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Flucht und Asyl in Tunesien

Saieds Trumpf ist Europas Achillesferse

Analyse
Flucht und Asyl in Tunesien
Mstyslav Chernov/Unframe

Seit einem Jahrzehnt arbeitet Tunesien an einem Asylgesetz. Dass die Reform auch unter Kais Saied stockt, hat System. Denn der Präsident ist auf seinen wichtigsten Hebel in den Verhandlungen mit Europa angewiesen.

In diesen Wochen sind es immer mehr Sudanesen, die vor den Kriegswirren in ihrem Heimatland nach Tunesien fliehen. In Abwesenheit eines nationalen Asylsystems werden sie vom UNHCR betreut. Die UN-Organisation unterhält Asylzentren im ganzen Land, stellt die Beherbergung vulnerabler Gruppen sicher und bearbeitet Gesuche um internationalen Schutz. Faktisch fehlt es ihr jedoch seit langem massiv an Mitteln und Personal. Lebenserhaltungsleistungen an Fluchtsuchende können kaum bewältigt werden und Gesuche ziehen sich hin.

 

Die Folge sind überbordende Flüchtlingscamps wie etwa jenes vor dem UNHCR-Hauptgebäude im Diplomatenbezirk Lac I, das tunesische Sicherheitskräfte jüngst nach Protesten Geflüchteter von gewaltsam räumten. Die Bilder zerstörter Zeltlandschaften gingen um die Welt – und lösten nördlich des Mittelmeers einmal mehr innenpolitische Nervosität aus. Zumal das erfolgreiche Framing der Immigrationspolitik dem Aufstieg der politischen Rechten besonders in Italien Vorschub leistete, wohl aber auch eine erhöhte Sensibilität für den Fortschritt der gewählten Regierung in diesem Bereich mit sich bringt.

 

Die Einwanderung nach und durch Tunesien war lange Zeit durch die Nachbarsländer des Maghreb dominiert. Erst seit der Jahrtausendwende erlangte das Land dank der Attraktivität seiner Privatuniversitäten einerseits sowie einer Verschiebung der Flucht- und Migrationsrouten andererseits auch für Menschen aus Subsahara-Afrika eine größere Bedeutung.

 

Dabei herrschte unter den Diktatoren Bourguiba und Ben Ali stets eine sehr restriktive Einwanderungspolitik, inklusive harter Sanktionen bei illegalem Aufenthalt und Beschäftigung. Das Immigrationsgesetz von 2004 kriminalisierte gar zivilgesellschaftliche Unterstützung und Hilfe für Geflüchtete, Immigrationspolitik fiel in den Kompetenzbereich des Innenministeriums. Nebst hohen Buß- und Gefängnisstrafen für illegale Migranten und deren Helfer wurde insbesondere deren juristischer Handlungsspielraum beschnitten.

 

Bezeichnenderweise befindet sich das Dokument seit 2012 in Dauerrevision

 

Die Jasminrevolution 2011 erwies sich als Zäsur für die Muster der Migration in und aus Tunesien, nicht jedoch für die tunesische Migrationspolitik per se. So war die unmittelbare Nachrevolutionszeit geprägt von beispiellosen Bewegungen. Zehntausende junge Tunesierinnen und Tunesier nutzten das Zusammenbrechen der Grenzkontrollen und setzten nach Italien über. Gleichzeitig ermöglichte die Lockerung der Einwanderungsbestimmungen vielen Menschen aus Libyen und aus Subsahara-Afrika den Weg ins liberalere und stabilere Tunesien. Die Aufhebung der Visumspflicht für gewisse afrikanische Staaten verstärkte diesen Trend.

 

Durch die geografische Nähe zu Italien und die etablierten Seewege war Tunesien für viele Menschen Transitland, und wird bis heute fast ausschließlich als solches begriffen. Neu dagegen ist die steigende Zahl von Tunesierinnen und Tunesiern, die – aus vorwiegend ökonomischen Gründen – nach Europa migrieren, nicht zuletzt auch über die gefährliche Mittelmeerroute.

