagern in Syrien

Vergessen und weggesperrt

Reportage
von Amal Mekki
Kinder von IS-Kämpfern aus Tunesien in Lagern in Syrien
Foto: Amal Mekki

Offiziell will Tunesien die Kinder tunesischer IS-Kämpfer zurückholen. Doch weder die Behörden des nordafrikanischen Landes noch die Lager-Betreiber in Nordsyrien kümmern sich um die hunderten Kinder.

»Wenn ich morgens aufwache, steht mein Bett knietief im Wasser. Wir haben keine Schulranzen. Wir haben nicht einmal Schulen. Es gibt nicht genug zu essen. Ich kann dieses Zelt nicht mehr sehen. Ich will Fernsehschauen, ein Handy besitzen, überhaupt irgendetwas besitzen. Ich will in einem Haus mit echten Wänden leben.«

 

Maha wurde vor acht Jahren in Tunesien geboren. Als sie noch nicht einmal drei war, nahmen ihre Eltern sie mit in die Türkei – und dann in das Gebiet des so genannten Islamischen Staat (IS). Noch bevor Maha fünf wurde, fiel ihr Vater. Seitdem zog sie mit ihrer Mutter von einem »Gästezentrum« der Gruppe ins nächste. In diesen meist recht großen Häusern, von denen es eines in jeder IS-Region gab, wurden ausländische Frauen, Unverheiratete und Witwen untergebracht.

 

Am Ende landete Maha dann im Flüchtlingslager Al-Roj. Sie hat noch nie einen Kindergarten oder Schulhof gesehen. Sie kann nicht schreiben oder auch nur einen einzigen Satz in klassischem Arabisch formulieren. Ihre Französisch- und Englischkenntnisse beschränken sich auf wenige Zahlen und Buchstaben.

 

Mahas Mutter hat studiert und versucht, ihrer Tochter im Zelt heimlich einige Unterrichtsstunden zu geben – aber viel nutzt das nicht. Seit ihrer Inhaftierung besteht Mahas gesamte Welt nur aus dem Zelt. Diese kleine Zelle in einem Lager, das eher einem großen Freiluftgefängnis gleicht, ist ihr Zuhause, ihre Schule, ihr Spielplatz.

 

Während Maha vielleicht noch einige blasse Erinnerungen an Tunesien besitzt, kennen ihre Brüder, die beide in Syrien geboren wurden, ihre Heimat nur aus den Geschichten der Mutter. Obwohl Tunesien für die drei Kinder wie eine längst vergangene Erinnerung erscheint, oder wie ein Ort, der nur in der Vorstellung überhaupt existiert, reden sie von kaum etwas anderem. Immer wieder betonen die drei, wie sehr sie ihr »Zuhause« vermissen und dass sie unbedingt »zurück« wollen. Doch ebendieses Zuhause scheint ihre Gefühle nicht zu erwidern – Tunesien zögert seit Jahren, in Syrien gestrandete tunesische Kinder aufzunehmen.

 

Mindestens 104 tunesische Kinder leben in syrischen Lagern

 

Für diese Reportage begleite ich Maha sowie weitere tunesische Kinder, die in den Lagern für ehemalige IS-Kämpfer im Nordosten Syriens untergebracht sind, über einen Zeitraum von fünf Monaten. Die »Demokratischen Kräfte Syriens« (SDF) halten die Familien mutmaßlicher IS-Kämpfer in provisorischen Lagern fest. Unter den 14.000 Ausländern in diesen Lagern leben mindestens 104 Kinder aus Tunesien. Das Größte der syrischen Camps ist Al-Hawl im ölreichen Gouvernement Al-Hasakah.

 

Insgesamt sitzen etwa 200 tunesische Kinder im Ausland in Haft, der einzige Vorwurf: Sie sind Familienmitglieder von mutmaßlichen IS-Kämpfern. Die meisten werden in Syrien und Libyen festgehalten, einige auch im Irak. Laut eines Berichts von Human Rights Watch sind viele der inhaftierten Kinder jünger als sechs Jahre.

