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Fotografie in der Türkei

Seid mutig und fotografiert!

Feature

Fotografen von Weltrang stellten im westtürkischen Bursa in historischen Basaren ihre Werke aus. Die Veranstalter träumen davon, die Stadt als neues Zentrum für internationale Fotografie zu etablieren.

Die Fotos auf dem Bildschirm zeigen den Alltag einer Roma-Gemeinde in der westtürkischen Stadt Bursa. Roma beim Kochen, Roma beim Tanzen, Roma beim Posieren für die Kamera. Es sind hübsche Bilder, exotisch und farbenfroh – aber irgendwie auch ziemlich langweilig.

 

Aufgenommen hat sie ein einheimischer Fotograf. Nervös sitzt er an einem Tisch im Restaurant des Koza Han, dem historischen Seidenbasar in Bursas Altstadt, und hört sich an, was die Besucherin aus den USA von seiner Arbeit hält. Die Frau mit den dicken, braunen Haaren und den markanten Wangenknochen klickt sich durch die Fotos und kommentiert geduldig jedes Detail. Sie heißt Maggie Steber und ist eine mehrfach preisgekrönte Fotografin aus Texas, die vor mehr als 20 Jahren mit ihren Reportagen aus Haiti für Furore sorgte und seitdem für renommierte Magazine wie National Geographic, Geo und Newsweek in aller Welt unterwegs ist.

 

»Schöne Momente sind das«, sagt sie am Ende ermutigend, »aber du musst dich mehr trauen. Diese Menschen haben dir Zutritt in ihre Gemeinschaft gegeben, mach etwas draus, sei nicht so distanziert. Wenn sie dich anschauen, geh auf sie zu und mache Nahaufnahmen, wenn sie tanzen, tanze mit! Sei furchtlos, sei verspielt, werde zum Entdecker! Erst dann werden deine Fotos interessant.«

 

Der türkische Fotograf nickt verlegen, Maggie Steber lächelt ihm freundlich zu. Es ist der zweite Tag des internationalen Fotofestivals »Bursa Photofest«, dem ersten Festival seiner Art in der Türkei. Steber gehört zu den Ehrengästen der Veranstaltung. Deshalb stellt sie nicht nur Fotos aus, sondern hält Vorträge, gibt Workshops und bespricht die Mappen von Nachwuchskollegen. »Portfolio Reviews« sind fester Bestandteil jedes internationalen Fotofestivals und dürfen deshalb auch in Bursa nicht fehlen, das ist den Veranstaltern wichtig.

 

Von klassischer Dokumentarfotografie bis konzeptioneller Fotokunst

 

Die erste Runde des »Bursa Photofest«, dessen Initiatoren sich das ehrgeizige Ziel gesetzt haben, ausgerechnet hier in der westtürkischen Provinz ein Zentrum für internationale Fotografie zu etablieren, steht ganz unter dem Motto »Begegnungen«. In den historischen Basaren der Stadt, die einst auf der Route der Seidenstraße lagen und Treffpunkt für Händler aus Ost und West waren, begegnen sich international renommierte Fotografen aus der Türkei und dem Nahen Osten, aus Europa und den USA.

 

Man könne viel voneinander lernen, das sagen alle Teilnehmer. Den Fotografen aus der Türkei etwa fehle es vielleicht manchmal an Mut, technische Regeln und vorgegebene Strukturen zu durchbrechen, weil die fotografische Ausbildung hierzulande eben doch noch eine sehr klassische sei. Aber, so Maggie Steber, dafür verstünden sie diese Region, die in den letzten zehn Jahren immer wichtiger geworden sei und die weiter an Bedeutung gewinne, viel besser, als westliche Fotografen das jemals könnten. Außerdem seien ihre Arbeiten oftmals viel emotionaler als die von europäischen oder amerikanischen Kollegen.

 

Doch dass türkische Fotografie nicht gleich türkische Fotografie ist, das wird auf dem »Bursa Photofest« mehr als deutlich. Die seit Anfang der 1960-er Jahre in Anatolien entstandenen, besonnenen Schwarzweißaufnahmen des türkischen Altmeisters Ozan Sagdic etwa, der die Türkei Zeit seines Lebens nie verlassen hat, haben nur wenig gemeinsam mit den farbenfrohen, lebendigen Reportagen seines Zeitgenossen Ergun Cagatay, der – vertreten durch eine französische Agentur – über mehrere Jahre hinweg die Turkvölker Zentralasiens fotografierte. Beide Werke wiederum unterscheiden sich meilenweit von den konzeptionellen Arbeiten einer jungen Generation von türkischen Fotografen, die auf dem Festival in Bursa ebenfalls vertreten waren. 

