Der Politikwissenschaftler und ehemalige UN-Sondergesandter Volker Perthes spricht im Interview über Schachzüge der wichtigsten Akteure im Sudan – und warum es sich rächen wird, den Krieg und dessen Folgen zu unterschätzen.
zenith: Aus verschiedenen Berichten geht hervor, dass die sudanesische Armee (SAF) im Bürgerkrieg wieder auf dem Vormarsch ist. Welche Informationen haben Sie zur aktuellen Lage im Sudan?
Volker Perthes: Derzeit führt die SAF in einigen Bereichen des Landes eine Offensive gegen die »Rapid Support Forces« (RSF). Schon häufiger wechselte die Initiative zwischen den beiden Kriegsparteien – weil etwa neue Rekruten, Truppen oder Kriegsmaterial zur Verfügung stehen. In den letzten Monaten scheint die SAF unter anderem dank iranischer Drohnenlieferungen an militärischer Schlagkraft gewonnen zu haben.
Lange pflegte Russland Beziehungen zu beiden Konfliktparteien. Nun mehren sich Berichte, dass Moskau sich auf die Seite der SAF unter Abdul-Fattah Al-Burhan geschlagen hat.
Russland zeigt sich hier als ein opportunistischer Akteur, der nach Gelegenheiten die eigenen Interessen durchzusetzen sucht und diese nutzt. Die RSF unterhält seit Jahren Beziehungen, zur ehemaligen Gruppe Wagner. Noch aus Zeiten des Regimes von Omar Al-Baschir bestanden gute Kontakte zwischen dem sudanesischen und dem russischen Militär. Burhan zögerte in den Jahren vor dem Kriegsausbruch, ein Abkommen über einen russischen Marinestützpunkt an der sudanesischen Rotmeerküste bei Port Sudan tatsächlich umzusetzen. Er scheint sich jetzt unter dem Druck der Kriegsereignisse bereiterklärt zu haben, das Projekt wiederaufzugreifen. Dafür hat Russland signalisiert, künftig die SAF, anstatt die RSF stärker zu unterstützen.
Kann die RSF dennoch auf Unterstützung aus Russland zählen?
Die RSF bekommen Benzinlieferungen aus Libyen von General Khalifa Haftar und seinen Milizen, die ebenfalls von der Gruppe Wagner unterstützt werden. Außerdem erhalten sie weiterhin Nachschub aus der Zentralafrikanischen Republik – auch dort ist das russische Afrikakorps auf Regierungsseite involviert.
Sie hatten sich wiederholt dafür ausgesprochen, das Waffenembargo über Darfur hinaus auf das ganze Land auszuweiten und auch ein Goldexportverbot empfohlen. Warum kommen solche Maßnahmen nicht zustande?
Für ein Waffenembargo braucht es eine Resolution im UN-Sicherheitsrat. Doch die unterschiedlichen geopolitischen Ausrichtungen der Mitgliedsstaaten blockieren gemeinsame Entscheidungen. Diverse Akteure beliefern die Kriegsparteien. Dazu gehören Iran, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Russland und möglicherweise andere Staaten. Beide Kriegsparteien exportieren Gold, um unter anderem Nachschub zu finanzieren. Dubai ist einer der wesentlichen Umschlagplätze für Goldexporte aus Afrika und auch über Ägypten wird Gold ausgeführt. Ich bin nahezu sicher, dass auch über alle anderen Nachbarländer Gold gehandelt wird. Es ist ja auch nicht illegal.
Sehen Sie eine Perspektive für ein Goldexportverbot?
Im sudanesischen Fall könnte man vielleicht »Blutgold« definieren – ähnlich wie es die internationale Gemeinschaft im Zuge des Kimberley-Prozess zu »Blutdiamanten« etwa aus Angola oder Sierra Leone handhabte. Solange relevante internationale und regionale Parteien auf beiden Seiten aktiv sind, sehe ich fast keine Chance für solch ein Embargo.
»Die Zukunft sieht Kairo in den Händen der SAF – idealerweise ohne Beteiligung der Muslimbrüder«
Der Bau und die Inbetriebnahme der Grand-Ethiopian-Renaissance-Talsperre (GERD) verstärkte in den vergangenen Monaten die Spannungen zwischen Ägypten und Äthiopien. Welche Bedeutung hat dieser Konflikt für den Sudan?
