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Kurden in Syrien und im Irak

Auferstehen aus Ruinen

Analyse

In Syrien haben sich die Kurden von Assad losgesagt und bauen eigene staatliche Strukturen auf. Auch im Irak hat sich die lange unterdrückte Volksgruppe weitreichende Autonomie erstritten. Sind die Kurden die Gewinner des Bürgerkrieges?

»Assad war noch nie mein Präsident«, ereifert sich Karwan. In diesem einen Satz ballen sich 24 Jahre Frust darüber, die eigene Sprache öffentlich nicht nutzen, die traditionelle Musik seiner Vorfahren nicht aufführen und das Selbstbewusstsein als Kurde nicht ausleben zu dürfen. In diesen Wochen blickt er dennoch hoffnungsvoll auf die politische Entwicklung seiner Heimatprovinz ar-Raqqa: In der ganzen Region haben kurdische Komitees die Regierungsarbeit übernommen.

 

Schon jetzt bauen sie eine unabhängige Provinzverwaltung auf und planen die Zeit nach Assad Seit ihrer Gründung im Jahr 1947 vertritt die syrische Baath-Partei eine radikale Haltung mit Blick auf den noch immer weit verbreiteten Tribalismus und Konfessionalismus im Vielvölkerstaat Syrien: Sie existierten schlicht nicht. Intellektuelle und Forscher, die das Gegenteil belegten, seien »Konterrevolutionäre«.

 

Doch so sehr Präsident Baschar al-Assad die interkulturelle Toleranz seines Regimes betont, so sehr geht sie an der Realität, in der das Regime immer wieder einzelne Konfessionen und Minoritäten gegeneinander ausspielte, vorbei. Die Kurden, die auch in den Nachbarländern Türkei, Irak und Iran auf einen eigenen Staat drängen, zählten oft zu den Benachteiligten, während Minderheiten mit schwächerem Unabhängigkeitsstreben, wie Drusen, Christen und Alawiten, an den Militärakademien und in Behörden deutlich öfter Karriere machten.

 

Seit sieben Monaten lebt Karwan nun als Gefangener des Bürgerkriegs in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Ursprünglich kam er, um sein Studium der Innenarchitektur an der staatlichen Libanesischen Universität zu beenden, dann eskalierte der Konflikt. Zwischen ihm und seinem Heimatort, einem Dorf drei Autostunden östlich von Aleppo, stehen jetzt die Divisionen der syrischen Armee wie auch die Verbände der Rebellen.

 

Sich irgendwie zur Familie durchzuschlagen, ist keine Option. Seine Angst, an der libanesisch-syrischen Grenze direkt zum Militärdienst eingezogen zu werden, fesselt ihn an Beirut. Trotz des anhaltenden Gemetzels in Aleppo und zunehmender interreligiöser Gewalt verbuchten die kurdischen Gebiete in den vergangenen Monaten deutlich mehr politische Erfolge als die im Rest des Landes aktive, zerstrittene Oppositionsbewegung.

 

Weitgehend kampflos hat sich die Armee in den letzten Wochen aus ar-Raqqa und al-Hasake zurückgezogen, gleichzeitig haben die gut bewaffneten kurdischen Milizen der »Union zum Schutz der Bevölkerung« (YPG) bislang keine Anstalten gemacht, sich in Massen der Freien Syrischen Armee anzuschließen, ihnen geht es vor allem um die Integrität ihres Territoriums.

 

Erbil dient als Vorbild

 

Viele der auf Gemeindeebene agierenden Lokalkomitees rekrutieren ihre Mitglieder aus den oftmals sozialistischen kurdischen Oppositionsparteien, erst Ende Juli kündigte Politbüro-Mitglied Mahmoud Mohammed vom syrischen PKK-Ableger PYD an, zwei der wichtigsten Dachorganisationen kurdischer Selbstorganisation fusionieren zu wollen.

 

Ziel sei, eine funktionierende Administration zu schaffen, die die kurdischen Gebiete effektiv regieren könne, sagte er der kurdischen Nachrichtenagentur Aknews. Fragt man Karwan, so regiert sein Präsident bereits in der nordirakischen Stadt Erbil. Von den Regionalkomitees, die seiner Aussage nach »nur den korrupten Beamten in die Hände spielen«, hält er wenig.

 

Sein Vorbild für den Aufbau eines unabhängigen Staats ist die autonome Provinz Nordirak, die über eine eigene Regierung, Budgethoheit und inzwischen sogar eigene, vom restlichen Irak unabhängige Visa verfügt. Getrieben von einem enormen Ölreichtum konnte Präsident Massud Barzani in den letzten Jahren eine verglichen mit dem Rest des Landes prosperierende Wirtschaft aufbauen und setzt auch in der Außenpolitik bewusst andere Schwerpunkte als Bagdad unter Premierminister Nuri al-Maliki.

 

Dass sich die syrischen Kurden nur bedingt auf den Syrischen Nationalrat als Unterstützer ihrer Interessen verlassen können, zeigt sich in dessen Verhandlungen mit der Türkei. Während die Türkei der syrischen Opposition zwar Zuflucht und Unterstützung gewährt, möchte Ankara unter allen Umständen ein Erstarken der kurdischen Kräfte in Syrien verhindern – zu groß ist die Angst, dass die PKK und andere sezessionistische Gruppen Oberwasser bekommen.

 

So sprach sich der Nationalrat bis zuletzt gegen eine Reform der Minderheitenrechte im post-revolutionären Syrien aus. Mehrfach hatte sich der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu eingeschaltet und die Entwaffnung kurdischer Milizen gefordert. In der Vergangenheit hatte die PKK Nordsyrien immer wieder als Operationsbasis für Anschläge in der Türkei genutzt.

 

»In 20 Jahren werden wir einen eigenen Staat auf der Weltkarte haben«

 

Während in der Türkei Premierminister Recep Tayyip Erdogan täglich schärfere Rhetorik gegenüber kurdischen Aktivisten anschlägt, dem Nachbar Syrien gar vorwarf, die PKK zu nutzen, um die Türkei zu »infiltrieren«, kündigten syrischer und kurdischer Nationalrat am 3. August schließlich an, sich zu Sondierungsgesprächen treffen zu wollen, um gemeinsame politische Ziele festzulegen.

 

Überfällig sind diese Verhandlungen längst. Wenn sie aber erfolgreich sein und eine Eskalation der Kurdenfrage verhindern wollen, müssen sie auch kurdische Vertreter aus dem Irak und der Türkei einschließen. Sollten die syrischen Kurden ihre Unabhängigkeit unilateral verfolgen, sind Konflikte vorprogrammiert.

 

Besonders die Türkei zeigte in den vergangenen Jahren keine Skrupel, auch über Ländergrenzen hinweg PKK-Stellungen unter anderem im Nordirak zu bombardieren. Der Vorteil der weitgehend auf tribalen Strukturen aufbauenden Regierung Nordiraks sind ihre politischen und familiären Bande in diverse Länder der Region.

 

Die staatenübergreifende Lobbyarbeit einflussreicher Clans wie Barzani und Talabani könnten nach Meinung des kurdischen Studenten Karwan die Grundlage für einen unabhängigen Staat Kurdistan bilden – der dann Teile Syriens, der Türkei, Iraks und Irans umfasst. »Ich wette mit jedem, dass wir in zwanzig Jahren einen eigenen Staat auf der Weltkarte haben werden«, prophezeit er.

Von: 
Nils Metzger

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