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Konfrontation in Ägypten

Der Kampf um Versionen

Analyse

Nach der blutigen Eskalation vergangene Woche entbrennt ein Kampf um die Deutungshoheit. Die Muslimbrüder beschuldigen bezahlte Schläger und Kräfte des alten Regimes. Die Konfrontation lässt keinen Platz für eine objektive Aufarbeitung.

Die 7 Toten und rund 700 Verletzten vor dem Präsidentschaftspalast in der Nacht auf Donnerstag sind der erste tödliche Zusammenstoß zwischen Gegnern und Anhängern des Präsidenten während Muhammad Mursis Amtszeit. Die Ereignisse haben die Dynamik zu Ungunsten der Muslimbrüder gewendet. In der Opposition lässt kaum jemand Zweifel daran, wo die Verantwortung zu suchen ist, wenn Teilnehmer eines Sit-Ins gegen den Präsidenten von Anhängern des Präsidenten angegriffen werden.

 

Die beiden Hauptprotagonisten der Opposition, Hamdeen Sabbahi und Mohamed El Baradei, erklärten, dass die Legitimität des Präsidenten nunmehr »in völliger Auflösung« begriffen sei. Doch schon die konträren Deutungen des Gewaltausbruchs spiegeln wieder, wie festgefahren die Lage zwischen Anhängern der Muslimbrüder und ihren Opponenten ist. Auf der Website der Muslimbrüder wird der Vorwurf der Opposition postwendend umgedreht.

 

Die Opposition, namentlich Hamdeen Sabbahi und El Baradei, seien demnach hauptverantwortlich. Diese sollen mit Loyalisten des alten Regimes kooperieren, welche Schläger bewaffnen und auf friedliche Demonstranten loslassen. Journalisten und Augenzeugen vor Ort können die Ereignisse dieser Nacht hinreichend dokumentieren.

 

Demnach brachen am späten Mittwochnachmittag Kämpfe vor dem Präsidentschaftspalast aus, als eine verhältnismäßig kleine Gruppe von einigen hundert Demonstranten, die am Vortag ein Protest-Camp vor dem Präsidentschaftspalast errichtet hatte, von einer zahlenmäßig weit größeren Gruppe an Mursi-Unterstützern angegriffen worden sei.

 

Die anwesenden Sicherheitskräfte trennten die kämpfenden Fraktionen zeitweise mit Tränengas, doch in der darauffolgenden Nacht eskalierte die Lage. Es kamen Waffen zum Einsatz, neben Schrotgewehren und Messern vereinzelt auch scharfe Munition. Dem Fotojournalisten Al-Husseini Abu Deif wurde beim Fotografieren eines Angriffs von Mursi-Unterstützern auf Gegendemonstranten die Kamera entrissen und aus nächster Nähe mit einem Schrotgewehr in den Kopf geschossen.

 

Nach zwei Tagen im Koma erlag er seinen Verletzungen. Die Zeitung El Fagr, für die er arbeitete, macht Pro-Mursi Demonstranten für seinen Tod verantwortlich. Dass die Zusammenstöße mit den Protestierenden vor dem Palast zumindest von Teilen der Muslimbrüder im besten Falle einkalkuliert, im schlimmsten Falle gezielt gesucht wurden, ist mehr als wahrscheinlich.

 

Ein führendes Mitglied der Organisation erwiderte im Vorfeld der Eskalation gegenüber der Zeitung Al-Ahram auf die Frage, ob die geplante Gegendemonstration der Muslimbrüder vor dem Palast nicht unweigerlich zu Zusammenstößen führen würde: »Wir lassen passieren, was passieren mag.«

 

Die Muslimbrüder schaffen Beweise

 

Im Verlauf der Zusammenstöße nahmen Unterstützer der Muslimbrüder außerdem 83 »oppositionelle Schläger« vorübergehend gefangen. Diese wurden erst dann der Polizei übergeben, nachdem sich anwesende Unterstützer der Muslimbrüder kurzerhand selbst polizeiliche Kompetenzen übertragen hatten. Einem Anwalt der Muslimbruderschaft zufolge hätten die Gefangenen Geständnisse abgelegt, 6 Mitglieder der Muslimbrüder getötet und Hunderte weitere verletzt zu haben.

 

Er spricht von »glasklaren und gut dokumentierten Beweisen«, wonach führende Oppositionspolitiker und Medienpersönlichkeiten die Gewalt angestachelt hätten. Im Gegensatz zu diesen angeblichen 6 Toten der Muslimbrüder, wurden nach dem Freitagsgebet in der Al-Azhar-Moschee auf einer Trauerkundgebung für Mitglieder der Organisation jedoch nur zwei in den Zusammenstößen gestorbene Mitglieder zu Grabe getragen.