 

Seit März 2019 gilt der IS offiziell als besiegt. Und die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (NES), auch bekannt als Rojava, ruft die betroffenen Länder dazu auf, ihre Staatsbürger entweder endlich zurückzuholen oder wenigstens einen internationalen Gerichtsprozess auf die Beine zu stellen. Doch viele Länder wollen ihre Bürger nicht zurück – Tunesien anscheinend nicht einmal die Kinder.

 

Es ist Morgengrauen in Nordostsyrien. Hier kräht zwar nirgends ein Hahn, um den neuen Tag anzukündigen, aber Mufida legt trotzdem immer zur gleichen Zeit den Teig aufs Feuer. Beim Brotbacken bewegt sie sich vorsichtig, um den Schlaf ihrer Kinder nicht zu stören, denn die liegen direkt neben ihr im Zelt. Die junge Frau flüstert ein leises Gebet und bittet um Gottes Hilfe für den neuen Tag, bevor sie ihren Körper mit einem langen, wallenden Kopftuch verhüllt.

 

Wie auch die anderen Camps wurde Al-Roj aufgrund der Corona-Pandemie bis auf Weiteres für Besucher geschlossen. Mufida und all die anderen Frauen mit ihren Kindern haben keine Ahnung, wohin ihr Schicksal sie führen wird. Im Gespräch erzählt sie von heruntergekommenen Zelten, die ständig zusammenbrechen oder vom Abwasser des Lagers geflutet werden. Außerdem von weit entfernten Toiletten, die eigentlich immer überlaufen. Von wilden Hunden, die den Kindern Angst einjagen. Von Trinkwasser, das entweder verdreckt oder viel zu wenig vorhanden ist. Von Müllbergen an jeder Ecke. Von Krankheiten.

 

Nichts in diesem Lager hält die Hoffnung am Leben. Aber Mufida und Tausende andere sind immer noch entschlossen, weiterhin an diesem überfüllten Ort zu leben – in der Hoffnung, eines Tages nach Hause zurückkehren zu dürfen.

 

Jeden Tag motiviert Mufida sich aufs Neue, schon bei Tagesanbruch Brot zu backen, um es später auf dem Markt zu verkaufen. Sie verdient umgerechnet rund 1,70 Euro am Tag. Geld, mit dem sie hofft, ihre vier Kinder am Leben halten zu können. In ständiger Erwartung guter Nachrichten. »Unsere einzige Hoffnung ist, dass meine Kinder nach Hause dürfen. Hier gibt es kein Leben. Warum sollten meine Kinder für die Fehler bezahlen, die ihr Vater und ich gemacht haben?«

 

Seit ihrer Ankunft in Al-Roj sind drei Jahre vergangen. Ohne Anklage oder Gerichtsverfahren wurde Mufida mit ihrer Familie eingesperrt. Im Camp haben ihre Kinder keine Rechte – sie wachsen ohne Schutz, Betreuung oder Bildung auf. Diejenigen, die in Syrien geboren wurden, erhalten nicht einmal die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes.

 

»Eine solche unbefristete Inhaftierung ohne Anklage ist eine Form der Kollektivstrafe, die das Völkerrecht verbietet«, sagt Letta Tayler. Die Terrorismus-Expertin von Human Rights Watch fordert, dass Kinder nicht für die Verbrechen ihrer Eltern bestraft werden. Und auch Kinder, die beim IS selbst Verbrechen begangen haben, sollten nur als allerletztes Mittel inhaftiert werden. Sie betont, dass Kinder im Umfeld bewaffneter Gruppen, auch wenn sie selbst Mitglieder waren, in erster Linie als Opfer gesehen werden müssen.

