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Eskalation des Bürgerkrieges in Syrien

Sturm auf Shayrat

Analyse

Die UN warnen vor der totalen Eskalation des Bürgerkrieges in Syrien. Tatsächlich wird eine Offensive der Rebellen wahrscheinlicher – ein besonders hart umkämpftes Schlachtfeld wäre dann ein »Todesdreieck« im Südosten von Homs.

Am heutigen Freitag warnte UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay vor einem »vollständigen bewaffneten Konflikt, der die Zukunft Syriens in Gefahr bringt«. Der Appell wirkte wie einer von vielen, fast routinemäßig übertragenen Aufrufen der internationalen Gemeinschaft zur Deeskalation. Nach über 10.000 Toten ist es gewiss schwer zu beurteilen, wann es noch »wirklich ernst« werden soll in diesem Syrienkonflikt. Aber womöglich ahnt Pillay selbst noch nicht, wie präzise sie vorhersagte, was dem Land unmittelbar bevorsteht.

 

Der Bürgerkrieg tritt in eine Entscheidungsphase – einen Moment, in dem es um Sieg oder Niederlage des Regimes gehen kann. Noch sind die Rebellen der so genannten Freien Syrischen Armee (FSA) nicht stark genug, um Damaskus zu erobern. Aber sie könnten den Regierungstruppen schwerwiegende Verluste beibringen – und damit eine Palastrevolte provozieren.

 

Das strategisch wichtigste Terrain bleibt dabei die Provinz Homs: Wer diese Gegend kontrolliert, hat den Finger auf der Arterie des Landes. Die Nachschub- und Transportwege zwischen der Hauptstadt Damaskus, Aleppo im Norden und den Küstenstädten laufen dort zusammen. Die Armee-Einheiten, die entlang der Wüstenstraße nach Palmyra und Deir ez-Zor ausharren, sind deshalb überaus nervös. Und die Luftabwehrbatterien, die dort in den letzten Monaten gesichtet wurden, werden ihnen im Kampf gegen die Aufständischen kaum helfen.

 

Zahlreiche Regierungsangestellte haben bereits angefangen, auf ihre Dienstfahrzeuge private Nummernschilder zu montieren – früher war eine offizielle Registrierung ein Privileg, heute ist es eine Gefahr. Besonders Allradwagen sind begehrte Beute der Rebellen: Offizielle Fahrzeuge werden aufgebracht und sofort kassiert – Privatleute, denen die Rebellen in Robin-Hood-Manier den Wagen abnehmen, erhalten einen Revolutionsschuldschein: »Wenn wir gewinnen, bekommst Du Dein Eigentum zurück!«

 

Aber wenn die Rebellen das Herzstück Syriens kontrollieren wollen, müssen sie einen topografisch eher unscheinbaren Winkel der Provinz in ihre Gewalt bringen: ein Dreieck, das sich östlich der Schnellstraße nach Damaskus vom Ort al-Buraij bis al-Qaryatayn am Wüstenrand und von dort in die südlichen Vororte von Homs erstreckt.

 

Dort konzentrieren sich schwer bewaffnete Regierungstruppen, dort liegt die Luftwaffenbasis Shayrat, auf die die Rebellen bereits im November 2011 einen waghalsigen Angriff unternahmen. Für die Freischärler der FSA wird die Aufgabe nur schwer zu lösen sein: Assads furchtbarsten Trumpf, die Luftwaffe, zu attackieren, ohne von dieser selbst getroffen zu werden. Noch blieben die Kampfbomber am Boden, aber in den kommenden Wochen werden sie aller Voraussicht nach zum Einsatz kommen.

 

Schiitische Dörfer nahe Homs sind besonders in Gefahr

 

Die Dörfer in diesem Todesdreieck werden sich kaum auf Seiten der Rebellen schlagen, sondern kämpfen bis zum letzten Mann. Sie fürchten die Rache der Aufständischen, und zwar aus gutem Grund: In vielen dieser Dörfer, unter anderem der Ortschaft Daghdaghan, leben mehrheitlich Schiiten.

 

Nach Berichten von Aufständischen aus Homs beteiligten sich schiitische Milizionäre aus dieser Gegend besonders tatkräftig am bisherigen Gemetzel: Als irreguläre Einheiten, so genannte »Schabiha«, die vor und hinter der Armee im Häuserkampf von Homs wüteten und plünderten.

 

Von Mitgliedern der bewaffneten Opposition ist schon jetzt zu hören, dass für diese Schiiten keine Gnade zu erwarten sein. Denn schon beim Massaker von Hama 1982, mit dem der damalige Präsident Hafiz al-Assad einen Aufstand der Muslimbrüder grausam niederschlug, hätten sie auf Seiten der Regierungstruppen mitgewirkt.

 

Sprecher der FSA haben angekündigt, dass die Zeit der »Zurückhaltung« nun endgültig vorüber sei. Sold und Waffen, finanziert von Saudi-Arabien, Katar und mutmaßlich auch der Türkei, fließen ins Land. Das Massaker von al-Hula hat der Rebellion gegen Assad neue Legitimität verliehen und grenzenlose Wut gegen das Regime geschürt.

 

Al-Hula als Zündfunke für eine Rebellenoffensive

 

Al-Hula ist der Zündfunke für eine Offensive, die allerdings schon seit geraumer Zeit geplant ist – ebenso wie es ein Anlass für die Ausweisung syrischer Botschafter aus mehreren EU-Hauptstädten darstellte, die nach zenith-Informationen aus Diplomatenkreisen bereits beschlossene Sache war, als die Opfer von al-Hula noch lebten.

 

Was in Hula geschah, könnte sich bald auch im Homser »Todesdreieck« abspielen, Opfer wären dann allerdings die Anhänger Assads. Es ist kaum anzunehmen, dass die Rebellen aus Sorge um ihren Ruf im westlichen Ausland Gnade walten lassen würden – auch nicht, wenn sie von ihren »Generälen« Order dazu hätten. Nach der Logik vieler Freischärler wäre mit einer Auslöschung der schiitischen »Schabiha-Hochburgen« der Gerechtigkeit ein Dienst erwiesen. Und so sind derzeit wahrscheinlich weder Alawiten noch Christen die am meisten gefährdete Minderheit im Land, sondern die Schiiten aus den Dörfern um Homs.

 

In der Logik dieses Krieges wird das Regime sich vollkommen im Recht fühlen, wenn es kein Mittel der Gewalt auslässt, um einen Vormarsch der Rebellen zu verhindern – und Blutbäder anrichtet wie das von al-Hula. Um den Aufständischen »Lektionen zu erteilen« oder ganz einfach die Zahl potenzieller Gegner durch Massenmord zu dezimieren.

 

Der »vollständige bewaffnete Konflikt«, vor dem UN-Kommissarin Pillay gewarnt hat, ist nur noch eine Frage von drei oder vier Wochen. Und die Rebellen werden ihrer Offensive ein Maximalziel setzen: Angriff auf Damaskus.

Von: 
Daniel Gerlach

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