In den Flüchtlingscamps in Hatay leben syrische Familien schon seit einem halben Jahr. Genau so lange hatten Dissidenten in den Lagern Zeit, den Widerstand gegen Assad zu organisieren. Jetzt kehren sie zurück nach Syrien.
»Zutritt ausschließlich für Flüchtlinge und ihre Angehörigen«, wird mir am Tor eines Lagers in Altınözü freundlich von einem Polizisten in einem türkischgefärbten Arabisch erklärt. Was er nicht weiß, am gleichen Tag, zehn Stunden früher konnte ich mich in Yayladağı in ein anderes Camp schleusen und von dort aus weiter nach Syrien über die Grenze gehen.
Der 16-jährige Najib steigt an diesem Morgen aus einem Sammeltaxi aus und läuft noch 10 Minuten bis er da ist. In der Provinzhauptstadt Antakya hat er eine Woche lang ein paar türkische Lira verdient und gespart. Nun freut er sich wieder auf das Familienzelt im Flüchtlingslager des Türkischen Halbmondes mit Blick auf das syrische Bergdorf Kasab.
Schnell wird für den Gast, für den Bruder, für den Journalisten – wie ich verschieden genannt werde – ein Tee aufgesetzt, im Lager spricht sich nach einigen Minuten meine Anwesenheit herum. Najibs Vater hat einen großen Fussel am Dreitagebart kleben, die Decken der türkischen Regierung sind zwar nicht von guter Qualität aber sie halten in dieser bergigen Region warm: »Die Türken helfen uns so sehr, wir haben alles was wir zum Überleben brauchen«. In ihrem Haus in Syrien hätte er mich natürlich nach arabischer Art mit allem was dazu gehört begrüßt, entschuldigt er sich für die Umstände.
»Ich glaube nur noch an Gott«
Najibs Bruder wurde im Sommer auf dem Weg in Richtung Türkei von den syrischen Sicherheitskräften verhaftet. Damals war die Grenze von syrischer Seite streng überwacht, zurzeit konzentrieren sich Polizei, Geheimdienst und Militär eher auf die aufständischen Städte wie Idlib, Homs oder Latakia, um dort den Protest einzudämmen. »Ich weiß nicht, wo mein Sohn ist«, sagt Najibs Vater. Seine Frau, die neben ihm Platz genommen und über die ganze Zeit nichts sagt, nickt und versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. Um sich etwas abzulenken, kümmert sie sich um die jüngste Tochter Hanan, erst ein Jahr alt und von Dauerfieber geplagt: »Sie wissen nicht, was sie hat«, sagt ihr Vater.
Najibs Tante Fatima ist dagegen viel gesprächiger als ihre Schwester. Fatima mit dem schwarzen Kopftuch und den schwarzen Augenringen ist eine von vielen an diesem Morgen, die meinen Besuch in eine Art Sprechstunde verwandeln. Die Menschen hier möchten reden, sie möchten erzählen, was ihnen und ihren Angehörigen passiert ist.
Fatimas Mann arbeitet in Idlib als Zwischenhändler, schon früh hat er sich entschieden, seine Familie in Sicherheit zu bringen und in Idlib die letzten Geschäfte abzuwickeln. »Mir wurde dann nur erzählt, dass sie ihn auf seinem Motorrad auf dem Weg hierher erwischt haben«, sagt Fatima. Sie hätte keine Kraft mehr, alleine für die sechs kleinen Kinder zu sorgen. Auch sie sei dem türkischen Staat dankbar, aber sie glaube eigentlich nicht mehr an Staaten: »Die sind alle gegen uns, alle gegen das syrische Volk. Staaten bringen nur Unheil über uns«, erklärt sie wütend, »ich glaube jetzt nur noch an Gott«. Sonst gebe es keine Lösung für ein Problem, dass in Syrien jahrzehntelang gewachsen sei. Nur Gott könne dies stoppen. Dann steht sie auf, als hätte sie sich nur Mal die Seele frei reden wollen und als hätte sie ihr Ziel an diesem Morgen erreicht.
»Wir glauben nur noch an Waffen«
In Yayladağı, ungefähr sechs Kilometer Luftlinie von der syrischen Grenze entfernt, haben sich seit dem Sommer auch immer mehr dissertierte Soldaten der syrischen Armee eingefunden. Die jungen Männer sind ebenfalls traumatisiert und erzählen in meiner Sprechstunde – die ich nun im »Zelt der Weisen« fortführe – schreckliche Geschichten. Sie setzen sich hin, neben den Greisen, die sich dieses Zelt teilen und erzählen, was sie gesehen haben, danach gehen sie wieder: »Als ich in Homs im Einsatz war, musste ich mit ansehen, wie sie in einer Moschee 70 Menschen erstochen haben«, erzählt Omran. Beim zweiten Mal hat er die drei »iranischen Söldner«, wie er die angeblich ausländische Verstärkung für die syrischen Kräfte nennt, vorher erstochen: »Sie wollten wieder in Homs hundert Menschen töten, sie haben für jedes Menschenleben eine Prämie bekommen«.