 

»Laut internationalem Recht müssten die Länder außerdem garantieren, dass staatenlose Kinder so schnell wie nur irgend möglich eine Staatsbürgerschaft erhalten, auch wenn sie im Ausland leben. Es müssten Programme zur Rehabilitation und Reintegration aufgesetzt werden – bisher kann davon in den Lagern jedoch nicht die Rede sein« so Tayler. Und selbst wenn es solche Programme gäbe: Eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft scheint in Wüstencamps, Tausende Kilometer von den Heimatländern der Kinder entfernt, keine realistische Aussicht zu sein.

 

Außerdem gibt die Wissenschaftlerin zu bedenken, dass das internationale Recht großen Wert auf die Einheit der Familie legt. Eine Rückführung der Kinder ohne ihre Eltern wäre demnach rechtlich fragwürdig, solange eine Trennung nicht im eindeutigen Interesse der Kinder liegt.

 

»Die aktuelle Situation ist unethisch, illegal und menschenunwürdig«

 

Aber das Problem liegt nicht nur in der unbefristeten Inhaftierung von Kindern, die unter der Herrschaft des IS bereits unvorstellbares Grauen durchleben mussten. Auch Erwachsene werden in diesen Lagern ohne Anklage festgehalten – selbst, wenn es sich um potenzielle Kriegsverbrecher handelt, steht ihnen das Recht auf einen ordentlichen Gerichtsprozess zu. Da in den Camps keine Aussicht auf solche Prozesse besteht, ist eine Rückkehr in die entsprechenden Heimatländer die einzige Option, die mit dem internationalen Recht vereinbar ist. »Die gegenwärtige Situation ist unethisch, illegal und menschenunwürdig«, sagt HRW-Expertin Tayler.

 

Die NGO »Beobachtungsstelle für Rechte und Freiheiten in Tunesien« startete bereits vor vielen Jahren eine landesweite Kampagne unter dem Slogan: »Ich habe ein Recht auf Rückkehr«. Ihr Direktor Marwan Jeddah fordert, dass die Rückführung der in den Lagern eingesperrten Kinder endlich vorangetrieben wird. Die globale Pandemie hat die Lage dabei noch verschärft: Corona macht die Beobachtung der Menschenrechtssituation in den Camps durch internationale Organisationen unmöglich. Das erhöht das Risiko, dass Kinder Folter, Missbrauch und sexueller Gewalt ausgesetzt sind.

 

»Gefahren lauern für die Kinder sowohl innerhalb als auch außerhalb des Lagers«, sagt Jeddah. Besonders besorgt ist er um diejenigen Kinder, die im Oktober 2019 der türkischen Bombardierung des Lagers Ain Issa im Norden Raqqas entkommen konnten: »Wenn sie die türkische Grenze nicht erfolgreich erreicht haben, besteht die Gefahr, dass die Terroristen sie verschleppen und dann als menschliche Schutzschilde einsetzen oder als Sklaven verkaufen.«

 

Mufida ist Mitte 30. Sie betritt ihr Stoffzelt und nimmt die Gesichtsmaske ab, die sie selbst aus einer alten Hose gefertigt hat. »Draußen sind die Masken teuer. Deshalb nutzen wir die Hosen, die uns die Lagerleitung letzten Winter gegeben hat, um uns einen Mundnasenschutz zu basteln. Andere Möglichkeiten haben wir nicht.«

 

Im Sommer liegen die Temperaturen in Al-Roj bei fast 40 Grad. Das Lager ist überfüllt. Niemand darf herein oder hinaus. Wasser ist knapp. Viele Grundnahrungsmittel sind nicht mehr verfügbar.

 

Die Kommunikation mit Mufida war schwierig. Telefone sind im Lager verboten. Mufida konnte nur heimlich und in unregelmäßigen Abständen mit uns sprechen. Die gelernte Journalistin muss außer sich selbst noch vier weitere Münder füllen. Vor Corona grassierten bereits andere Gesundheitsprobleme: Unterernährung, Durchfall, Herzversagen, Anämie, um nur einige zu nennen. Und jetzt leiden die Menschen auch noch unter Bewegungseinschränkungen und Isolationsmaßnahmen.

