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Jesidische Flüchtlinge im Irak

Betroffenheit ist keine Hilfe

Feature

Jesidische Flüchtlinge im Irak sind Perspektivlosigkeit, Hunger und Krankheit ausgesetzt. Hilfsorganisationen und Entscheidungsträger sind in der Pflicht zu helfen, statt sich mit Mitleidsbekundungen in Szene zu setzen, meint Hendrik Fenz.

Es seien über 50 Nichtregierungsorganisationen bei ihm gewesen, sagt der Leiter des Flüchtlingskamps von Khenake. Kaum eine habe etwas dagelassen an so dringend benötigtem Material, Personal und Know-how. Alle aber seien sie mit medienwirksamen Bildern wieder gegangen, um sich selbst zu vermarkten. Diese »Hilfe« bräuchte er nicht weiter. Der Ärger und das Gefühl, benutzt zu werden, klingen deutlich aus seinen Worten heraus. Glücklich, wer wie hier in Khenake landet und auf ein zumeist vom UNHCR bereitgestelltes Zelt trifft.

 

Vor Regen und Schnee schützend auf einem Fundament platziert, Strom und Plumpsklos in der Nähe, ist es zum ersten Mal seit vielleicht Wochen ein angstfreier Rückzugsraum. Die anderen Flüchtlinge, soweit sie nicht bei Bekannten unterkommen, leben unter Brücken, unter fragilen Zeltplanen oder in noch fenster- und wandlosen Neubauskeletten, aus denen Menschen auch zu Tode fallen können, wie es vor ein paar Tagen einem Mädchen widerfuhr. IS-Terroristen gehen seit Anfang August gegen jesidische Dörfer in Nordsyrien und dem Nordwestirak vor und noch immer finden Frauen, Kinder und Männer ihren Weg in die Camps, von denen es allein in der Provinz Dohuk sechs gibt.

 

Khenake erstreckt sich weit am Rande von Dohuk. Häuser und Höfe finden zwischen den ausgetrockneten Äckern reichlich Platz. Für das jesidische Dorf ist es eine Selbstverständlichkeit, selbst die Flüchtenden aufzunehmen – obwohl es sich dabei in den materiellen und physischen Ruin zu treiben droht. Im August, als die ersten Flüchtlinge eintrafen, rechnete man noch mit 2.000 Personen. Das Internationale Rote Kreuz baute in eben diesem Umfang Zelte. Als diese nach wenigen Tagen standen, waren es bereits 4.000. Wieder wurde Material beschafft, gebaut, organisiert – und inzwischen waren 8.000 Flüchtlinge eingetroffen. Mitte Oktober dann 30.000 allein in diesem Camp, und schon wieder sitzen Neuankömmlinge auf Matratzen und Decken im Staub und warten auf Hilfe. Rund um Khenake sind es nunmehr über 100.000 Menschen.

 

Neben dem Camp liegt die Ortsklinik. Deren Warteraum ist erstaunlicherweise nicht stärker gefüllt ist als in einem deutschen Krankenhaus. Drei Ärzte mühen sich hier so gut es eben geht um die Patienten. Aber was können drei Assistenzärzte und der Zahnarzt schon tun, als sich selbst auszubeuten. Vier für 100.000. Unterstützung erhalten sie durch einen Allgemeinarzt, der in Dohuk für ein Zentrum für Gewaltopfer arbeitet.

 

An einem Tag in der Woche ist er im Camp, ebenso wie jener Psychologe, der kommt, um traumatisierte Menschen, meist Frauen, zu – ja was: zu behandeln? Angesichts der Massenvergewaltigungen, die von den IS-Kämpfern als Waffe nicht nur gegen die Frauen und Mädchen, sondern gegen den inneren Zusammenhalt eines Volkes gerichtet ist, bleibt wenig mehr als Zuspruch, Zuhören und (vielleicht) seelische Entlastung übrig. Hier wäre internationale Hilfe hochwillkommen: Traumaspezialistinnen, Supervisorinnen und Gynäkologinnen, Weiterbildungen und Trainings.

 

Und dann steht da noch diese Babynahrung im Büro: Acht Kartons, an die zweihundert Dosen, hat eine Privatperson gestiftet. Sie müssen reichen, die Kleinsten zu ernähren. Getan wird, was immer schon getan wurde: Mütter werden die Nahrung mit Wasser verdünnen. Sauberes Wasser, gar abgekocht? Der Campleiter muss nun doch lachen über soviel Naivität. Allein die Frage danach scheint ihm deplatziert. Kein Brennmaterial, keine Heizungen im Winter, Wasser kommt über Tanklaster zum Camp. So sieht die Realität aus.

 

Drei Monate, von Beginn an, sei er hier, hat seine bezahlte Stelle im Krankenhaus aufgegeben, ist zum Camp gezogen und arbeitet für die Flüchtlinge. Einige Kilometer weiter in Dohuk residiert ein Unternehmer in seinem Anwesen. Dem Millionär, reich geworden mit Nahrungsmitteln und Haushaltswaren, geht es gut, er hat ausgesorgt und lamentiert beim Tee über – einmal mehr fällt dieser Begriff – mediengeile Hilfsorganisationen sowie über korrupte Politiker. Neun von zehn Kurden seien hier korrupt, heißt es in diesem Rahmen, unter der PKK in der Osttürkei höchstens einer von tausend.

