Ein Jahr nach dem Tod von Diktator Gaddafi traf Christina Hering von AMICA e.V. im Rahmen eines neu gestarteten Projekts libysche Frauen in Tripolis und verschaffte sich ein Bild über die Lage vor Ort.
Die Innenstadt in Tripolis wirkt ziemlich heruntergekommen: Putz blättert von den Gebäuden, Balkone haben Löcher, Stromkabel hängen lose an den Häusern, Pfützen und Müll überall auf den Straßen. Es gibt zwar einige Geschäfte und einen kleinen Straßenmarkt, Restaurants und Cafés, aber wie ein Stadtzentrum wirkt es nicht. »Schau dir das an, das ist Libyen nach Gaddafi!«, sagt mein Taxifahrer verächtlich.
»Libyen ist ein reiches Land. Gaddafi muss uns gehasst haben, sonst hätte er etwas für uns getan. Hier gibt es nichts.« Überall an den Häuserwänden sieht man Graffitis gegen Gaddafi. Wenn ich diese fotografiere, hupen die Fahrer der vorbeibrausenden Autos und rufen: »Revolution!« Alle glauben, dass das Leben in Libyen besser wird. Schnell besser. Die Aufbruchsstimmung im Land ist allgegenwärtig.
Während englische Musik oder englische Namen für Geschäfte unter Gaddafi streng verboten waren, läuft heute in einem Radiosender aus Tripolis nonstop englische Musik. Michael-Jackson-Songs scheinen besonders beliebt zu sein, manche Radiosendungen werden sogar auf Englisch moderiert. Restaurants heißen nun »Chicken« und sogar die Stadtverwaltung von Tripolis hat einen englischen Slogan: »Today Tripolis has a new heart beat.«
Libyen im Aufbruch: Die Rolle der Frauen wird neu verhandelt
Ob dieses Herz auch für die Frauen schlägt, wird die Zukunft zeigen. Viele von ihnen nahmen aktiv an der Revolution teil und fordern nun ihren Platz in der Gesellschaft. Während der vergangenen zwölf Monate haben sich hunderte von Nichtregierungsorganisationen gegründet, von denen sich einige auch für Frauenrechte einsetzen oder Fortbildungen für Frauen anbieten, um deren Berufschancen zu verbessern.
Viele dieser Organisationen haben jedoch erst geringe Kenntnisse über Projektmanagement, Fundraising oder Teambuilding, so dass AMICA im Rahmen des vom Auswärtigen Amts unterstützten Projekts Trainings in Organisations- und Strategieentwicklung anbietet.
Am späten Abend fahre ich zum Hotel Rixos. Hier residieren die Mitglieder des frisch gewählten Nationalkongresses während der Sitzungsperiode. Ich treffe die Parlamentarierin Najya Elsidik Baiyou. Bei der Wahl des Nationalkongresses war bei den Parteien jeder zweite Listenplatz von einer Frau besetzt – und 33 der 80 für Parteien reservierten Sitze gingen an Frauen.
»Die gewählten Parlamentarierinnen müssen nun ihre Chance nutzen und für mehr Rechte kämpfen«, betont Baiyou. »Wenn es jetzt nicht gelingt, Frauenrechte politisch zu verankern, sind die Möglichkeiten, die sich jetzt bieten, auf lange Zeit vertan.« Sie ist in den Kommissionen für Menschenrechte, für Medien und für kulturelles Erbe aktiv. Mit ihrem beigen Hosenanzug, der dezenten Schminke und dem festsitzenden Hijab verkörpert sie perfekt das neue Selbstbewusstsein libyscher Frauen.
Schattenseiten der Revolution: Sexuelle Gewalt gegen die Zivilbevölkerung
Es gibt jedoch auch Schattenseiten im neuen Libyen. Während der Revolution gab es systematische Vergewaltigungen an der Zivilbevölkerung – zumeist an Angehörigen von Rebellen. Gaddafis Truppen misshandelten gezielt Frauen, Alte und Kinder in strategisch wichtigen Dörfern und Städten. Häufig filmten die Täter die Opfer während der sexuellen Misshandlungen und konfrontierten die Rebellen mit den Videos und der Botschaft: »Das passiert Euren Familien, wenn ihr gegen uns kämpft. Gebt den Widerstand auf.«
Ich treffe einige dieser Frauen zu Einzelgesprächen, sitze mit ihnen auf dem Sofa, höre ihre Geschichten. So groß ihre Angst auch ist – sie wollen ihre Qualen mitteilen, die Taten aufdecken. In einem Punkt äußern sie sich sehr deutlich: Die Täter müssen bestraft werden. Hanan* zum Beispiel hat während des Bürgerkriegs als Studentin Pamphlete gegen Gaddafi in einer Universität verteilt.