 

Das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte bei der UN hat deshalb die Regierungen von »Drittstaatsangehörigen« dazu aufgerufen, ihren in syrischen Lagern gestrandeten Staatsbürgern zu helfen. Und die International Crisis Group warnt vor großflächigen Corona-Ausbrüchen in den Lagern: »Sollte dieses Virus Orte wie Al-Hawl erreichen, könnten wir uns in einer Situation wiederfinden, in der wir den Menschen nur noch beim Sterben zusehen.«

 

Keine Chance auf Bildung

 

Viele der Fundamentalisten, die in Al-Hawl eingesperrt sind, leben auch im Camp weiterhin die Kultur der IS-Herrschaft. Und das trotz der Präsenz der Asayish – einer kurdischen Sicherheitsorganisation, die das Lager überwacht – und obwohl alle unter ständiger Überwachung der SDF stehen. Einige Frauen im Camp haben eine islamistische Polizeitruppe namens Al-Hisbah gegründet, der ein Schmuggelnetzwerk nach draußen sowie diverse gewalttätige Zwischenfälle zugeschrieben werden. Die selbsternannten Patrouillen überwachen, wie andere Frauen sich kleiden und wie sie sich im Alltag verhalten – Verstöße gegen die IS-Doktrin werden hart bestraft.

 

Im extremistischen Teil von Al-Hawl, dort wo Al-Hisbah herrscht, hört man regelmäßig Begriffe aus dem dschihadistische Repertoire – Enthauptung, Ungläubige, Invasion, Rache und natürlich Kalifat. Viele der tunesischen Frauen werden bedroht und eingeschüchtert – einigen wurden sogar die Zelte niedergebrannt, weil sie es wagten, den IS zu kritisieren.

 

Schätzungen zufolge leben 57 tunesische Kinder in Al-Hawl. Nach langer Wartezeit gelang es, eine Erlaubnis zu erhalten, das Lager zu betreten. Am Tag des Besuchs stellten wir dann überrascht fest, dass uns verboten wurde, die Zone X-1 zu betreten, in der die meisten Zelte der tunesischen Familien stehen. Daher konnten wir nur zwei Frauen treffen, die von der Lagerleitung in ein Büro gebracht wurden. Eine der beiden wollte nicht interviewt werden.

 

Die andere, Marwa, hielt ihre kleine Tochter auf dem Arm, während sie vor der Kamera saß. Hinter ihrem Gesichtsschleier erzählte sie von ihrem Wunsch, nach Tunesien zurückkehren und ihrem Kind eine bessere Zukunft ermöglichen zu können. Genau genommen ist Marwa selbst noch ein Kind – sie ist noch nicht volljährig. Mit ihrem tunesischen Vater und ihrer marokkanischen Mutter kam sie nach Syrien und wurde mit einem Tunesier verheiratet. »Im Staat«, wie sie die Zeit der IS-Herrschaft nennt, ließ sich ihr Mann dann von ihr scheiden.

 

Marwa brach die Schule schon während ihrer Grundschulzeit ab. Und ihre Tochter, die mit großen schwarzen Augen in die Kamera starrt, hat in ihrem Leben noch keine einzige Unterrichtsstunde erhalten. »Kinder lieben es zu lernen, aber wer soll sie hier unterrichten?«

 

»Ich will zurück nach Tunesien, um zu lernen«

 

Im Al-Hawl-Camp wurde die letzte Schule längst geschlossen. Die einzigen Bücher, die Mufidas Kindern zur Verfügung stehen, kommen von einer der Hilfsorganisationen, die vor der Pandemie ab und zu das Lager besuchten. Die Tunesierin versucht, ihre vier Kinder heimlich im Zelt zu unterrichten. Mit mehr als ein paar Zahlen und den Buchstaben des arabischen und englischen Alphabets kann sie allerdings nicht dienen. Ständig hat sie Angst, dass die Lagerleitung davon erfährt. Im Gespräch berichtet Mufida, dass Mütter, die dabei entdeckt werden, wie sie ihre Kinder allein unterrichten, bestraft werden – und sogar im Gefängnis landen können.

