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Milizen in Libyen

Die Stunde der Milizen

Feature

Luftschläge gegen Islamisten zeigten kaum Wirkung, die unübersichtliche Gemengelage zwischen den zahlreichen Milizen macht die internationale Gemeinschaft ratlos. Wer gegen wen in Libyen kämpft – und wer am Ende die Überhand behält.

»Nach dem Ramadan sehen wir uns in einem demokratischen Libyen wieder«, sagte Mohamed. Es war Anfang Juli 2014, auf dem internationalen Flughafen von Tripolis herrschte Hochbetrieb – wie immer vor Beginn des Fastenmonats. Mohamed strahlte Zuversicht aus. Der Aktivist und sein Team bereiteten gerade ihre zweite Buchmesse vor. Wie im vergangenen Jahr sollten auf dem Märtyrerplatz im Herzen von Tripolis gebrauchte Bücher ausgetauscht werden. »Nur mit Büchern und Bildung, nicht mit Waffen können wir eine gerechte Gesellschaft ein Libyen aufbauen«, so der 28-jährige Ölingenieur aus dem Stadtteil Suk Al-Juma.

 

Milizen aus Wüstenstadt Zintan und zahlreiche unterschiedlich Uniformierte kontrollierten die in die Jahre gekommene Abfertigungshalle. Koffer türmen sich in den Schlangen der gerade frisch renovierten Airline-Schalter, doch trotz des lauten Chaos sah man überall lachende Gesichter. Die Hoffnung auf bessere Zeiten lag in der Luft. Nach monatelangen Protesten gegen die eigenmächtige Mandatsverlängerung des Nationalkongresses, dem ersten demokratisch gewählten Übergangsparlamentes in Libyens Geschichte, hatte sich der Volkswille doch noch durchgesetzt.

 

Der zuletzt von Islamisten dominierte Nationalkongress hatte dem Druck der Straße nachgegeben und Neuwahlen veranlasst. Die Macht der Islamisten schien der Vergangenheit anzugehören. Keine acht Wochen später scheint Libyen ein anderes Land zu sein. Der Flughafen ist nur noch ein rauchendes Trümmerfeld. Die Gerippe von Passagierflugzeugen und zerstörte Straßenzüge in Westtripolis erinnern eher an den somalischen Bürgerkrieg und nicht an den reichsten Staat Afrikas.

 

Gespannte Ruhe und Rachegelüste

 

Nach fünf Wochen erbitterter Kämpfe hatten sich die gut bewaffneten Zintanis und ihre Verbündeten, die Tripolitaner Sawaq- und Qaqaa-Milizen, zurückgezogen. Die Regierung und das neue Übergangsparlament, das Repräsentantenhaus, haben sich in das 1.200 Kilometer östlich von Tripolis gelegene Tobruk vor den Islamisten in Sicherheit gebracht. Junge Kämpfer aus Misrata und den religiös-konservativen Stadtteilen Suk Al-Juma und Tajoura patrouillieren in den Straßen der Hauptstadt.

 

Der Preis des Sieges der »Fajr – Morgendämmerung« genannten Aktion ist hoch. Zumindest für die Zivilisten zwischen den Fronten. Nach Angaben der Vereinten Nationen flüchteten mehr als 40.000 Hauptstädter aus ihren Häusern. Lange Schlangen vor den Tankstellen, Wasser und Lebensmittelknappheit brachten das Leben in ganz Westlibyen zum Stillstand. Zur Arbeit erscheint kaum noch jemand. »Der materielle Schaden kann ja behoben werden, aber die Polarisierung in den Köpfen wird neue Konflikte anfachen«, fürchtet ein Geschäftsmann.

 

Zwei Häuser weiter qualmt der Laden einer Familie aus Zintan. Junge Männer wären am Morgen vorgefahren und hätten wortlos Feuer gelegt, sagt er mit belegter Stimme. Vorher hätten sie noch »Misrata« an die Wand gesprayt. Die Wohnhäuser von 280 Familien aus Zintan und der Anhänger des neuen Parlamentes gingen in Flammen auf, beschwert sich ein Anführer der Zintanis. »Es ist eine Katastrophe.« In der konservativen und auf festen Nachbarschaftsstrukturen beruhende libyschen Gesellschaft ist das Eindringen in die Häuser ein ungeheurer Tabubruch, den selbst Gaddafis Schergen selten wagten.

