200.000 Menschen flüchteten vor den Vorstößen des »Islamischen Staates« im Nordirak in die Autonome Region Kurdistan. Die Vertriebenen leben unter harschen Bedingungen in Rohbauten, Verwaltungsgebäuden oder notdürftig errichteten Zelten.
»Alles ist besser als Sindschar«, sagt Ammar Ibrahim Hossein. Als er sein Haus verließ, wusste er, dass er nie mehr zurückkehren würde. »Wer rennen konnte, rannte um sein Leben. Wer nicht rennen konnte, ist nun tot.« Der 46-jährige jesidische Bauer ergriff mit seiner Familie die Flucht, als Kämpfer des »Islamischen Staates« (IS) im nordirakischen Sinjar einfielen. Wie zehntausende andere Jesiden flüchteten sie ins nahe Sindschar-Gebirge, wo er über eine Woche lang abgeschnitten von Hilfsleistungen ausharren musste.
»In den Bergen haben wir nur einmal Wasser erhalten. Wir waren so durstig, dass wir glaubten, wir würden alle sterben.« Acht Tage saß Hosseins Familie im Gebirge fest, bis sie von kurdischen Kämpfern an die syrische Grenze eskortiert wurde. Jetzt wohnt die Familie in einer Bauruine in der irakischen Stadt Sharya, rund 10 Kilometer von Dohuk. »Dies ist unser Heim«, sagt Hossein, während er auf eine Ecke des unmöblierten Zimmers zeigt. Insgesamt beherbergt der Raum 27 Personen aus vier verschiedenen Familien.
Gemeinsam teilen sie sich sechs Matratzen. In Sharya wohnen derzeit rund 31.000 hauptsächlich jesidische Flüchtlinge aus der Region Sindschar im Nordirak, täglich treffen etwa 200 neue Familien ein. Da die Stadt die Massen der Vertriebenen nicht absorbieren kann, wird die Errichtung eines regulären Flüchtlingslagers geplant.
»Schau dir den Raum an, viel zu erklären gibt’s nicht«, sagt Hassan Khayri, Hosseins Nachbar, während er seinen Blick durch das Zimmer schweifen lässt. »Keine Fenster, keine Türe, keine Klimaanlage, keine Privatsphäre.« »Hier leben wir in Sicherheit, das ist das wichtigste. Aber hoffentlich bleibt es nicht für immer so«, sagt Khayri. Von Dohuk bis an die türkisch-irakische Grenze werden fast alle leerstehenden Gebäude von Flüchtlingen als Unterkunft benutzt. Da dies nicht ausreicht, schlafen zahlreiche Flüchtlinge in improvisierten Unterkünften außerhalb der Städte.
Entlang der Hauptstraße von von Dohuk nach Zawita haben sich hunderte vertriebene Familien niedergelassen. Nazir Hajji Murad, ein 54-jähriger Händler aus dem Shekhan-Distrikt in der Provinz Niniveh, sagt, er habe sein Haus aus Angst vor Angriffen verlassen. »Wir hatten Angst vor Da'esh [Akronym für IS]. Es gab keine Kämpfe in unserem Dorf, aber wir fürchteten täglich um unser Leben.« Als Murad mit seinem mit 15 Personen beladenen Pick-Up in der Region Dohuk ankam, wusste er nicht, an wen er sich wenden konnte. »Man sagte uns, die Schulen seien überfüllt und es gebe nicht genug Essen.
Darum blieben wir hier, nahe bei der Straße, wo Leute uns sehen und helfen.« In den vier Tagen seit seiner Ankunft habe Murad keine Unterstützung von Hilfswerken erhalten. »Wir sind komplett abhängig von der Anwohnern hier. Sie bringen uns Essen, Wasser und manchmal Eis.« Murad sagt, er habe versucht, Unterstützung von Hilfsorganisationen zu erhalten. »Vor drei Tagen habe ich unsere Namen und Telefonnummern in einer Schule auf eine Flüchtlingsliste setzen lassen. Bisher hat sich niemand gemeldet. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Die Lage hier ist sehr schwierig. Wir haben keine Zelte, keinen Strom und schlafen im Freien. Kinder sollten nicht an einem solchen Ort leben müssen. Gestern wurde ein Junge von einem Auto auf der Straße angefahren.« Dennoch hält Murad das Leben am Straßenrand für besser als die Unterkunft in einer Schule. »Von dem was ich gehört habe, geht es den Leuten in den Schulen nicht besser. Oft leben vier, fünf Familien in einem Zimmer. Hier haben wir wenigstens ein bisschen Privatsphäre.«
Hilfswerke stoßen an ihre Grenzen
Gemäß der Organisation »Ärzte ohne Grenzen« (MSF) lebten bereits vor der jüngsten Vertreibungswelle über 350.000 intern Vertriebene sowie 230.000 syrische Flüchtlinge in der Autonomen Region Kurdistan. MSF schätzt die Zahl der Vertriebenen im Irak auf insgesamt 1,2 Millionen, einschließlich der rund 500.000 Menschen, die im Zuge des Konflikts aus der Provinz Anbar vertrieben wurden. Neben der großen Anzahl der Flüchtlinge machen vor Ort aktiven Hilfsorganisationen auch andere Faktoren zu schaffen.
Viele Vertriebene lassen sich nicht permanent an einem Ort nieder und wechseln regelmäßig ihren Aufenthaltsort. Laut dem Koordinator für Hilfsleistungen in einer Schule in Zawita ist es nicht unüblich, dass Familien an gleichzeitig an mehreren Orten registriert sind. Aufgrund mangelnder Transportmöglichkeiten lassen Flüchtlinge erhaltene Hilfsgüter oft zurück und sind somit am nächsten Ort erneut auf Unterstützung angewiesen. Die Vertriebenen sind zudem über weite Teile der Autonomen Region Kurdistan verteilt.
Kleine Gruppen, die außerhalb der Ballungszentren wohnen, werden oft nicht als Flüchtlinge registriert und erscheinen daher in keinen Statistiken. Die geografische Verteilung der Flüchtlinge stellt eine logistische Herausforderung für Hilfswerke dar, die aufgrund der begrenzten Mittel vorerst hauptsächlich in den Ballungszentren aktiv sind. In einer Stellungnahme vom 12. August kritisierte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die bisherige internationale Reaktion auf die jüngste Vertreibungswelle von Zivilisten im Nordirak als »absolut unzureichend« und appellierte an die internationale Gemeinschaft, gemeinsame humanitäre Maßnahmen zur Unterstützung der hunderttausenden von Personen im Nordirak zu starten, die von der Bedrohung einer ethnischen Säuberung durch die Kämpfer des »Islamischen Staates« flüchteten.