Sofort kam der Geheimdienst und nahm sie mit. Hanan wurden die Augen verbunden, sie fuhr zwei Stunden in einem Auto, bis sie in einem Gefängnis ankam. Ihr wurden die Kleider weggenommen, sie verbrachte die nächsten Monate nackt mit etwa 20 anderen Frauen in einer Gefängniszelle. Sie wurde jeden Tag vergewaltigt und mit Elektroschocks gefoltert.
»Nach einer Weile kamen wir uns alle vor wie Tiere. Wir hatten keine Würde, keinen Wert mehr. Als die Rebellen uns befreiten, wurden wir zum ersten Mal seit langem wieder wie Menschen behandelt.« Die Rebellen verboten, Fotos von den Gefangenen zu machen, sie besorgten Kleider und trugen die Frauen aus dem Gefängnis, weil diese zu schwach waren, um zu gehen. Ein paar Tage nach der Befreiung überwand sich Hanan und rief ihren Vater an. Dieser war einfach nur froh, von ihr zu hören und sagte, er stehe zu ihr egal, was ihr passiert sei.
Angst vor Generalverdacht lässt die Frauen schweigen
Bina* hingegen wurde in ihrer Heimatstadt in einer Straße von Gaddafis Soldaten aufgegriffen und mehrere Tage von einer ganzen Brigade vergewaltigt. Nach ein paar Tagen ließ man sie frei. Ihr Mann war ein Revolutionär und kämpfte gegen das alte Regime – er war nicht zu Hause und konnte so die tagelange Abwesenheit seiner Frau nicht bemerken. Bina erzählte ihm nie, was ihr passiert war.
»Ich wollte meine Würde nicht verlieren«, sagt sie im Gespräch. Doch die grausame Tat hinterließ Spuren: Bina ertrug es nicht mehr, wenn ihr Mann sie berührte. Sie konnte ihm nicht erklären warum. Nach einem halben Jahr verließ er sie und die gemeinsamen Kinder. Nun will sie nur noch weg, das Land verlassen. »Ich mag keinen libyschen Mann mehr sehen. Ich ertrage es einfach nicht«, sagt sie und schüttelt verzweifelt den Kopf.
Von mehreren hundert Frauen bis zu 8.000 Betroffenen reichen die Schätzungen der Experten vor Ort. Genaue Zahlen gibt es nicht, kaum jemand spricht über diese Verbrechen – schon gar nicht die Opfer. Sie fürchten, unter Generalverdacht gestellt zu werden. Das würde bedeuten, dass alle Frauen einer bestimmten Stadt oder möglicherweise in ganz Libyen als Gewaltopfer abgestempelt werden.
Sie hätten dann enorme Schwierigkeiten einen Heiratspartner zu finden oder ein normales Leben führen. Etwa 15-20 Prozent der Betroffenen konnten jedoch nicht verheimlichen, was ihnen geschehen ist. Viele von ihnen wurden von ihren Familien verstoßen, manche werden von ihren Angehörigen sogar mit dem Tode bedroht, weil diese um die Ehre der Familie fürchten.
Andere Frauen wurden aus Solidarität von Rebellen geheiratet. Einige dieser Ehen scheinen glücklich zu verlaufen, andere nicht. Durch die Ehen behalten die betroffenen Frauen ihren sozialen Status. Die meisten Opfer schweigen jedoch wie Bina bis heute und versuchen so zu tun, als sei nichts geschehen.
AMICA hat bei der Arbeit in Bosnien-Herzegowina wahrgenommen, dass die im Krieg erlittenen Traumata oft Jahrzehnte lange nachwirken – bis in die nächste Generation hinein. Deshalb führen Expertinnen in den kommenden Monaten in Libyen Schulungen für psychologisches und medizinisches Personal durch und unterstützen beim Aufbau dauerhafter Betreuungsstrukturen.
Für die Übergangsphase - bis die Strukturen existieren und etabliert sind – fehlt es jedoch an Geld, um schwerwiegenden Einzelfällen zeitnah zu helfen. Deshalb bittet AMICA um Spenden. Denn was die Menschen in Libyen jetzt am dringendsten brauchen, ist die Perspektive auf ein besseres Leben. *Name geändert
Christina Hering arbeitet als Auslandsreferentin für AMICA e.V. und betreut Projekte im Nahen Osten und in Nordafrika.




