Die Elektro-Musiker von Checkpoint 303 über politischen Aktivismus, Untergrundkultur und Copyright – und das steigende Interesse an Künstlern aus Nahost.
zenith: Sie haben Ihre Band nach dem berüchtigten Checkpoint 303 nahe Bethlehem benannt – ist das ein Ort, mit dem jeder Ihrer Fans etwas verbindet, gleich ich welchem Land der Region er lebt?
Checkpoint 303: Als wir das Projekt starteten, lebte unser »Soundcatcher« SC Yosh in Bethlehem, also musste er besagten Checkpoint nahezu täglich passieren. Für uns war das eine Inspiration, einen virtuellen, künstlerischen Checkpoint zu errichten, hinter dem DJs, VJs oder Videokünstler ihre Kreativität ausleben können. Es ist eine Plattform für Leute mit einer Message. Die ist am Ende sicherlich auch politisch, die Initiative selbst ist es jedoch nicht. Checkpoint 303 geht es vielmehr darum, Leben in einer Diktatur abzubilden und zu reflektieren.
Sollen die Audioschnipsel vom Straßenverkehr oder von Schießereien und die Sprachsamples von Politikern, die Sie verwenden, der Musik einen quasi dokumentarischen Charakter verleihen?
Wir nutzen Alltagsgeräusche, die wir zusammenschneiden und verändern, um einen Soundtrack des täglichen Lebens zu schaffen. Es geht uns dabei nicht um Schockeffekte. Wenn etwas Schlimmes passiert, agieren wir anders als die Medien und müssen nicht auf jede Sensation reagieren. Neben aller Frustration kommen darin auch hoffnungsvolle Momente vor. So schlagen wir eine Brücke auch zu Hörern in Deutschland, die wahrscheinlich die gleichen Träume und Ängste haben: Schaffe ich meine Prüfungen? Finde ich einen Job?
Checkpoint 303
wurde 2004 vom Tunesier SC Mocha und dem Palästinenser SC Yosh ins Leben gerufen und hat sich als Kreativkollektiv für elektronische Musik im Nahen Osten einen Namen gemacht. 2012 erschien ihre dritte EP mit dem Titel »Sidi Bouzid Syndrome«.
www.checkpoint303.com
Nein, das beunruhigt uns nicht. Wann immer wir Gigs in Clubs oder besetzten Häusern spielen, tanzen Leute zu unserer Musik. Es ist okay, wenn die meisten nicht verstehen, worum es in dem Lied geht. Aber fünf bis zehn Prozent entdecken orientalische Melodien im Song und möchten mehr darüber herausfinden. Verglichen mit den null Prozent, die vorher über Palästina nachdachten, ist das schon ein Fortschritt. In einem Lied haben wir Zitate des palästinensischen Intellektuellen Edward Said mit der berühmten UN-Rede Che Guevaras kombiniert. Das regt zum Nachdenken an.
Checkpoint 303 arbeitet als Kollektiv mit Mitgliedern in vielen Staaten der Region. Wie gestalten sich die Arbeitsprozesse in solch einer Band?
Der Kompositionsprozess wird durch das Internet einfacher, nicht komplizierter. Er ist viel unmittelbarer, man tauscht Dateien aus, arbeitet parallel an diversen Entwürfen. So kann ich Oud-Parts aufnehmen, während die anderen an Klavier-, oder Bassarrangements arbeiten. Anschließend versenden wir E-Mails mit unseren Entwürfen. Alles digital, Nullen und Einsen. Es ist einfach keine Alternative, dass wir uns jedes mal treffen.
Bei all den unterschiedlichen Themen, die Sie behandeln – wie schwer ist es, angesichts so komplexer Vorgänge während des Arabischen Frühlings eine gemeinsame inhaltliche Grundlage zu behalten? Streiten Sie sich mit ihren Bandkollegen oft über Politik?
Die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, diese Mitglieder jugendlicher Subkulturen, sind alle auf einer Wellenlänge und die Vorkommnisse in Ägypten, Tunesien oder Syrien bringen uns noch mehr zusammen. Es ist unbändige Freude, die wir für Ägypten und Tunesien empfinden, obgleich die wahre Revolution in beiden Staaten noch bevorsteht. Das Wirtschaftssystem lässt sich nicht an einem Tag reformieren, aber Optimismus ist angebracht.
Nehmen Künstler in dieser neuen Gesellschaft eine besondere Rolle ein?
Die gleiche Verantwortung wie jeder andere Bürger auch. Nur weil ich elektronische Musik komponiere, kommt mir keine Sonderrolle zu. Jeder muss sicherstellen, dass die Revolution in die richtige Richtung geht.