Omran und Fadi sind im Lager beste Kumpel geworden, sie sind beide 23 Jahre alt. Im Ramadan, also im August 2011, haben sie sich entschlossen, dem Assad-Regime den Kampf anzusagen: »Sie haben uns damals gezwungen, im Ramadan zu essen, sie sagten uns, dass es kein Gott außer Assad gebe«, erzählt Omran. Die alten Männer im Zelt knabbern auf Kichererbsen, die in der Mitte auf einem kleinen Kohlebecken rösten. Keiner von ihnen wagt es, der Jugend zu widersprechen. Trotzdem, ohne dass sie miteinander wirklich darüber reden, gibt es einen großen Streitpunkt zwischen Jung und Alt: Die älteren Männer sind dagegen, dass die jungen regelmäßig, vor allem freitags, über die Grenze jeweils in ihre Heimatstädte gehen, um die Proteste zu sichern und im Ernstfall ihre Waffen aus ihrer Zeit in der Armee einzusetzen.
»Wir glauben nur noch an Waffen«, sagt Fadi, bevor er mich fragt, ob ich mit über die Grenze möchte, zu einem Organisationstreffen mit anderen Dissidenten. Mir wird flau, aber genau auf dieses Angebot habe ich gehofft. Dennoch, ein paar Spielregeln muss ich einhalten, um mitgehen zu dürfen. Ich muss Fadi und Omran versprechen, es nicht den Alten im Zelt zu erzählen: »Sie sind dagegen, dass wir so oft über die Grenze gehen«. Weniger aus Angst um die jungen Männer, sie seien die Helden, die Syrien befreien sollen, eher aus Rücksicht auf Frauen und Kinder, wird mir erklärt: »Die Assad-Truppen rächen sich zuerst an deiner Frau, dann an deiner Schwester, dann an deiner Tochter und dann an deiner Mutter.«
Ich soll außerdem all meine Dinge, wie Pass, Notizbuch, ja selbst meine deutschen Kaugummis und meine Einwegkamera bei einem Hajji, einem alten weisen Mann aufbewahren. »Du darfst nichts bei dir haben, das auf deine Identität schließen lässt«, sagt Omran. Als er meinen Presseausweis in der Brusttasche entdeckt, ist es das einzige Mal, dass er mir unhöflich seine Meinung sagen wird: »Sie dürfen nicht wissen, wer du bist, du bist einer von uns, dann bist du sicher.« Dass er die türkischen Behörden und nicht die syrischen Soldaten meint, werde ich erst später verstehen.
Die türkischen Soldaten, die sich auf einem Hügel neben dem Camp postiert haben, sind nämlich entweder blind oder haben den Befehl bekommen, die Männer erstmal gewähren zu lassen. Wir fahren in einem klapprigen Renault R9 ein Stück, dann laufen wir aus Sicherheitsgründen durch Gestrüpp zu einer Lichtung zwischen einigen Olivenbäumen. »Wir sind nun in Syrien«, aus den anderen Richtungen kommen weitere junge Leute, insgesamt finden sich acht »Informanten« hier wieder, die die Informationen später weitergeben und verbreiten werden.
Ein Gebet für ein freies Syrien
Noch im Sommer wäre eine Überquerung der Grenze nicht möglich gewesen. Jede Familie im Flüchtlingslager hat mindestens einen Toten oder einen Vermissten zu beklagen: Schießbefehl auf alles, was sich auf die Türkei zubewegt, erklären die meisten. Jetzt konzentrieren sich die syrischen Regierungsstreitkräfte anscheinend auf das Landesinnere, sie wollen den Protest in den Städten ersticken.
Viel Neues gibt es zwischen den Olivenhainen nicht zu besprechen. Die Strategie sei klar: »Wir gehen regelmäßig, besonders freitags, jeweils in unsere Heimatstädte und sichern die friedlichen Demonstrationen ab.« Dass es nicht nur bei einer Aufsicht der Demonstranten bleibt, zeigt Omrans Bericht, dass er neulich mit Hilfe anderer Dissidenten aus Idlib drei Soldaten getötet hat: »Wir haben sie erstochen, noch bevor sie ihren Schießbefehl ausüben konnten.« Es scheint, dass die Dissidenten am liebsten vom Verteidigungs- in den Angriffsmodus wechseln würden: »Wir arbeiten dran«, sagt Omran, »wir bekommen keine Waffen von Frankreich und Großbritannien, so wie die libyschen Rebellen, aber wir kommen schon irgendwie an das Nötigste.« Konkreter kann keiner der jungen Männer werden.
Nach einer halben Stunde löst sich die Gruppe nach einem Gebet auf, wir kehren in das Lager zurück. Wieder auf der türkischen Seite angekommen, werde ich herzlichst verabschiedet. »Wir bringen dich das nächste mal egal wohin du willst, in einem hoffentlich befreiten Syrien«, sagt Fadi zum Abschied.