 

In einer der Sprachnotizen, die Mufida aus dem Lager gesendet hat, spricht auch ihr jüngster Sohn. Im fehlerfreien tunesischen Akzent beklagt er: »Wir sind immer allein. Wir haben keine Spielzeuge und keine Familie.« Und: »Ich will zurück nach Tunesien, um zu lernen.«

 

Bildung ist ein Menschenrecht, Teil der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in mehreren internationalen Menschenrechtsverträgen fest verankert. »Inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern« – so heißt das vierte der 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030, die im Dezember 2015 offiziell von den Vereinten Nationen in New York verabschiedet wurde.

 

Das Recht auf Bildung stellt außerdem den Kern der UNESCO-Ziele dar. Die Organisation versteht eine gute, umfassende, inklusive, gleichberechtige und faire Bildung als Instrument im Kampf gegen Extremismus – sie soll junge Menschen davon abhalten, sich terroristischen Gruppen anzuschließen. Denn offenbar reichen militärische Antworten auf Extremismus und Terrorismus nicht aus.

 

Genau wie Mufida stehen viele nicht-extremistische Mütter in den Camps vor immensen Herausforderungen, wenn sie ihre Kinder davor bewahren wollen, von der Ideologie des IS beeinflusst zu werden. Die fehlende Bildung und ständige Verzögerungen bei Rückführungen in ihre jeweiligen Heimatländer treiben mehr und mehr Kinder in die Arme der extremistischen Dogmen. Wenn keine adäquaten Wiedereingliederungsprogramme aufgesetzt werden, könnte in diesen Lagern in Syrien so die nächste IS-Generation heranwachsen.

 

Marwan Jeddah berichtet von einer tunesischen Großmutter, die ihren Enkel in einem der Gefangenenlager in Libyen besuchte. »Sie brachte ihm ein Stück Kuchen mit, in das er zu ihrem großen Entsetzen direkt hineinbiss – ohne die Plastikfolie zu entfernen. Er hatte noch nie zuvor in seinem Leben ein Stück Kuchen gesehen. Manche dieser Kinder in den Zelten träumen davon, eine Wand zu sehen. In ihrem ganzen Leben haben sie nichts anderes als Plastikplanen zu Gesicht bekommen.«

 

»Opa, bitte bring mich zurück nach Tunesien«

 

Zurück in Tunesien. Am Konferenztisch im Bürogebäude einer NGO sitzt Fathia. Sie ist in ihren Fünfzigern und trägt schwarz. Das locker anliegende Kleid kann ihre Zerbrechlichkeit nicht verbergen. Vom Weinen sind ihre Augen ausgetrocknet. Fathia leidet seit Jahren.

 

Alles begann, als Fathias Tochter gemeinsam mit ihrem Ehemann nach Syrien reiste, um sich dem IS anzuschließen. Erst fiel der Mann, dann die Tochter. Sie hinterließen zwei Kinder, die nun allein in einem der Lager in Nordostsyrien aufwachsen. Das Mädchen war gerade 20 Tage alt, als sie mit den Eltern nach Syrien reiste. Heute ist sie sieben. Ihr jüngerer Bruder wurde in Syrien geboren. Er wird bald fünf.

 

Vor etwa zwei Jahren versuchte Fathia an jede nur erdenkliche Tür zu klopfen, die sie finden konnte – sie appellierte an die Behörden, ihre Enkelkinder zurückzuholen. Und bekam keine Antwort.

 

Die beiden Waisen werden von einem Lager ins nächste gesteckt, jedes Mal kümmert sich eine andere Frau um sie. »Im Leben der Kinder findet sich nicht einmal ein Hauch von Stabilität. Sie leiden unter der Kälte des Winters und unter der Hitze des Sommers. Sie sind immer hungrig«, berichtet die Frau. Fathia erstickt beinahe an ihren eigenen Worten. Sie weint. Ihre Enkelkinder müssten im Müll nach Essen suchen, erzählt sie.