 

In der folgenden politischen Auseinandersetzung ging es jedoch ohnehin nicht um die Aufarbeitung des blutigsten Zusammenstoßes seit Mursis Amtsantritt. Was folgte war ein Kampf um Versionen und Deutungshoheiten. Bei einem Treffen in der Zentrale der Muslimbrüder in Kairo sprach »Murschid« Muhammad Badie, der geistige Führer der Organisation, gar von 8 »Märtyrern« und knapp 1500 Verletzten aus den Reihen der Brüder. Damit widerspricht seine Darstellung nicht nur  den offiziellen Angaben, sondern sogar jenen seines Stellvertreters Khairat Al-Shater, welcher von  6 Toten der Muslimbrüder spricht.

 

Revolution als Argument gegen den Gegner

 

Auf der Pressekonferenz der Brüder wurden darüber hinaus Beschuldigungen gegenüber den Medien aufgebracht, welche aus ihrer Sicht verzerrte Versionen der Ereignisse vermittelten. In der Darstellung der Muslimbrüder wurden die Zusammenstöße von Anhängern des alten Regimes initiiert, welche mit der Opposition kooperieren und den »Erfolg der Revolution verhindern« wollten.

 

Das Berufen auf die Revolution und die Brandmarkung der politischen Gegner als »Feinde der Revolution« zählt mittlerweile im post-revolutionären Ägypten zum Standardprogramm beim Versuch, den politischen Gegner zu delegitimieren. In der Version der Muslimbrüder werden ihre Schläger vor dem Präsidentschaftspalast zu Verteidigern der Revolution und ihre politischen Gegner zu bezahlten Krawallmachern des alten Regimes.

 

Doch diese Herangehensweise gilt für beide Seiten des politischen Spektrums. Ein großer Teil der Opposition wird nicht müde, Mursi mit Mubarak gleichzusetzen und den Muslimbrüdern den Ausverkauf der Revolution vorzuwerfen. Dabei wird vergessen, dass nicht wenige Mitglieder der Muslimbrüder unter Mubarak viele Jahre im Gefängnis verbrachten. Teile der Muslimbrüder hatten sich zwar, vor allem ökonomisch, im alten Regime arrangiert, doch ein beträchtlicher Teil stand in genuiner Opposition zu diesem.

 

Wer ist hier demokratisch?

 

Nicht nur die Revolution und deren Todesopfer werden in der aktuellen  Auseinandersetzung als Legitimationsargument der eigenen Seite und zur Entwertung des politischen Gegners genutzt. Darüber hinaus werfen beide Seiten der jeweils anderen vor, anti-demokratisch zu sein. Die Demonstranten der Muslimbrüder beschuldigen die Opposition, die demokratische Wahl Mursis zum Präsidenten nicht zu respektieren.

 

Mursi selbst erklärte in seiner ersten Fernsehansprache nach den Zusammenstößen: »Demokratie bedeutet, dass die Minderheit den Willen der Mehrheit akzeptiert.« Dies ist ein demokratisches Grundgebot, welches jedoch auch die andere Seite der Gleichung bedarf: Demokratie bedeutet, die Rechte von Minderheiten zu respektieren und die Gewaltenteilung zu akzeptieren.

 

So beschuldigt die Opposition Mursi, sich diktatorische Vollmachten zuzulegen, um eine Verfassung durchzubringen, welche den ideologischen Zielen seiner Organisation entspricht und individuelle Freiheitsrechte gefährden könnte. In dieser Auseinandersetzung um die demokratische Legitimation haben beide Lager  tragende Argumente auf ihrer Seite.

 

Auch wenn Muhammad Morsi in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen nur wenige hundertausend Stimmen mehr als sein gegenwärtiger Opponent Hamdeen Sabbahi erhielt, während über die Hälfte der 50 Millionen Wahlberechtigten überhaupt nicht an die Urnen ging, ist seine Präsidentschaft einer der wenigen demokratisch legitimierten Pfeiler im gegenwärtigen Machtkampf.