 

»Schlimmer als zu Gaddafis Zeiten«, raunt denn auch jemand in der Menge, die sich auf der Omar-Mukhtar-Straße im Zentrum der Hauptstadt versammelt hat. Ein weiterer Tabubruch. Noch vor einem halben Jahr war es undenkbar, so etwas in der Öffentlichkeit zu sagen. Der Nationalkongress hat jede Kritik an der Revolution vom 17. Februar im letzten Jahr per Gesetz unter Strafe gestellt. »Morgendämmerung« nennen die Kommandeure aus Misrata und dem islamistischen Spektrum ihren Angriff gegen »in die Hauptstadt eingesickerte Gaddafi-Anhänger«.

 

In den Augen der gut situierten Bürger ist »Fajr« ein Griff der zu kurz Gekommenen, der  Ungebildeten und der Misratis und Muslimbrüder nach der Macht – unter dem Vorwand, den Islam und die Revolution zu retten. »Sie haben Waffen, Geld und Medien, aber nicht die Unterstützung des Volkes«, sagt Aly Takbali, der für den Bezirk Tripolis-Mitte in das Repräsentantenhaus gewählt wurde. Nur rund 20 der 200 Neu-Parlamentarier gehört im Parlament der Islamistenfraktion an. Die Mehrheit zählt wie Takbali zu moderat-konservativen und in ihren Stadtteilen angesehenen Persönlichkeiten. »Ich glaube wie die Mehrheit der Libyer an einen gemäßigten Islam, den wir ›Wasat – Mitte‹ nennen«, sagt Takbali. »Doch die in Nordafrika traditionelle religiöse Toleranz steht durch die Wahhabiten und Machtkämpfe der Milizen auf dem Spiel.«

 

Der 60-jährige Neu-Politiker mit dem strengen Blick entging vor zwei Jahren nur knapp einer Verurteilung wegen Verunglimpfung des Propheten. Auf seinem Wahlplakat verbat ein bärtiger Mann einer jungen Frau den Schulbesuch. »Ich wollte damit die Praktiken des politischen Islam kritisieren. Deren Vertreter rächten sich, indem sie behaupteten, auf dem Plakat wäre der Prophet abgebildet«, gibt sich Takbali kämpferisch. Nach internationalem Protest ließen die Richter von der Fortsetzung des Verfahrens ab, das mit der Todesstrafe hätte enden können.

 

Nun kämpft der aus der Altstadt von Tripolis stammende Takbali in Tobruk gegen den »Putsch der Islamisten«, wie er die Operation »Fajr« nennt. Doch der Konflikt hat viele Facetten. Nicht nur die Angst, in der Demokratie alles zu verlieren, was sie in den dem Chaos der letzten drei Jahre erreicht hatten, treibt die Misratis und die mit ihnen verbündeten Islamisten verschiedenster Schattierungen an. Ein tiefes Misstrauen, das Gefühl der Benachteiligung gegenüber anderen Städten, Stämmen und dem politischen Gegner ist wohl das schlimmste Erbe der 42-jährigen Gaddafi-Herrschaft.

 

Für viele Revolutionäre aus Misrata, das 2011 von Gaddafis Armee über drei Monate lang belagert worden war, stehen in der Hauptstadt, wo die Kämpfe nur drei Tage dauerten, alle unter Generalverdacht, Regimeanhänger zu sein. Wohl den größten Ausschlag dafür, Tripolis drei Jahre nach ersten Erstürmung wieder zu »befreien«, gab ein pensionierter General. Mit seiner »Karama – Würde« genannten Militäraktion geht Khalifa Hafter seit dem Frühjahr 2014 in Benghazi gegen die Milizen Ansar Al-Scharia, Rafallah al-Sahati und »17. Februar« vor. Flugzeuge der libyschen Luftwaffe bombardieren fast täglich deren Verstecke.

 

Auch Hafter hatte sich den Kampf leichter vorgestellt. »In zwei Monaten haben wir sie aus der Stadt vertrieben«, kündigte er anfangs großspurig an. Trotz der massiven Angriffe gewinnt aber eher Ansar Al-Scharia in der Hauptstadt der Provinz Cyrenaika an Einfluss. Hafter hat es immerhin geschafft, dass immer mehr Familien ihre Söhne aus den Fängen der gut zahlenden Islamisten holen. Doch das Grundproblem bleibt bestehen. Mit Ansar Al-Scharia verbündete Milizen werden sogar vom Staat bezahlt, der es gleichzeitig versäumt, jungen Männern eine Alternative zu den Milizen zu bieten.