 

Im Gespräch versichert Fathia mehrmals, dass sie dafür wäre, ihre Tochter und ihren Schwiegersohn vor Gericht zu stellen, wenn sie noch am Leben wären. Sie verstehe allerdings nicht, warum ihre Enkelkinder für die Fehler ihrer Eltern bezahlen müssen. Eines Tages erhielt Fathias Mann eine Sprachnachricht seiner Enkelin: »Opa, bitte bring mich zurück nach Tunesien. Ich will bei dir leben.« Diese Worte suchen Fathia Tag für Tag heim. Alles, was sie sich im Leben noch wünscht, ist, dass ihre Enkelkinder nach Tunesien zurückkehren und bei ihr aufwachsen dürfen.

 

Fathia ist nicht die einzige Tunesierin, die an diesem Tag von ihrem Schicksal berichtet – eine ganze Reihe von Verwandten inhaftierter Kinder wollte mit uns, den Journalisten, sprechen. Sie kommen aus unterschiedlichen Provinzen in Tunesien, doch inzwischen kennen sie sich. Jahre der Demonstrationen und viele Treffen in den Wartebereichen der Regierungsgebäude verbinden.

 

Eine von ihnen ist Delila. Sie ist etwa 60 Jahre alt. Ihr 14-jähriger verwaister Neffe sitzt in einem der SDF-Gefängnisse. Ein anderer ist Hamzah, der bereits auf die 80 zugeht. Er hat den Kontakt zu seinem Sohn, seiner Tochter und den Enkeln verloren, als diese 2019 dem türkischen Bombardement von Ain Issa entkommen konnten. Wir treffen auch Zahra. Ihr Vater, ihr Mann und ihr Sohn sind als einzige in Tunesien geblieben. Der Rest ihrer Familie – die Mutter und alle Geschwister – haben sich auf den Weg nach Syrien gemacht. Zahra hat inzwischen 14 Verwandte dort, sechs davon sind Kinder.

 

Rafiqa ist Mitte 60. Der Krebs hat sie sichtlich gezeichnet. Ihre Tochter verließ Tunesien nach ihrer Hochzeit im Jahr 2014. In Syrien hat sie eine Hand verloren und schwere Verletzungen durch Schrapnellsplitter an den Beinen, ihrem Rücken und am Kopf erlitten. Sie ist gelähmt. Seit dem Tod ihres Mannes kann sie sich nicht einmal selbst versorgen. Rafiqa wünscht sich, dass die Behörden ihr ihre Tochter wiederbringen.

 

»Die Kinder können sowieso nicht für immer in den Lagern bleiben«

 

Nach der Revolution von 2011 zog es Tausende Tunesier in das, was die Behörden Konfliktherde nennen. Viele wurden Mitglieder beim IS oder schlossen sich anderen militanten Gruppen an. Tunesische Regierungszahlen sprechen von insgesamt 3.000, das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte von mehr als 7.000. Obwohl sich einige Frauen auch aus freien Stücken solchen Terrororganisationen anschlossen, behaupten die meisten von ihnen, lediglich mit ihren Ehemännern oder aus Angst, die Kinder zu verlieren, mitgefahren zu sein.

 

Die Verwandten der in den Lagern gefangenen Tunesier kennen das Leid des Wartens, während die Behörden alle Briefe und Bitten ignorieren. Gemeinsam ist ihnen außerdem die Überzeugung, dass Kinder in Begleitung ihrer Mütter zurückkehren sollten, wobei die meisten die Mütter einem Gerichtsprozess unterziehen würden – der Tenor: »Möge Gott den Verantwortlichen verzeihen.«

 

»Die Politik tendiert dazu, das Thema zu verschweigen und den Kindern sowie ihren Müttern die Heimkehr zu verweigern. Selbst wenn die Betroffenen dadurch ständiger Gefahr ausgesetzt sind: Die Behörden wollen sie irgendwie loswerden«, meint einer der Verwandten, der lieber anonym bleiben möchte. »Dabei wären wir heute nicht in dieser Situation, wenn nicht Leute in Machtpositionen den Jugendlichen die Reisen in solche Spannungsherde überhaupt erst ermöglicht hätten.«