 

Das Parlament, in welchem die Islamisten der Muslimbrüder und Salafisten eine Mehrheit hielten, ist aufgelöst, die verfassungsgebende Versammlung nach den Austritten von Liberalen, Linken von Christen nicht mehr repräsentativ für die ägyptische Gesellschaft. In Anbetracht seiner demokratisch legitimierten Machtfülle steht dieser Präsident jedoch umso mehr in der Verpflichtung, trotz seiner Zugehörigkeit zu den Muslimbrüdern – die er nur pro forma vor Amtsantritt ablegte – überparteilich zu agieren.

 

Diesen Anspruch beteuerte Muhammad Mursi zwar rhetorisch immer wieder, seine politischen Schritte sprachen jedoch eine andere Sprache. Nach der jüngsten Eskalation wurde im Präsidentschaftsamt Mursis offen darüber nachgedacht, dem Militär Polizeigewalten zuzuschreiben. Dies käme den Verhältnissen unter der Zeit der Militärherrschaft gleich, als das Militär Prozesse gegen auf Demonstrationen verhaftete Zivilisten durchführte.

 

Womöglich war diese Überlegung nur eine weitere Maßnahme im Kampf um Versionen, denn es würde die Interpretation der Muslimbrüder unterstreichen, dass auf den Demonstrationen gegen den Präsidenten lediglich bezahlte Krawallmacher am Werke seien – und keine Demonstranten, welche die politischen Schritte des Präsidenten kritisieren.

 

Gravierende Fehlkalkulation der Muslimbrüder?

 

Zur Reduzierung weiterer Eskalationen haben die Muslimbrüder dennoch die Zügel in der Hand. Eine Anordnung ihres geistigen Führers Badie hätte verhindern können, dass gewaltbereite Anhänger an dem Ort eine Kundgebung veranstalten, wo die Opposition demonstriert. Am Wochenende zuvor, als hunderttausende Anhänger und Gegner auf Kairos Straßen waren, hatte man wohlweislich diese Vorsicht walten lassen.

 

Es ist nicht auszuschließen, dass die Muslimbrüder mit der Demonstration ihrer Anhänger vor dem Präsidentschaftspalast Stärke demonstrieren wollten, um ihre Deutung der Machtverhältnisse zu unterstreichen: Wir sind die eigentliche Mehrheit im Land. Sollte dies die Kalkulation gewesen sein, ist sie gründlich nach hinten losgegangen. Die Opposition ist so unversöhnt wie nie zuvor.

 

Zu einem Dialog mit der Opposition, zu dem Mursi am Samstag aufgerufen hatte, erschien außer dem Liberalen Ayman Nour keiner der bedeutenden Oppositionspolitiker. Muhammad Mursi hat in einer Erklärung nach dem Treffen zugesichert, seine autoritären Vollmachten wieder zurückzunehmen. Doch der Termin für das Referendum soll beibehalten werden. Dies würde an der weiteren Entwicklung wenig ändern.

 

Das weiß die Opposition, deren Sprecher Khalid Dawoud diesen Schritt »relativ bedeutungslos« nennt. Die Islamisten hingegen gehen davon aus, dass die Demokratie für sie arbeiten wird, wenn sich ein großer Teil der Bevölkerung am demokratischen Prozess gar nicht beteiligt. Die Mehrheit der Beobachter geht davon aus, dass das Referendum um die Verfassung allein deswegen zu Gunsten der Muslimbrüder ausfallen wird, weil viele dem Übergangsprozess müden Ägypter gar nicht zur Wahl gehen werden, während die Islamisten durch ihre autoritären Organisationsstrukturen in der Lage sein werden, ihre Basis zu organisieren.

 

Ob die Opposition dieses Blatt kurzfristig wenden kann, ist fraglich. Der Fahrplan sieht vor, dass nur im Falle einer Ablehnung der Verfassung im Referendum eine neue verfassungsgebende Versammlung ins Leben gerufen wird, die innerhalb von 6 Monaten einen neuen Verfassungsentwurf verabschieden soll. Derweil haben sich zwei sehr mächtige Institutionen des Landes in den Machtkampf eingeschaltet: Die Armee und die sunnitische Lehrinstitution Al-Azhar. Beide haben sich mit einem Dialogaufruf an die politischen Lager erstmals zu Wort gemeldet.

 

Die Armee unterbrach am Freitag das Programm des staatlichen Senders, um ein Statement zu verlesen. Darin warnte der Armeesprecher vor »katastrophalen Konsequenzen«, sollte die gegenwärtige Krise nicht durch Dialog gelöst werden. Er kündigte an, die Armee werde gegebenenfalls intervenieren, um zu verhindern, dass Ägypten durch eine »dunklen Tunnel« geht.

 

Von: 
Martin Hoffmann

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