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Kämpfe in Aleppo

Der Fall, der keiner war

Analyse

Von Waffenruhe keine Spur: Über das Eid-Wochenende bekämpften sich in Aleppo erstmals FSA-Rebellen und kurdische Milizen. Aleppo ist nicht gefallen, doch die Lage in der Millionenstadt droht sich weiter zu verschlechtern.

Der Blogeintrag kam aus heiterem Himmel: »Das Regime scheint die Stadt aufzugeben«, schrieb der US-amerikanische Syrien-Experte Joshua Landis am 25. Oktober auf Syria Comment. Die Meldung platzte unvorhergesehen in die Diskussionen um einen mehrtägigen Waffenstillstand zum islamischen Opferfest.

 

Unter Berufung auf lokale Quellen beschrieb Landis, wie Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) die mehrheitlich christlichen und kurdischen Stadtteile Aleppos – Jdaideh und Aschrafiya – besetzten, ohne auf Widerstand der syrischen Armee zu stoßen. Auch der Live-Blog des britischen Guardian übernahm diese Meldung.

 

In zahlreichen deutschen wie internationalen Redaktionen und unter vielen der Korrespondenten vor Ort in Syrien stieß die Nachricht jedoch auf Skepsis. Wie war es möglich, dass das militärische Patt in Aleppo, das über die letzten Wochen so ver- und festgefahren wirkte, urplötzlich in einen Sieg der Rebellen gedreht werden konnte?

 

Dass nur wenige Stunden auf die ursprüngliche Siegesmeldung das Dementi folgte, schien die Gemüter zu beruhigen: Nein, Aleppo war nicht gefallen, die wenigen Straßenzüge, in die die Freie Syrische Armee vorgestoßen war, wurden bei Einbruch der Dunkelheit von Panzern der Armee zurückerobert. Einerseits bleibt damit alles beim Alten, dem Töten, dem Sterben – hinter den Kulissen könnte sich jedoch eine Konstante des bisherigen Krieges in Aleppo neu ausrichten.

 

Bislang war es eben nicht die syrische Armee, die im kurdischen Aschrafiya patrouillierte, sondern Kräfte der »Partei der Demokratischen Union« (PYD), dem syrischen Arm der in der Türkei aktiven PKK. Mit der kurdischen Miliz hatten sowohl die Freie Syrische Armee, als auch das Assad-Regime informelle Vereinbarungen geschlossen – im syrischen Bürgerkrieg plante die PYD neutral zu bleiben, indem sie keiner der beiden Seiten erlaubte, von ihrem Gebiet aus zu operieren.

 

Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, interne Konflikte mit anderen kurdischen Parteien zu schlichten und eine eigene Administration, insbesondere im Norden des Landes, aufzubauen. Verschiedene Quellen in Aleppo berichteten, dass Rebellen diese Übereinkunft gebrochen hätten, als sie versuchten, am Donnerstag in Aschrafiya Checkpoints zu errichten.Von Anwohnern aufgefordert, sich zurückzuziehen, kamen sie dieser Bitte nach. In der Folge bombardierte die syrische Armee jedoch den Ortsteil und tötete nach Angaben der kurdischen Partei 15 Zivilisten.

 

»Der Angriff auf kurdische Stadtteile war ein Fehler«

 

Am folgenden Tag begaben sich nach Angaben der zur PYD gehörenden YPG, die als Bürgermiliz in kurdischen Gebieten aktiv ist, jedoch abermals Einheiten der Rebellen in den Bezirk und feuerten auf einen Demonstrationszug, fünf Menschen starben. Ein FSA-Kommandeur verkündete gar die »Befreiung des Stadtteils«.

 

Bei anschließenden Feuergefechten starben nach Angaben eines YPG-Vertreters 19 FSA-Rebellen, unter ihnen angeblich 7 Kurden. Welche Gruppen an diesem Vorstoß beteiligt waren, ist bislang nicht ohne Zweifel geklärt. Nach Informationen des Nahost-Journalisten Zaid Benjamin seien auch Kämpfer der islamistischen Jabhat al-Nusra eingebunden gewesen, um die Bewohner Aschrafiyas »vor der Gewaltherrschaft der PYD zu retten«, so ein von Benjamin zitierter FSA-Kämpfer.

 

Die Jabhat al-Nusra ist strukturell und finanziell von der Freien Syrischen Armee unabhängig, operiert in Aleppo jedoch teils gemeinsam mit regulären Rebellenverbänden. Nicht nur die Position der syrischen Rebellen gegenüber der PYD ist belastet, auch innerhalb der kurdischen Gemeinschaft wächst die Kritik am Verhalten der Parteiführung.

 

Diese hofft noch immer, in einer Nachkriegsordnung größere kurdische Autonomie durchsetzen zu können, ohne sich dafür gegen die Baath-Partei auflehnen zu müssen. Andere kurdische Vereinigungen wie etwa die »Kurdische Freiheitspartei« (Azadi) kritisieren sie dafür und zahlreiche Jugendliche haben sich darum inzwischen der Freien Syrischen Armee angeschlossen.

 

Offen können sie in PYD-kontrolliertem Gebiet nicht agieren – dass sie die Politik der Demokratischen Union zu Untergrundkämpfern macht, legen sie ihr durchaus als Unterstützung Assads aus. Umgekehrt versucht die PYD ihre Anhänger zu mobilisieren und sie hinter der Idee politischer Neutralität zu versammeln.

 

Am Samstag, dem 27. Oktober, demonstrierten in der kurdischen Ortschaft Efrin mehrere hundert PYD-Anhänger gegen die Freie Syrische Armee und deren Angriff auf Aschrafiya. Die militärische Führung der FSA bemüht sich indes den Konflikt zu entschärfen: »Der Angriff auf kurdische Stadtteile war ein Fehler«, so FSA-Vizekommandeur Malik al-Kurdi. Über Drittpersonen bereite man aktuell den Austausch von Gefangenen beider Seiten vor.

 

Dem saudisch finanzierten Satellitensender Al-Arabiya teilte die PYD mit, sie wolle auch weiterhin keine fremden Bewaffneten auf ihrem Gebiet tolerieren – für den Granatbeschuss durch die syrische Armee strebe man Vergeltung an. Noch ist Vieles unklar, was am Wochenende geschah. Sollte die Feierlichkeiten zum Opferfest eigentlich ein Schweigen der Waffen begleiten, sind die Frontlinien in Aleppo nun unklarer als je zuvor. Ob die PYD sich neu zum Bürgerkrieg positioniert, oder die innerkurdischen Konflikte zunehmen werden, bleibt unklar.

Von: 
Nils Metzger

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