Die sudanesische De-facto-Regierung legt ihre Prioritäten auf den Krieg. Bevor der ausbrach, hatte Sudan eine tendenziell eher positive Haltung zum GERD an den Tag gelegt. Die Regierung kritisierte Äthiopien für mangelnde Kommunikation, hatte aber in der Summe nichts gegen das Projekt einzuwenden. So versprach sie sich eine bessere Regulierung des Nilwassers, welche zu weniger schweren Überschwemmungen und vielleicht einer zweiten Ernte im Jahr führen könnte. An dieser Haltung hat sich nichts geändert. Aber Sudan ist kein Faktor mehr und die beiden Kontrahenten Ägypten und Äthiopien versuchen ihrerseits nun, auf Khartum Einfluss auszuüben. Äthiopien hat zum Beispiel mehrfach seine Vermittlung im Krieg im Sudan angeboten.
Und wie verhält sich Kairo?
Ägypten blickt grundsätzlich sehr viel positiver auf die SAF. Abdul-Fattah Al-Sisi empfindet vor dem Hintergrund der eigenen Vita Sympathie für ehemalige Militärs, die politische Macht übernehmen. Dennoch pflegt Kairo ein gespaltenes Verhältnis zur SAF: Burhan ist der wichtigste Partner, gleichzeitig sorgt der zunehmende islamistische Einfluss in seiner Armee für große Unruhe. Ägypten hat mittlerweile erkannt, dass die RSF ein Machtfaktor ist und hat lose Gesprächskanäle aufgebaut. Die Zukunft sieht Kairo aber in den Händen der SAF – idealerweise ohne Beteiligung der Muslimbrüder.
Welchen Einfluss hat der Krieg auf die Menschen im Sudan?
Je länger der Krieg dauert, je stärker das Land fragmentiert, desto mehr werden Flucht und Vertreibungsbewegungen zunehmen. Heute kümmern sich UN-Organisationen und internationale NGOs um die Menschen. Die internationale Gemeinschaft schaut weitgehend weg, weil diese Flüchtlinge vor allem im Sudan und den Nachbarstaaten leben. Zu den zweieinhalb Millionen Sudanesen, die ins Exil getrieben wurden, kommen mehr als 8 Millionen Binnenflüchtlinge hinzu. Außerhalb des Sudans sind die Flüchtlinge in zum Teil noch ärmeren Ländern wie im Südsudan oder im Tschad untergekommen. Aber sie sind nicht auf dem Weg von der Mittelmeerküste nach Italien oder Griechenland und dann weiter nach Deutschland – deshalb werden diese Menschen wenig wahrgenommen.
In welchem Zustand befindet sich die Zivilgesellschaft heute?
Zivilisten sind die primären Opfer dieses Krieges. Zivile, soziale und institutionelle Infrastruktur ist in den anderthalb Jahren des Krieges bereits zerstört worden. Viele zivilgesellschaftliche Aktivisten wie auch andere Sudanesen sind aus ihren Häusern vertrieben worden. Hoffnung macht eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die sich heute darum kümmert, humanitäre Hilfe zu leisten. Viele von ihnen waren in nachbarschaftsbasierten Widerstandskomitees aktiv, die erst gegen das Regime von Omar Al-Baschir und dann gegen den Militärputsch auf die Straße gegangen sind. Manche zivilgesellschaftlichen Initiativen bauen eine Notversorgung auf, betreiben Suppenküchen, bieten Zugang zu ärztlicher Behandlung und Unterstützung für Opfer von sexualisierter Gewalt. Solche Initiativen sind über das ganze Land verbreitet.
»Eine Fragmentierung des Sudan könnte einen Korridor der Instabilität von Mali bis zum Roten Meer schaffen«
Als Sondergesandter waren Sie vor Ort an verschiedenen Verhandlungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt. Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft wahrgenommen?
Wir als Vereinte Nationen haben sehr intensiv mit unterschiedlichsten zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammengearbeitet. Um bestimmte Konflikte beizulegen, haben wir auch mit politischen Parteien und mit der Regierung zusammengearbeitet – sowohl mit der zivilen Regierung von Abdullah Hamdok als auch mit dem »Souveränen Übergangsrat« unter Burhan. Ziel war es, dass nicht nur politische und militärische Akteure miteinander ins Gespräch kommen, sondern auch die Zivilgesellschaft in ihrer Vielgestaltigkeit zu beteiligen. Dazu zählten etwa Frauen- und Jugendorganisationen sowie Berufsverbände.