 

Tatsächlich verläuft die eigentliche Trennlinie auf dem Festival gar nicht zwischen den Arbeiten von westlichen und östlichen Fotografen, sondern zwischen klassischer Dokumentarfotografie und konzeptioneller Fotokunst. Die räumliche Aufteilung der Ausstellungen macht dabei Sinn: So waren die meisten der jüngeren, künstlerischen Arbeiten, wie etwa die surrealistische Vogelscheuchen-Serie des 32-jährigen türkischen Fotografen Mustafa Bilge Satkin in den Galerieräumen des städtischen Kulturzentrums untergebracht, während der Großteil der klassisch-fotojournalistischen Arbeiten mitten im Herzen der Altstadt, in Bursas historischen Basaren, ausgestellt waren.

 

Eine Vermischung – ganz im Sinne der Planer

 

So auch Maggie Stebers eigene Fotoarbeit »Madje has Dementia«. Die Bilder dokumentieren den geistigen und körperlichen Verfall ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter, vom Ausbruch der Krankheit bis hin zu Madjes Tod. Die erstaunlich ästhetischen, behutsam komponierten Schwarzweißaufnahmen sind in Tuz Han zu sehen, einer im 15. Jahrhundert erbauten Karawanserei, in der sich einst Bursas Salzspeicher befanden. Heute wird hier hauptsächlich eingelegtes Gemüse verkauft.

 

An einer Wand des von Torbögen gesäumten, halboffenen Rundganges des alten Gemäuers stapeln sich reihenweise Plastikbehälter mit Essiggurken, saurem Kohl und eingelegten Paprikaschoten, in der Luft liegt Knoblauchgeruch. Die Gemüsekanister stehen unter großformatigen Aufnahmen von Maggie Stebers alter Mutter. »Die hätte man doch mal wegräumen können«, murmelt eine Passantin, während ihre Begleiterin die Bilder studiert. Ob es sich um Marktkunden oder Festivalbesucher handelt, bleibt unklar – eine Vermischung, ganz im Sinne der Planer.

 

Mehr als die Hälfte der Ausstellungen befindet sich in dem verwinkelten Komplex aus überdachten Markthallen und historischen Karawansereien, der das Zentrum von Bursas Altstadt bildet. Ein Konzept, das die türkischen Initiatoren – allen voran der Geschäftsmann Utku Kaynar, passionierter Hobbyfotograf und als Präsident des in Bursa ansässigen Vereines für Fotokunst einer der Ideengeber des Festivals – und der mit der Konzipierung und dem Kuratieren der internationalen Ausstellungen beauftragte New Yorker Fotograf Jason Eskenazi gemeinsam entwickelt haben.

 

»Uns war es wichtig, möglichst viele Bewohner unserer Stadt aktiv in das Festival einzubinden, statt das Geschehen auf die Galerien und Kulturzentren der Stadt zu beschränken«, sagt Kaynar. Schließlich würde sich der Aufwand, in einer Provinzstadt wie Bursa ein internationales Fotofest auf die Beine zu stellen, kaum lohnen, wenn am Ende nur eine kleine Gruppe von Kunstinteressierten die Bilder sehen würde.

 

Fotografinnen sollen im Mittelpunkt der Ausstellung stehen

 

Dass das Konzept aufgeht, das habe sich schon beim Aufhängen der Bilder gezeigt, erzählt Eskenazi, ein jungenhaft wirkender 52-Jähriger, dessen Großeltern Istanbuler Juden waren: »Die Geschäftsinhaber in den Karawansereien sind zu uns gekommen und wollten mit entscheiden, welche Fotos vor ihren Geschäften platziert werden. Und jetzt laufen jeden Tag Tausende Marktbesucher durch die Ausstellungen und entwickeln eine Verbindung zu dem Festival – soviel Partizipation haben Sie noch nicht einmal bei Fotofestivals in Frankreich oder New York!«

 

