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Gewalt gegen Frauen in Afghanistan

Gerechtigkeit für Farkhunda

Feature

Eine junge Afghanin wird von einem Mob mitten in der Kabuler Innenstadt gelyncht und verbrannt. Ihre Trauerfeier zieht Demonstrationen und Mahnwachen nach sich. Frauen tragen den Sarg der Verstorbenen und brechen mit Traditionen.

Am 19. März 2015, am Tag vor Nouruz, dem persischen Neujahr, wird mitten in der Kabuler Innenstadt, keine 2 Kilometer entfernt vom Präsidentenpalast, die 27-jährige Afghanin Farkhunda von einem Lynchmob gejagt, gesteinigt, getreten, von einem Auto vorsätzlich überfahren und zuletzt verbrannt. Und all dies geschieht in Anwesenheit der Polizei und hunderter Männer, die zum Teil die ganze Gewalttat im Detail mitfilmten.

 

Laut des afghanischen Nachrichtensenders Ariana Television gingen am darauffolgenden Sonntag bis zu Tausend Afghanen in Kabul auf die Straßen, um sich von diesem Lynchmob zu distanzieren und seinem Opfer Respekt zu erweisen. Es war eine Trauerfeier, die sehr stark auch an einen Protest und einen Emanzipationsakt der afghanischen Frau erinnerte. Wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans und entgegen aller Traditionen wurde Farkhundas Sarg ausschließlich von Frauen zu Grabe getragen.

 

Die junge Aktivistin Nargis Azaryun war eine dieser Frauen: »Ich habe den Sarg nicht getragen, um den Männern zu sagen, sie seien keine richtigen Männer oder ähnliches. Ich trug ihn, weil ich den Frauen in diesem Land sagen wollte, dass wenn wir etwas erreichen wollen, wir uns erheben und handeln müssen.« Weiter sagt Azaryun, dass Frauen auch Tabus brechen können,wenn sie zusammenhalten. »Wir haben uns dem am meisten respektierten Mullah widersetzt.«

 

Damit spielt sie auf den Mullah und Fernsehprediger Mohammad Ayaz Niazi an, der einen Tag zuvor die Täter in Schutz genommen hatte und vor dem Versuch einer strafrechtlichen Verfolgung warnte. Daraufhin verwehrten ihm die Trauernden die Teilnahme an der Bestattungszeremonie, buhten ihn aus und riefen im Chor: »Wir wollen Gerechtigkeit für Farkhunda, wir wollen Gerechtigkeit für die afghanischen Frauen!« Unter diesem Slogan »Justice for Farkhunda« oder »I am Farkhunda« bekunden auch Afghanen weltweit über soziale Netzwerke oder im Rahmen von Mahnwachen ihre Solidarität und Trauer.

 

Farkhunda wurde von der Menge bezichtigt, einen Koran verbrannt zu haben. Anschließend prügelten dutzende Männer vor der Shah-Do-Schamschira-Moschee in der Kabuler Innenstadt auf sie ein. Zuletzt wurde ihr bewusstloser Körper angezündet und in den ausgetrockneten Kabul-Fluss geworfen. Zahlreiche Videos im Internet aus allen möglichen Perspektiven halten diesen Gewaltexzess vom Beginn der Anschuldigung bis zum Ende und dem Tod der Frau fest.

 

Es sind teilweise Junge Männer, maximal Mitte Zwanzig, zu sehen wie sie Farkhunda zu Boden treten und mit riesigen Steinen bewerfen. Eines der Videos zeigt sogar eine vorübergehende Rettung der jungen Frau durch die anwesenden Polizisten. Doch kurze Zeit später scheinen sie das Opfer dem Mob wieder ausgeliefert zu haben. Letztlich haben die polizeilichen Ermittlungen ergeben, dass Farkhunda unschuldig war. Sie habe sich in der Moschee mit einem Mullah über den Verkauf von »Tawiz« (Talismane, die von Mullahs ausgestellt werden) gestritten.

 

Sie habe diese kritisiert, weil sie nicht Teil des Islam seien, sondern nur Aberglaube und die Mullahs daran verdienten. Im Disput sei ihr dann, um ihre Kritik zu überspielen, vorgeworfen worden, dass sie den Koran verbrannt habe. Dabei war Farkhunda selbst, wie ihre Familie nachträglich beweist, eine religiöse und islamisch ausgebildete Frau. Sie studierte täglich den Koran, unterrichtete ihn sogar und trug einen Ganzkörper Schleier. Sie sei eine religiöse Frau gewesen, die sich an alle Regeln einer streng-konservativen Auslegung des Islam hielt und diese sogar propagierte.

 

Ist Farkhundas grausamer Tod ein Wendepunkt für die afghanische Gesellschaft?

 

Viele Frauen und Aktivistinnen fühlen sich existenziell bedroht: Jede Frau hätte Farkhunda sein können. Um so erschreckender ihr qualvoller Tod und um so größer die Empörung der Afghanen – auch derer, die grundsätzlich keine bedingungslosen Verfechter der Menschenrechte sind. Die Menschen auf den Straßen sind daher nicht allein Aktivisten oder Frauenrechtler, sondern auch gewöhnliche, eigentlich unpolitische oder sogar konservative Afghanen und Afghaninnen.