 

Geheimtreffen in Istanbul

 

Nach den verlorenen Wahlen und einem Beschluss des Abgeordnetenhauses, ab Jahresende alle nicht in die Armee integrierten Milizen zu verbieten, hatte sich im Juli eine Gruppe von 15 führenden Köpfen der langjährigen Anti-Gaddafi-Opposition in Istanbul getroffen. Viele der Veteranen der so gennannten »Libysch-Islamischen Kampfgruppe« (LIFG) verbindet die Haftzeit im notorischen Gefängnis Abu Salim in Tripolis, in das auch westliche Geheimdienste Gaddafi viele Islamisten frei Haus lieferte, die sie in Afghanistan oder Pakistan aufgespürt hatten.

 

Gut informierte Kreise behaupten, in Istanbul sei der Beschluss gefasst worden, während des Ramadan die Macht in Tripolis zu übernehmen und ein Gegenparlament aufzustellen. Die mit Khalifa Hafter verbündeten Zintanis und deren Kontrolle über den internationalen Flughafen hätten der Luftwaffe eine Basis bieten können. Zwei Tage nach der Eroberung des Flughafens ließ Libyens Noch-Präsident Nuri Abusahmain das erloschene Mandat des Nationalkongresses wieder erneuern.

 

Es ist umstritten, wie viele der ursprünglich 200 Abgeordneten in der Kongresshalle am Hotel Rixos zusammen kamen, es waren wohl nicht mehr als 30, die den Islamisten Omar al-Hasi zu ihrem Premier wählten. Das Haus des international anerkannten Premierministers Ahmed Thinni ging zeitgleich im Tripolitaner Vorort Tajoura in Flammen auf. Dessen Nachbarn hatten noch versucht, aus den Flammen einige Möbelstücke zu retten, doch dunkler Rauch quoll bereits aus den Fenstern des Reihenhauses in Jansour.

 

Anders als die neuen Villen vieler der Kriegsgewinnler und Milizenkommandeure wirkt das Reihenhaus der Familie Thinni unscheinbar. Als er noch Verteidigungsminister war, entführten Unbekannte seinen Sohn. Erst als der zurückhaltende 50-Jährige den Aufbau der Armee mit weniger Elan anging, ließen Entführer den 21-Jährigen frei. Aus dem fernen Tobruk, wo er sich zusammen mit dem Parlament Anfang August in Sicherheit gebracht hatte, erklärte Thinni die »Fajr«-Anführer zu »Terroristen«. Kurz danach fuhren Toyota-Pickups vor dem leeren Haus vor, Maskierte stürmten das Haus.

 

Kurz vor der Stürmung des Flughafens waren Waffenlager und Artillerie der Misratis von Raketen unbekannter Kampfflugzeuge getroffen worden. Mindestens zehn junge Milizionäre starben. Zwar konnten die Jets den Sieg der »Fajr«-Allianz nicht stoppen. Im Gegenteil, sie haben in einer Nacht die gespaltene Gemeinschaft in Misrata zusammen geschweißt. Über 120 Familien hatten bereits ihre Söhne zuvor beerdigen müssen. Immer mehr Stimmen in der einzigen Industriestadt Libyens regten sich gegen den Bruderkampf mit Zintan.

 

In Cafés wurde das Für und Wider eines Waffenstillstandes diskutiert. »Wir haben uns von Saleh Badi in diesen Krieg hinein ziehen lassen«, schrieb ein bekannter Politiker auf seiner Facebook-Seite, löschte den Eintrag jedoch schnell wieder. Badi, ehemaliger Kongressabgeordneter und Rechtsanwalt, hatte für die »Farj«-Aktion heimlich junge Männer angeworben. Bis zu 2.500 Euro Anfangssold waren für viele schon Grund genug, gegen die »mit Gaddafi verbündeten Zintanis« in die Schlacht zu ziehen.

 

In Städten wie Zliten und Gharian in den Nafusa-Bergen halfen Mitarbeiter des obersten Mufti Sadiq Ghariani bei der Rekrutierung in den Moscheen. Als Beweis für ihre Anschuldigungen gegen Zintan ließen die Werber Handyvideos umhergehen, die während der Schlacht um die berüchtigte Kaserne 27 entstanden waren. Zu sehen sind mit Zintan verbündete Kämpfer aus Warschefana. An einigen Uniformen prangen wie in Gaddafis Armee üblich grüne Bänder, andere feiern die zeitweise Übernahme der Kaserne mit zum Himmel gestreckter Faust.

 

Wird die Cyrenaika autonom?