 

Ist das eine frustrierte Meinung, die mehr die Hilfslosigkeit angesichts des Krieges spiegelt, oder ein politisches Statement? Er hat für sich eine Entscheidung getroffen, seine Firmen verkauft und investiert das Geld nun zugunsten der Vertriebenen. Wie andere auch: Allein in den Aufbau des Khenake-Camps sollen sechs Millionen US-Dollar von internationalen Organisationen geflossen sein, gebündelt und verteilt über die regierungsnahe »Barzani Foundation«. Hunderttausende Dollar seien auf dem Weg zur Stiftung in dunklen Kanälen versickert.

 

Trotz gegenteiliger Bekundungen: Die Hilfe vor Ort reicht bei weitem nicht aus

 

Während Baufirmen im Camp heftig an Fundamenten, Stromnetzen und Straßen werkeln und bezahlt werden, wird im Kleinen deutlich, wie Flüchtlingsbusiness auch funktioniert: Vor dem Camp hocken Straßenhändler und bieten gebrauchte Pullover, Hosen und Jacken an. Großhändler hatten die für die Erstversorgung der Ankommenden gespendete Kleidung zuvor aufgekauft. Nun werden diese Textilien für 50 Cent oder einen Euro in Khenake weiterverkauft. Über all diesem Elend, den Geschäften und dem ruinösen Engagement Einzelner erhebt sich auf einem Hügel ein Türbe, das Grabmal eines verehrten Jesiden.   

 

Verglichen mit den Jesiden erfahren auch die vor dem IS geflohenen Christen ein ähnliches Schicksal, haben aber »Glück im Unglück«. Während Christen in Deutschland für Christen in Kurdistan spenden, kann sich Bischoff Baschar der örtlichen chaldäischen St. Josephs-Kirche ebenso beruhigt zurücklehnen wie der für die christlichen Minderheiten zuständige Staatssekretär Khaled al-Ban. Zwar mache sich auf dem Kirchengelände eine Zeltstadt breit, gleichzeitig sei die Situation unter Kontrolle. Bis zum Winter seien auch alle 12.000 christlichen Flüchtlingsfamilien untergebracht und versorgt.

 

Auf politischer Ebene leistet sich Kurdistan mit je einem Staatssekretär für Christen und Jesiden eine Besonderheit, die den meisten Staaten zur Ehre gereichen würde. Umso verwunderlicher, dass westliche Politiker, während sie in Interviews ihr Mitgefühl mit Jesiden pflegen, den politischen Repräsentanten eben dieser Jesiden zu ignorieren vermögen. Wenn sich eine deutsche Betroffenheitspolitikerin im kurdischen Fernsehen über die jesidische Tragödie auslässt, ohne den Staatssekretär Khairi Bozari zu treffen, dann sagt das viel über ihre Selbstdarstellung in den Medien aus.

 

Hilft aber in Kurdistan niemandem weiter. Wenn dann noch staatliche Stellen in Deutschland darauf hinweisen, dass genügend Hilfe vor Ort geleistet würde, hält dies Beobachtern zufolge einer Überprüfung nicht stand. Die Wahrnehmungen der jeweiligen Seite gehen an dieser Stelle weit auseinander.

 

Ermutigende Signale aus Hessen und Baden-Württemberg

 

Was hilft, sind konkrete Zusagen. So seien die Signale der Landesregierungen von Hessen und Baden-Württemberg sehr ermutigend. 1.000 traumatisierte Frauen und Mädchen in Deutschland aufzunehmen und zu versorgen, bedeutet für diese vielleicht nicht weniger als die Rückkehr ins Leben. Hilfe vor Ort zu leisten, in Dohuk, Erbil und all den namenlosen Orten in Kurdistan, muss gleichzeitig das eigentliche Ziel der deutschen Bemühungen sein.

 

Niemand glaubt im Ernst, dass Europa die hunderttausenden Flüchtlinge aufnehmen könnte. Sie leben hier, in Kurdistan, und haben hier ihre Wurzeln, ihre Sprachen und Kulturen. Hier gilt es zu helfen. Das Leben geht derweil in Dohuk – wie auch in Erbil – seinen geregelten, manchmal chaotischen, jedenfalls üblichen Gang. Die Stadt explodiert – nicht wegen des Krieges, sondern wegen seines schnellen Wachstums. Baustellen allerorten, die Preise hoch und der Lebensstandard für die eigentlichen Bewohner auch.

 

Nur: Wie lange noch? Berlin streitet gerade über einige Dutzend zumeist afrikanische Flüchtlinge, die es wagen, öffentlich auf Dächern Hilfe einzufordern. Flüchtlingsheime stehen wegen Misshandlungen von Bewohnern in der Kritik, ebenso wie die Landespolitiker. Die meisten politischen Akteure scheinen überfordert mit der Situation. Wenn nun eine Stadt wie Dohuk, in der etwa 500.000 Menschen leben, mit zehntausenden Flüchtlingsfamilien konfrontiert ist, wie soll das gutgehen?

 

Darauf zu warten, dass der selbstentfesselte Terror den IS allein wegen seiner exzessiven Gewalt demnächst von selbst kollabieren lässt, ist zu wünschen, aber ist es auch wahrscheinlich? Solange das unklar bleibt, brauchen die Flüchtlinge, gleich ob Jesiden oder Christen, Syrer oder Iraker, eine Perspektive. Ihre Zukunft liegt nun in Dohuk, Erbil und wo auch immer sie unterkommen. Hier muss die Hilfe hin. Und erst danach kann man Interviews geben.


Hendrik Fenz arbeitet in Freiburg und leitet das Büro für Mediation. Für ein von der Gerda-Henkel-Stiftung gefördertes Projekt untersucht er zurzeit traditionelles islamisches Konfliktmanagement.

Von: 
Hendrik Fenz

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