 

Diese Muster prägen die Achsen tunesischer Migrationspolitik. Ins Zentrum nationaler Bestrebungen rückten die Rücknahme abgewiesener Tunesier einerseits, der Kontakt mit der tunesischen Diaspora andererseits. Vernachlässigt wird in erster Linie die humanitäre Dimension. Eine nationale Asylpolitik, mit der Tunesien seinen Verpflichtungen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention und dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Asyl nachkommt, fehlt nach wie vor.

 

Die vielleicht größte Hoffnung liegt auf der »Nationalen Migrationsstrategie«, welche sich explizit der Ausarbeitung gesetzlicher Grundlagen im Bereich Asyl verschreibt. Bezeichnenderweise befindet sich das Dokument seit 2012 in Dauerrevision, die gegenwärtige Version sieht keinerlei konkrete Maßnahmen vor.

 

Die Reform als außenpolitische Fußfessel

 

Im Asylbereich hat die Reformunfähigkeit strukturelle Gründe, insbesondere die fehlende politische Stabilität und Planungssicherheit. Die postrevolutionäre politische Landschaft in Tunesien ist von einer starken Fragmentierung geprägt, welche sich auf allen Ebenen niederschlägt. Seit 2011 gaben sich neun verschiedene Regierungschefs und unzählige Minister und Gouverneure die Klinke in die Hand. Reformen bleiben dabei auf der Strecke.

 

Diese politische Unbeständigkeit hat sich seit der von Kais Saied orchestrierten Entmachtung des Parlaments im Juli 2021 zwar verändert, aber keineswegs nachhaltig verbessert. In einem ständigen Machtkampf mit Gewerkschaften und politischen Parteien folgt auch unter dem neuen Staatsoberhaupt Minister auf Minister, und Dekret auf Dekret.

 

Kais Saieds politischer Ansatz verspricht, durch die sprichwörtlich harte Hand einer starken Exekutive chronische Probleme anzugehen. Der weitgehende Verlust demokratischer Grundrechte hat das Reformtempo jedoch nicht beschleunigen können. Insbesondere nicht in Migrationsfragen, wo sich in der Zeit nach der Revolution der gesellschaftliche Druck durch parlamentarische und zivilgesellschaftliche Akteure sowie die Bestrebungen der europäischen Partner zur Externalisierung ihrer Grenzkontrollen die Waage hielten.

 

In der Summe wagten alle postrevolutionären Regierungen damit einen komplizierten Balanceakt, der migrationspolitische Probleme durch selektives Wegschauen, politische Vernachlässigung und einige wenige visarechtliche Neuerungen für direkt Betroffene erträglicher machte, ohne jedoch tieferliegende strukturelle Probleme anzugehen.

 

Abschiebeflüge steuern abgeschiedene Kleinflughäfen an, um das Thema im Innern nicht hochkochen zu lassen

 

In erster Linie fußt die fehlende Asylpolitik jedoch nicht auf Reformunfähigkeit, sondern auf Reformunwilligkeit. Und das aus gutem Grund. In Tunesien ist man sich bewusst, dass die Ausarbeitung und Umsetzung eines nationalen Asylgesetzes das Land für die EU und ihre Partner zum sicheren Rückkehrland machen würde. Damit wären Rücknahmen unvermeidlich und – anders als in der bisherigen bilateralen Praxis üblich – kaum mehr mit politischen Tauschgeschäften verknüpfbar.

 

Im Rahmen gemeinsamer Absichtserklärungen zur vertieften Zusammenarbeit im Bereich der Grenzsicherheit wird die tunesische Küstenwache seit Jahren finanziell und vor allem materiell hochgerüstet, bislang ohne nachhaltigen Effekt. Mit Italien werden in regelmäßigen Abständen neue Rücknahmekontingente abgeschobener Tunesier verhandelt, so auch bereits mehrfach in diesem Jahr.