 

Dieser kollektive Aufschrei durch die vereinende Person Farkhunda, die wohl keiner Gruppe eine Angriffs- oder Legitimationsfläche bietet, beinhaltet ein ebenso großes Potenzial. Elnaz Arabzada, eine Soziologieprofessorin aus Kabul, erzählt dem Online-Magazin The Daily Beast, dass sie befürchtet hatte, das Land verlassen zu müssen. Die schwangere Frau war zu Farkhundas Trauerfeier gekommen, um ihren Sarg zu begleiten und zu sehen, ob die Männer ebenso erschüttert waren wie sie als Frau.

 

Wären sie stumm mitgelaufen, hätte sie das Land verlassen, so Arabzada. Aber als sie inmitten der weinenden Männer die Teilhabe der Zivilgesellschaft sah, fasste sie wieder Hoffnung. Vielerorts liegt nun die Hoffnung in der Luft, dass der Mord an Farkhunda einen Wendepunkt eingeläutet haben könnte. Vielleicht könnte diese gemeinsame Wut und das geteilte Unbehagen eine Basis für eine Bürgerrechtsbewegung oder den Beginn einer afghanischen Zivilgesellschaft bedeuten.

 

Der afghanische Bestseller-Autor Khaled Hosseini fast diesen Gedanken wie folgt zusammen: »Wird der Mord an Farkhunda ein Wendepunkt sein? Werden die richtigen Schlüsse gezogen und dies der Moment sein, an dem eine kritische Masse der Empörung endlich erreicht wird und die Menschen schreien: Genug!« Die Möglichkeit besteht, denn im Grunde lässt sich eine Diskurverschiebung beobachten, die die als selbstverständlich empfundene Gewalt seit dem Aufstieg der Taliban erstmals so nachdrücklich in Frage stellt. Die Idee der Lynchjustiz ist keine Neuheit, sondern viel mehr Konsens in Afghanistan. Dieser gesellschaftliche, aber unausgesprochene Konsens wird nun vielen erschrockenen Afghanen bewusst und aktiv kritisiert.

 

Die Täter sind keine Taliban, sondern gewöhnliche Bürger

 

Noch ist die Hauptforderung der emotionalen und wütenden Demonstranten, dass alle Beteiligten und Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und schließlich, wie nicht unüblich in Afghanistan, zum Tode verurteilt werden. Doch hinter der Forderung nach der Strafverfolgung der Täter werden auch Stimmen laut, die eine viel größere Herausforderung erkennen. Denn diese Täter sind keine eingetragenen Kriminellen, keine Taliban und auch kein IS-Anhänger.

 

Es sind zum großen Teil zufällige Passanten, gewöhnliche Bürger, die kurzerhand zu Gelegenheitsmördern mutierten. Eine Entwicklung, die mit unterdrücktem Hass und einem gesamtgesellschaftlichen Gewaltpotenzial zusammenhängt, das anerkannt, untersucht und überwunden werden müsste. Aktivist Azizullah Royesh betont, dass viele Afghanen vor allem schockiert darüber waren, dass Farkhunda in aller Öffentlichkeit hingerichtet werden konnte, ohne dass ihr jemand half. Er sieht in ihrem Tod einen Anlass zur kollektiven Selbstanalyse unter den Menschen, »um die miserbalen Umstände, unter denen sie selbst leben, zu erkennen«, so Royesh.

 

Denn Schließlich sei Farkhundas Tod die Folge der je eigenen, viel zu langen Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber der Außenwelt. Dementsprechend lautet seine persönliche Forderung: »Es ist Zeit zum Umdenken für uns Afghanen.« Eine Forderung, die der neu amtierende Präsident Aschraf Ghani allein nicht umsetzen können wird, aber für dessen Rahmenbedingung er verantwortlich ist. Ghani war während des Vorfalls auf seinem ersten offiziellen Besuch in Washington und im Begriff, sein Land als einen demokratiefähigen Rechtsstaat zu porträtieren.

 

Er ist sich aber auch bewusst, dass Afghanistan weiterhin militärische und wirtschaftliche Hilfe von den USA benötigt. Noch während er in Washington war, verurteilte Ghani den Angriff auf Farkhunda und versprach eine lückenlose Ermittlung. Bereits am 24. März gab der Innenminister Noor-ul-Haq Ulumi bekannt, dass 28 Hauptverdächtige verhaftet und die verantwortlichen Polizisten allesamt ihres Amtes enthoben wurden.

 

Dennoch bleibt zu hoffen, dass die Bearbeitung des Mordfalls keine rein staatliche Aufgabe bleibt, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Verarbeitung nach sich zieht. Denn letztlich beobachten wir nichts anderes als die Folgen jahrelangen Krieges, einer Terrorherrschaft durch die Taliban und weiterhin andauernder materieller Armut und eines unzulänglichen Bildungssystems in Afghanistan. Ein Missstand, der allein weder durch militärische Intervention, noch durch wirtschaftliche Stabilität behoben werden kann.

Von: 
Moshtari Hilal

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