Die jüngsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts in Ägypten sind nicht nur lückenhaft und vage. Viel beunruhigender ist, wie offen sich die Justiz in die Politik einmischt, meint der Verfassungsrechtler Naseef Naeem.
Nun ist es amtlich, das ägyptische Verfassungsgericht hat am 14. Juni 2012 das Parlamentswahlgesetz für verfassungswidrig und infolgedessen die Wahlen für ungültig erklärt. Daraus ergebe sich, so das Gericht in seiner Begründung, dass die Existenz des Parlaments mit Datum des Urteils nichtig und kraft des Rechts sofort ohne Bedarf einer anderen Maßnahme oder Entscheidung aufzulösen sei.
Jedoch seien alle vom Parlament getroffenen Maßnahmen und erlassenen Gesetze nach Auffassung des Gerichts rechtens und blieben in Kraft, solange sie nicht in Einzelverfahren für verfassungswidrig erklärt worden seien. Die erste Frage, die sich angesichts dieser Begründung stellt, ist, welche Verfassung gemeint ist, da die ägyptische Verfassung von 1971 am 13. Februar 2011 außer Kraft gesetzt wurde.
Tatsächlich gemeint ist die Übergangsverfassung, die unter dem Titel »Verfassungsrechtliche Erklärung« vom Militärrat am 30. März 2011 verkündet wurde. Denn das Gericht begründet sein Urteil mit dem Verstoß des Wahlgesetzes gegen Art. 38 Satz 1 der Übergangsverfassung, der wörtlich festlegt: »Das Gesetz regelt das Recht der Kandidatur zur Mitgliedschaft des Volks- und Beratungsrates [das sind die beiden Parlamentskammern] und ist damit frei, ein Wahlsystem zu bestimmen.
Das Gesetz darf eine Mindestquote der Frauenbeteiligung an beiden Parlamentskammern festlegen.« Diese Bestimmung wurde seitens des Militärrates in der verfassungsrechtlichen Erklärung vom 25. September 2011 geändert und so neu formuliert: »Das Gesetz regelt das Recht der Kandidatur zur Mitgliedschaft des Volks- und Beratungsrates und bestimmt damit ein gemischtes Wahlsystem, welches zu zwei Dritteln auf geschlossenen Parteienlisten und zu einem Drittel auf individuellen Kandidaten basiert.«
Von dieser Formulierung leitet das Gericht ab, dass sich Parteiangehörige ausschließlich in den geschlossenen Parteienlisten zur Wahl hätten aufstellen dürfen und ein Drittel der Sitze damit ausschließlich für Parteilose vorgesehen gewesen sei. Die Haltung des Gesetzgebers, der den Parteiangehörigen gemäß Wahlgesetz und seinen Änderungen (Gesetz Nr. 38/1972, Dekrete mit Gesetzkraft Nr. 108, 120, 123/2011) erlaubte, sich auch auf dieses Drittel der Sitze zur Wahl aufzustellen, sei, so das Gericht weiter, verfassungswidrig.
Denn dadurch würden Parteienlose ganz oder teilweise ihrer vom Übergangsverfassungsgeber eingeräumten Rechte beraubt, ein Drittel der Sitze in beiden Parlamentskammern zu besetzen.
Das Gericht baut sein Urteil auf eine Vermutung
Zwar ist nicht zu bestreiten, dass die Urteilsbegründung des Verfassungsgerichts vertretbar ist, jedoch davon eine Verfassungswidrigkeit des gesamten Wahlsystems und infolgedessen ein Auflösungsgebot beider Parlamentskammern abzuleiten, erscheint aus meiner Sicht nicht nur in verfassungsvergleichender Hinsicht, etwa mit Blick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2008 bezüglich des negativen Stimmgewichts, zweifelhaft.
Denn das Gericht rechtfertigt seine Haltung dadurch, dass die vom Gesetzgeber zugunsten der Parteien eröffnete Möglichkeit der Aufstellung ihrer Kandidaten in Listen oder individuell zu Auswirkungen auf die Ordnungspolitik der Listen bei der jeweiligen Partei und damit auf die gesamte Zusammensetzung beider Parlamentskammern geführt habe. Die Parteien hätten sich
bei der Erstellung ihrer Listen anders verhalten müssen, wenn es die Möglichkeit zur individuellen Aufstellung ihrer Kandidaten nicht gegeben hätte. Diese Begründung kann man als politische Begründung bezeichnen, nicht zuletzt, weil das Gericht für seine Annahme einer möglichen Veränderung der Parteienliste keinen Nachweis liefert.
Das Gericht baut also sein Urteil nicht auf Fakten und Tatsachen, sondern vielmehr auf eine Vermutung und mischt sich damit eindeutig in die Politik, oder besser gesagt, in die Parteipolitik, ein. Damit stellt dieses Urteil insofern nur die Spitze des Eisberges dar, als sich die ägyptische Justiz seit Beginn des neuen staatsrechtlichen Gestaltungsprozesses kräftig in die Szene gesetzt hat.
Gut ein Monat nach dem Rücktritt des Staatspräsidenten bestätigte etwa das Oberverwaltungsgericht am 17. März 2011 die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Kairo, dass die Verwaltungsgerichte nicht dafür zuständig seien, die Entscheidung des Militärrates zur Abhaltung eines Referendums über die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen zu prüfen. Das Gericht hat in der Begründung seines Urteils einiges festgelegt, was Juristen zum Staunen bringt.
Warum sind die Erlasse des Militärrates keine verwaltungsrechtlichen Entscheidungen?