 

Diese Kooperationen lässt sich Tunesien mit Entwicklungshilfegeldern vergolden, während die Abschiebeflüge abgeschiedene Kleinflughäfen wie Enfidha ansteuern, um das Thema im Innern nicht hochkochen zu lassen. Europäische EZ-Gelder bezahlen oft auch die Reintegration abgeschobener Staatsbürger. Ansätze zur Vereinheitlichung solcher Programme oder auch deren Erweiterung auf humanitäre Aspekte wie die Asylpolitik stoßen schnell auf Widerstand.

 

In der Summe ergibt sich das Muster einer kurzsichtigen Migrationspolitik. Eine Beobachtung, die die deutsche Migrationsforscherin Katharina Natter treffenderweise als »Ad-hoc-kratie« bezeichnet: Bilaterale Abkommen und Zugeständnisse folgen einer Logik der Einzel- und Ausnahmefallpolitik – ihr Bestand ist zu keiner Zeit gesichert. An tiefergreifenden, gar holistischen Ansätzen besteht kein Interesse.

 

Eine Abkehr von dieser Politik würde Tunesiens Verhandlungsmasse nachhaltig schmälern

 

Dass Tunesien sich nicht in die Rolle des Grenzpolizisten nach dem Vorbild der Türkei drängen lassen will, hat man der EU wiederholt deutlich gemacht. Zuletzt etwa 2018, als die Regierung die Einrichtung von Auffangzentren ablehnte. Gleichzeitig fürchtet Tunis als Ergebnis einer kohärenten Asylpolitik auch steigende Zahlen Schutzsuchender im Land.

 

Über den Hintergrund der üblen Hetzkampagne des Präsidenten in diesem Frühjahr wurde viel spekuliert. Fakt ist: Für Menschen aus Subsahara-Afrika hat diese zynische Politik desaströse Folgen. Über Wochen waren sie der Hetze rassistischer Kreise ausgesetzt, Übergriffe waren mitunter an Tagesordnung. Viele suchten ihr Heil in der Flucht nach Europa. Auch das wird Teil des politischen Kalküls sein. Die Antwort aus Rom folgte prompt, in Form von Entwicklungshilfegeldern und Fürsprache auf internationaler Ebene, nicht zuletzt beim Internationalen Währungsfonds (IWF).

 

Und so zieht Tunesien weiter Nutzen aus dem Fehlen eines Asylgesetzes. Mit einem solchen ist also vorerst nicht zu rechnen, zumal Tunesien scheinbar am längeren Hebel sitzt. Seit 2017 lässt das Land seine Küstenwache durch den EU Emergency Trust Fund hochrüsten, die Immigrationsprozesse werden von UN-Agenturen abgewickelt. Die Rücknahmeflüge aus Italien lässt man sich mit Entwicklungshilfe vergolden, und gegenüber der rechtsnationalen Regierung Meloni lässt sich mit Flüchtlingszahlen eine wirkungsvolle Drohkulisse aufbauen.

 

In diesen Zusammenhang muss nicht zuletzt auch die jüngste Hetze gegen Migranten aus Subsahara-Afrika gestellt werden, die Italien dazu veranlasste, bei Kreditverhandlungen mit dem IWF tunesische Interessen zu vertreten. Eine Abkehr von dieser Politik der Nicht-Politik würde Tunesiens Verhandlungsmasse vis-à-vis der EU nachhaltig schmälern. Es ist daher damit zu rechnen, dass die Nationale Migrationsstrategie auch im neuen tunesischen Parlament nicht zur Abstimmung gestellt wird – und Meloni 2023 noch manches Mal in Tunis zu Besuch sein wird.


Damian Berger ist Mitbegründer des Recherchekollektivs Ishtar MENA Analytics. Er lebt und arbeitet in Tunis.

Von: 
Damian Berger

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