Wurden sie von der Konflikteskalation im Frühjahr 2023 überrascht?
Sowohl vor dem 25. Oktober 2021, also dem Tag des Militärputsches, als auch vor dem Kriegsausbruch am 15. April 2023 haben wir die Zuspitzung sehr deutlich gespürt. Überrascht ist man dann doch, wenn man am Morgen geweckt wird, weil irgendwo geschossen wird. Natürlich wussten wir nicht, dass an einem bestimmten Tag Teile des Militärs bestimmte Aktionen starten. Aber wir haben die Lage erkannt und versucht zu deeskalieren.
Das Dossier in der kommenden zenith-Ausgabe 2/24 behandelt das Rote Meer. Was macht diese Region aus?
Seit einigen Jahren entsteht ein neues geopolitisches Subjekt, welches nicht in unsere klassischen Schemata der politischen Geografie passt. Die klassische Sicht spiegelt sich in der Aufstellung von Ministerien wider, die vielleicht über eine Abteilung Naher Osten und eine Abteilung Afrika verfügen. Dadurch wirkt es, als liege zwischen zwei Kontinenten ein Ozean. Tatsächlich befindet sich dort nur das Rote Meer. Seit einigen Jahren ist diese Region zur Konfliktzone geworden. Heute werden Schiffe im Golf von Aden und im Roten Meer angegriffen und geopolitische Akteure stehen sich bei vielen Projekte als Rivalen gegenüber. Gleichzeitig wächst am Roten Meer geoökonomisch und -politisch eine Region bestehend aus Arabischer Halbinsel, Persischem Golf und Horn von Afrika zusammen. Investitionen in Landwirtschaft und große Infrastrukturprojekte wie Häfen steigen. Der relative Reichtum des Persischen Golfes könnte mit den fruchtbaren Agrarflächen am Horn von Afrika eine Region für die langfristige Sicherung der Nahrungsmittelversorgung der gesamten Region formen.
Wie blicken Sie auf die Zukunft des Sudans?
Ich sorge mich um die Zukunft des Landes. Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Krieg noch lange andauert und mit einer De-facto-Spaltung des Landes endet. Das ist nicht im Interesse des Sudan und man sollte dies international auch nicht unterstützen. Die kriegführenden Parteien verfolgen wohl die Strategie, zumindest einen Teil des Landes für sich zu behalten. Das Ergebnis wäre vermutlich ein weiteres Land ohne Meereszugang in der Region, nämlich Darfur. Die Fortsetzung dieses Szenarios wäre eine weitere Fragmentierung des Landes in Machtbereiche verschiedener Warlords, Krimineller und extremistischer politischer Kräfte. Eine Fragmentierung des Sudan könnte einen Korridor der Instabilität von Mali bis zum Roten Meer schaffen. Die internationale Gemeinschaft hat wahrscheinlich diese Entwicklungen nicht ausreichend vor Augen, sonst würde sie sich vielleicht mehr um den Sudan kümmern. Neue Achse zwischen Dschihadisten könnten so wachsen: im Osten des Sudan bis hin zu Boko Haram in Nigeria oder zwischen dem sogenannten Islamischen Staat in der Sahara und anderen Gruppen im Sahel über Darfur bis zum Roten Meer.
Prof. Dr. Volker Perthes leitete von Februar 2021 bis Oktober 2023 als UN-Sondergesandter für den Sudan die UNITAMS (United Nations Integrated Transition Assistance Mission in Sudan). UNITAMS hatte zunächst das Ziel, nach dem Fall des Regimes von Omar Al-Baschir den Übergangsprozess zu unterstützen. Infolge des Militärputsches im Oktober 2021 konzentrierten sich Perthes und sein Team auf die Vermittlung zwischen den Parteien. Nachdem Volker Perthes im Juni 2023 von sudanesischen Außenministerium zur persona non grata im Sudan erklärt worden war, trat er im September 2023 teils unter Kritik von seinem Amt als Sondergesandter zurück.