Dazu gehört, dass die Außerkraftsetzung der alten ägyptischen Verfassung seitens des Militärrates in seiner Erklärung vom 13. November 2011 nur »provisorisch« sei. Diese bedeute nach Auffassung des Gerichts nicht die völlige Aufhebung der Verfassung und beziehe sich ausschließlich auf den staatsorganisatorischen Teil des Verfassungsdokuments.
Der mit den Grundrechten zusammenhängende Teil hingegen sei, so das Gericht weiter, insoweit nicht berührt, als der Militärrat neben der Außerkraftsetzung der Verfassung nur die Organe der Legislative und Exekutive, nicht aber die der Rechtsprechung aufgelöst habe. Das Gericht führte weiter aus, dass der Militärrat die Grundrechte und -freiheiten nicht außer Kraft setzen dürfe. Denn nach Auffassung des Gerichts leite der Militärrat die Legitimation aller seiner Handlungen vom Willen des Volks ab, welches ausschließlich den Abgang des Staatspräsidenten, nicht jedoch die Absetzung der Grundrechtsordnung anstrebte.
Damit ignorierte das Gericht den Wortlaut der verfassungsrechtlichen Erklärung des Militärrates, in der ausdrücklich die gesamte Verfassung außer Kraft gesetzt wurde und nicht nur einige staatsorganisatorische Aspekte, wie das Gericht meinte. Zudem legalisiert das Gericht die Eroberung der Macht seitens des Militärrates, welche an sich im Hinblick auf die alte ägyptische Verfassung einen außerverfassungsrechtlichen Charakter aufwies.
Außerdem verbleibt im methodischen Dunkel, wie das Gericht die Willensäußerung des Volkes herausfand. Zu guter Letzt überging das Gericht die Frage, warum Entscheidungen des Militärrates keine verwaltungsrechtlichen Entscheidungen sind, obgleich dieser Rat faktisch das höchste administrative Organ der Streitkräfte ist. In seiner Entscheidung vom 10. April 2012 hat sich das Verwaltungsgericht Kairo sogar erlaubt, die Entscheidung des Parlamentspräsidenten zur Gründung der verfassungsgebenden Versammlung mit dem Argument aufzuheben, dass kein Parlamentarier in dieser Versammlung hätte gewählt werden dürfen.
Denn Art. 60 der Übergangsverfassung über die Wahl der verfassungsgebenden Versammlung in einer gemeinsamen Sitzung beider Parlamentskammern enthalte keine ausdrückliche Erlaubnis, die die Wahl von Parlamentariern ermögliche. Die Parlamentarier handelten bei der Wahl der verfassungsgebenden Versammlung als Vertreter des Volkes und dürften, so das Gericht weiter, ausschließlich machen, was es ihnen explizit erlaubt ist.
Gegenseitige Legitimation zwischen Militärrat und Justiz
Dass das Gericht hier die Grundregel des Rechts »Was nicht verboten ist, ist erlaubt« missachtete, ist zu offensichtlich, als dass noch weiterer Erläuterungsbedarf bestünde. Problematischer ist, dass das Gericht als Verwaltungsgericht überhaupt in den Prozess der Verfassungsgebung eingriff. Unverzeihlich ist darüber hinaus die Rechtfertigung dieses Eingriffes seitens des Gerichts, welche der Entscheidung zur Gründung der Versammlung zu einer verwaltungsrechtlichen Entscheidung machte, weil sich – seiner Auffassung nach – die Parlamentarier an der Wahl dieser Versammlung nicht als Parlamentarier, sondern ausschließlich als Wahlbeauftragte des Volkes hätten beteiligen dürfen.
Damit wiesen alle Entscheidungen des Parlamentes im Rahmen der Wahl der verfassungsgebenden Versammlung, so das Gericht, einen verwaltungsrechtlichen Charakter auf. Diese Entscheidung ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass sich, wie erwähnt, dasselbe Gericht für nicht zuständig erklärte, die Entscheidung des Militärrates hinsichtlich der Abhaltung des Referendums zu prüfen.
Was hier tatsächlich passiert, kann man als eine gegenseitige Legitimation zwischen Militärrat und Justiz bezeichnen. Eine neue normative Lage ist so entstanden, die als »Militärkonstitutionalismus« beschrieben werden kann, der die Justiz nicht berührt. Die Justiz ihrerseits sieht darin eine Basis, in alle Bereiche außerhalb der unmittelbaren Macht des Militärrates zu intervenieren.
Die aktuelle Entscheidung des Verfassungsgerichts, das Parlament aufzulösen, ist also eine Fortsetzung dieser Richtung innerhalb der Justiz, schließlich geht es entsprechend der vorherrschenden verfassungspolitischen Ansicht in Ägypten darum, politische und wirtschaftliche Pfründe des Militärs im Staat zu zementieren und die durch Wahlen legitimierte »Machtergreifung« der Islamisten zu stoppen. Dabei wird man sich in Ägypten eingestehen müssen, dass die Entscheidungen der Justiz im Laufe des neuen Gestaltungsprozesses des Staates mit dem »Recht« am wenigsten zu tun haben.
Naseef Naeem
Der gebürtige Syrer studierte an den Universitäten in Aleppo und Damaskus Rechtswissenschaft. Von 1999 bis 2002 war Naeem in Syrien als selbständiger Anwalt tätig. Im Jahr 2007 promovierte er zum Thema »Die neue bundesstaatliche Ordnung im Irak« an der Universität Hannover. Derzeit arbeitet Naeem an seiner Habilitation zu den Verfassungen im Irak und im Sudan. Naeem lebt in Berlin.