 

Die Luftangriffe ließen alle kritischen Stimmen in Misrata verstummen. Auch die US-Regierung brauchte einige Tage, bis ein zerknirschter Beamte der New York Times steckte, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) hätten die Operation ohne Wissen der US-Armee durchgeführt. Zusammen mit Saudi-Arabien gehen die vom Pentagon trainierten Militärs beider Länder seit 2013 gegen Islamisten vor, im Juli zerstörten sie ein Traingscamp von Dschihadisten in der libyschen Wüste.

 

Dass Khalifa Hafter von der Allianz militärische Hilfe erhält, gilt als sicher. Offiziell schweigt die Regierung der VAE zu der Beteiligung an einem völkerrechtlich illegalen Angriff in Tripolis. Der emiratische Staatsminister im Außenministerium Anwar Gargash, bestreitet die Einmischung in Libyens innere Angelegenheiten, vermutet aber »den Wunsch nach Stabilität in der Region«. Während der Machtkampf im Westen meist entlang alter Stammes- und Minderheitenkonflikte verläuft, sind im Osten viele Stämme gemeinsam mit der Armee gegen die Islamisten-Milizen verbündet, die ihnen die perspektivlose Jugend streitig machen.

 

Die Kämpfe zwischen der Armee und Ansar Al-Scharia nehmen nach wochenlanger Pause an Heftigkeit zu. Mehrere Kasernen der Armee-Spezialeinheit Saiqa wechselten mehrmals den Besitzer. Nun geht es auch in Benghazi nun um den Flughafen. Sollte General Hafter Benghazi-Benina verlieren, wäre sogar das Parlament in Tobruk in Gefahr. Der Vizekommandeur der Saiqa-Einheit, Saqr Gerushi, behauptet, bei den Kämpfen gegen Ansar Al-Scharia sei mit Mohammed Abu Azzah Mitte August ein hochrangiger algerischer Al-Qaida-Kommandeur getötet worden. »Neben libyschen IS-Kommandeuren aus Syrien kommen immer mehr ausländische Extremisten nach Libyen«, warnt Gerushi. Seine Warnung ist wohl gleichzeitig ein Hilferuf Richtung Ägypten, von dessen Militär sich die »Karama«-Offiziere schweres militärisches Gerät erhoffen.

 

Furcht vor Terrorangriffen wächst

 

Am 27. August beschloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York in einer Sondersitzung, jeden Entscheidungsträger in Libyen mit Sanktionen zu belegen, der den Konflikt weiter anheizt. Eine Namensliste mit potentiellen Kandidaten wird zurzeit erstellt. In dem einstimmigen Beschluss einigte man sich zudem darauf, das Waffenembargo zu verschärfen. Der im September scheidende Chef der UN-Mission in Libyen, Tarek Mitri, machte erstmals in seiner Amtszeit deutlich, für wie gefährlich er die Lage in Libyen hält: »Die für uns bis jetzt unvorstellbare Gewalt ist alarmierend, wir müssen handeln.«

 

Libyens UN-Botschafter war nach der Sitzung den Tränen nah. »Noch vor wenigen Wochen habe ich es für unmöglich gehalten, dass es in Libyen zu einem Bürgerkrieg kommt. Ich muss meine Meinung ändern.« Das sehen viele Regierungen der Mittelmeeranrainer ähnlich. Die Militärs von zehn Nachbarländern Libyens trainierten Mitte August im Mittelmeer das Abfangen von gekaperten Passagierflugzeugen. Die so genannte 5-Plus-5-Initiative fürchtet offenbar, Dschihadisten könnten das libysche Chaos für Terroranschläge nutzen.

 

Berichte, dass während der Kämpfe in Tripolis Passagierflugzeuge verschwunden seien, haben sich jedoch nicht bestätigt. Mit Meitiga kontrollieren islamistische Milizen einen intakten Militär-Flughafen im Zentrum von Tripolis. Da die libysche Regierung auf Meitiga und die Startbahnen in Sirte und Misrata keinen Zugriff hat, sperrten Tunesien und Ägypten ihren Luftraum für dort gestartete Flugzeuge auf unbestimmte Zeit. Vielleicht kein Zufall, dass die Parlamentarier in Tobruk ein Kreuzfahrtschiff als schwimmendes Hotel angemietet haben. Es liegt dort im Hafen bereit, bei Gefahr Richtung Kreta aus zulaufen. Am 29. August gab Premier Thinni, zusammen mit seiner gesamten Regierungsmannschaft, schon mal seinen Rücktritt bekannt.

Von: 
Mirco Keilberth

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