Organisiert haben Eskenazi und das Planungsteam aus Bursa das Festival in einer Rekordzeit von drei Monaten – denn nachdem die Idee im vergangenen Sommer geboren war, wollten die Initiatoren sie unbedingt noch in diesem Jahr verwirklichen. Eskenazi gelang es dank seiner zahlreichen, persönlichen Kontakte innerhalb von kürzester Zeit, ein hochkarätiges Festivalprogramm zusammen zu stellen. Nur für konzeptionelle Feinheiten bei der Auswahl der auszustellenden Werke blieb keine Zeit. Eine Entscheidung fällte er jedoch ganz am Anfang: Frauen sollten die tragenden Säulen des Festivals bilden. »Es war mir wichtig, Fotografinnen in den Mittelpunkt der Ausstellung zu stellen, die es geschafft haben, sich gegenüber ihren männlichen Kollegen zu behaupten – und das in einer Region, in der Frauen eine traditionell eher schwache Rolle haben!«

 

Und so beherbergt die einst für den Reishandel reservierte und heute von Cafés und Tattoo-Studios genutzte Karawanserei Pirinc Han das Herzstück des Festivals: Hier hängen die Arbeiten von jungen Fotografinnen, die alle schon seit Jahren erfolgreich im Nahen und Mittleren Osten arbeiten. Das fotografische Tagebuch von Kate Brooks etwa, einer jungen amerikanische Fotografin, die direkt nach der Zerstörung des World Trade Centers nach Pakistan reiste und zehn Jahre lang die militärischen und geopolitischen Nachwirkungen des 11. Septembers dokumentierte.

 

Oder »Pipe Dreams«, die eindrucksvolle Fotoarbeit der aserbaidschanischen Fotografin Rena Effendi über die Auswirkungen der Ölindustrie in ihrem Land, die ihr internationale Anerkennung verschaffte. Und Carolyn Drake, eine junge Amerikanerin, die seit mehreren Jahren von ihrer Istanbuler Basis aus den gesamten Nahen Osten und Zentralasien fotografiert und deren Fotoserie »Wild Pigeon« in betörend schönen Bildern die bedrohte Kultur der uigurischen Minderheit im Nordwesten Chinas dokumentiert.

 

In Zukunft Drehscheibe des internationalen Fotojournalismus?

 

Keine der besagten Fotografinnen hält freilich viel davon, auf ihre Rolle als fotografierende Frau reduziert zu werden. »Es wäre mir lieber gewesen, Jason hätte mich ausschließlich meiner Fotos wegen eingeladen«, sagt Carolyn Drake mit einem Schulterzucken. »Alle meine Kolleginnen und ich sind uns einig, dass wir es in unserem Beruf nie schwerer gehabt haben als die Männer. Im Gegenteil, wir bekommen oftmals viel leichter Zugang zu allen Bereichen und werden netter und respektvoller behandelt. Es ist dennoch schmeichelhaft, Teil dieser Auswahl zu sein, weil ich die Arbeit aller hier ausstellenden Kolleginnen sehr schätze.«

 

»Ja, ja«, sagt Eskenazi, ihm sei schon klar, dass seine amerikanischen Kolleginnen es immer ganz einfach gehabt hätten. Sie habe er ja auch gar nicht gemeint, als er von benachteiligten Frauen gesprochen habe, sondern von unterdrückten Frauen aus der Region selbst – und für die könnten Fotografinnen wie Carolyn Drake, Maggie Brooks oder Maggie Steber eben durchaus Vorbilder sein. Je öfter man also ihre Arbeiten in der Türkei und im Nahen Osten zu sehen bekomme, desto besser.

 

Das »Bursa Photofest« soll jedenfalls auch in Zukunft eine Lücke füllen, so der Traum aller Beteiligten. Die Türkei brauche ohnehin ein vernünftiges Fotofestival, da das Land durch seine ideale Lage und perfekte Anbindung an alle derzeit wichtigen Regionen der Welt schon lange das Zeug dazu habe, zur Drehscheibe des internationalen Fotojournalismus zu werden, dieser Meinung ist nicht nur Eskenazi, sondern alle in der Region aktiven Fotografen.

 

Langfristig aber werde der Trend wohl dahin gehen, die Fotografen aus den Regionen selber zu rekrutieren, glaubt Maggie Steber, die gerade ihr letztes Dossier durchsieht. »Das ist zwar schade für Fotografen und Fotografinnen wie mich, die sich daran gewöhnt haben, von den Redaktionen in alle Welt geschickt zu werden. Aber eigentlich macht es Sinn. Warum sollen die Menschen im Nahen Osten nicht selbst die Bilder prägen, die die Welt von ihnen sieht, anstatt dass wir in ihre Länder kommen und die Bilder mitnehmen, die uns passen?«

Von: 
Yasemin Ergin

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