 

»Das Paradoxe ist, dass die Väter aus Syrien abgeschoben wurden und wieder in Tunesien gelandet sind, während die Kinder immer noch dort ausharren müssen«, kommentiert Marwan Jeddah von der tunesischen NGO »Beobachtungsstelle für Rechte und Freiheiten« und meint: »Sicherheitsargumente werden bedeutungslos, wenn die Kämpfer zurückgeholt werden, die doch in jeder Hinsicht gefährlicher sind.«

 

Die Untätigkeit der tunesischen Behörden, wenn es an die Rückführung inhaftierter Kinder geht, führt er auf fehlenden politischen Mut zurück. Und auf ein mangelndes Bewusstsein für die Gefahren, die das Lagerleben mit sich bringt. »Früher oder später werden diese Kinder zurückkehren. Sie können nicht für immer in den Lagern bleiben. Aber je früher, desto besser sind die Chancen für den Staat, sie wieder in die Gesellschaft integrieren zu können.« Jeddah ist überzeugt, dass »die Kinder entweder auf legalem oder auf illegalem Weg zurückkommen werden. Aber die Verzögerungen haben gefährliche Auswirkungen auf die tunesische und die internationale Sicherheit.«

 

Schon Anfang 2019 beklagte Human Rights Watch, dass tunesische Offizielle sich bei der Rückholung der Kinder, die ohne Anklage im Ausland festgehalten werden, viel zu viel Zeit lassen würden. An diesen Umständen habe sich bis heute nichts geändert, so Letta Tayler. »Seit unserem Bericht 2019 wurde zwar wieder eine kleine Gruppe Kinder aus Libyen zurückgeholt, aber das war nur eine symbolische Geste. Die Regierung muss endlich handeln. Im Anbetracht der schrecklichen Bedingungen in Nordostsyrien und Libyen sind Rückholungsaktionen die einzige Option.«

 

In einer Antwort auf die Anschuldigungen seitens Human Rights Watch antwortete das tunesische Außenministerium: »In Übereinstimmung mit unserem unerschütterlichen Glauben an Menschenrechte schenken wir den Fällen inhaftierter Kinder besondere Beachtung. Die Regierung wird sich nicht weigern, Gefangene mit nachweisbar tunesischer Staatsbürgerschaft aufzunehmen.«

 

Der ehemalige Außenminister Tunesiens, Khemaies Jhinaoui, erklärte während einer Parlamentssitzung am 28. November 2018, dass die tunesische Regierung sich weiterhin um eine Lösung für die inhaftierten Kinder in Libyen und Syrien bemühe. Er betonte dabei auch, dass sein Ministerium in diesem Kontext in täglichem Kontakt mit den syrischen Behörden stehe.

 

Die betroffenen Lager mit tunesischen Kindern befinden sich jedoch in Gebieten, die von den SDF kontrolliert werden, nicht der syrischen Regierung. Und Abir Alia, eine der Vizepräsidentinnen der Abteilung für Auswärtige Beziehungen eben dieser Autonomen Verwaltung, meint: »Als Voraussetzung, um ein Kind in ein anderes Land zu schicken, brauchen wir formelle Dokumente des entsprechenden Außenministeriums. Wir übergeben Kinder nur an offizielle Vertretungen anderer Staaten oder offiziell von diesen beauftragte Agenturen.«

 

Alia betont, dass die tunesische Regierung bezüglich der inhaftierten Kinder nie in Kommunikation mit der Verwaltung in Nord- und Ostsyrien getreten sei. Es gebe auch keinerlei Anzeichen dafür, dass sich das bald ändern könnte. Nachfragen an die tunesischen Behörden und eine Reaktion auf Alias Aussagen blieben unbeantwortet.

 

Diese Recherche entstand im Rahmen des Candid-Journalism-Grant 2020.

Von: 
Amal Mekki

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