Finden Künstler gerade die richtigen Antworten auf diese Herausforderung? Wie bewerten Sie die Arbeit der »großen« Intellektuellen?
Die Arbeit aller Künstler gutzuheißen, würde mir schwer fallen. Sie zu kritisieren, steht mir aber nicht zu. Als wir vor einem Monat in Ägypten spielten, ist mir ein Umstand aufgefallen: Musik, die zuvor unbekannt und Teil einer Untergrundkultur war, wurde nun von Radiostationen gespielt. Es gibt ein großes Verlangen nach HipHop- und Rock-Künstlern. Im medialen Mainstream Ägyptens und Tunesiens gibt es jetzt deutlich mehr Raum für diese Musik. Viele der Bands, die jetzt wegen ihrer Kritik am Zensursystem populär sind, haben auch schon vorher Alben produziert – ohne, dass jemand Kenntnis davon genommen hätte. Jetzt ist schlechte Aufnahmequalität kein Ausschlusskriterium mehr, um gespielt zu werden.
»Das digitale Teilen von Musik ist im Nahen Osten deutlich etablierter«
Sie betonten bereits, wie wichtig für Sie die Veröffentlichung aller Musik unter einer Creative Commons-Lizenz ist. Hat das Internet nicht nur für die politischen, sondern bald auch für die kulturellen Revolutionen eine Grundlage gebildet?
Ich würde nicht von einer zweiten Revolution sprechen. Das digitale Teilen von Musik ist im Nahen Osten deutlich etablierter als es vielleicht in Deutschland ist. Copyright-Gesetze sind größtenteils nicht vorhanden und Creative Commons bieten da einen legalen juristischen Rahmen. Dass das Thema in Europa vielleicht für mehr Wirbel sorgt, liegt am harten Kontrast zum etablierten Rechtssystem. Wenn ich heute Menschen im Nahen Osten erkläre, dass ihnen die Creative Commons erlauben, Musik im Internet herunterzuladen, erwidern sie: »Das mach ich doch schon seit zehn Jahren!«
Checkpoint 303 hat bereits 2007 als Vorband der britischen Gruppe Massive Attack gespielt. Andere arabische Künstler brechen jetzt zu Europatourneen auf. Spüren Sie ein steigendes Interesse an Künstlern aus Nahost, oder wird die Nachfrage mit Ende der Revolutionen verebben?
Das ist eine positive wie auch negative Entwicklung. Durch den Arabischen Frühling steigt das Medieninteresse an allen Kunstformen der arabischen Welt. Wenn jemand eine Ausstellung in Berlin organisiert, dann sucht er sich fünf Maler aus Tunesien und die Menschen kommen zu seiner Veranstaltung. Das Thema ist cool. Das kann auch eine gefährliche Entwicklung sein, wenn sich die Leute nämlich nicht für deine Kunst, sondern nur für deine Herkunft interessieren. Es zählt nicht, wie gut der Künstler ist. Auch Podiumsdiskussionen, bei denen Künstler auftreten, haben einen kritischen Aspekt: Der Austausch ist zunächst gut und sollte gefördert werden. Gleichzeitig beschreibt aber jeder Anwesende nur seine persönlichen Erfahrungen – ein anderer Künstler aus dem gleichen Land kann eine völlig andere Wahrnehmung haben. Wir dürfen aus Musikern keine Botschafter machen.
Was können wir von der elektronischen Musik des Nahen Ostens in den nächsten Jahren erwarten?
Kunst, die nur Vorhandenes kopiert, hat keine Wirkung. Detroit Techno ist Detroit Techno, genauso wie New Orleans Blues und Minimal Techno aus Berlin einzigartig sind. Für Checkpoint 303 ging es immer darum, eine gewisse Ästhetik mit unseren Songs und Videos zu verfolgen. Ich bringe meine Vorliebe für Breakbeat, Drum'n'Bass und teils auch Noise in das Kollektiv ein und das kombinieren wir mit Audiosamples und Tonaufnahmen, deren Klang uns zusagt. Nimmt man dann noch meine Oud-Melodien hinzu, dann bewegen wir uns irgendwo zwischen den Genres. Was die anderen Länder betrifft: Ich habe einiges an spannendem HipHop aus dem Senegal gehört. Da entstehen aus Rap, Darbuka und Kora völlig neue Untergenres. Es ist, als wolle man Jazz mit orientalischer Musik kombinieren. Der hundertste Musiker aber, der Ambient-Klänge mit indischer Sitar unterlegt und zwei Frauen im Hintergrund singen lässt, hat damit vielleicht einen Sommer Erfolg – danach ist er vergessen. Für neue Musik ist Authentizität die Bedingung.