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Nader und Simin

Der Filmflüsterer

Feature

Asghar Farhadis »Nader und Simin« hat den Golden Globe gewonnen. Um der Zensur im Iran zu entgehen, vollzieht Farhadi eine permanente Gratwanderung: Das Entscheidende wird in seinen Filmen nicht laut ausgesprochen.

Asghar Farhadi will weiterarbeiten. Unbedingt – und unbedingt in Iran. Keinen Film machen müssen, der »kein Film ist«, wie im Fall Jafar Panahis. Bloß nicht auf der Liste der verfemten Film- und Kulturschaffenden landen, die in iranischen Behörden mit Leuchtstift an der Wand hängt. Wer ganz oben auf dieser Liste steht, der wird zu langen Haftstrafen verurteilt und mundtot gemacht wie Farhadis Regiekollegen Panahi und Mohammad Rasoulof.

 

Solche Exempel sollen den Druck auf diejenigen verstärken, die sich überhaupt noch am Kulturbetrieb beteiligen und noch nicht verschleppt oder verhaftet wurden. Amnesty International spricht von einer gefährlichen Abwärtsspirale, in der sich das Land durch die zahlreichen Festnahmen und Bestrafungen von Künstlern befinde, und der Filmkritiker Amin Farzanefar sagte: »Im Kulturbereich könnte der Iran punkten, dort hat er ein unglaubliches Potenzial, das er für sich selber noch gar nicht ausgeschöpft hat, auch ist das im Westen noch gar nicht angekommen. Doch dieses Fensterchen wird zugestoßen.«

 

Asghar Farhadi muss weiterarbeiten. Der 39-jährige Iraner debütierte als Spielfilmregisseur im Jahr 2003 nach einigen Kurzfilmen mit seinem Film »Tanz im Staub«. Zu einem großen internationalen Erfolg wurde sein vierter Film »Alles über Elly« von 2009. In diesem Film spricht ein Polizeibeamter eine einfache Wahrheit aus: »Die See wird ihren Körper zurückbringen. Wenn sie heute Nacht am Strand entlanglaufen, werden sie über den Körper stolpern.« Es geht um den Körper von Elly. Elly verschwindet spurlos während eines Wochenendausflugs junger Teheraner am Kaspischen Meer. Vielleicht ist sie im Meer ertrunken, vielleicht nach Hause gefahren. Das Unglück, die einfache Wahrheit zerreißt die Gruppe.

 

Das ist eine wiederkehrende Situation in Farhadis Filmen. Er richtet den Blick auf eine Gruppe, auf eine Situation oder auch auf eine Stadt. Er porträtiert junge, gebildete Menschen der Mittelschicht, die in ihrem persönlichen Streben feststecken und zerrieben werden zwischen religiösen und ideologischen Moralvorstellungen. Man wird Teil eines Dramas, das auf der Leinwand im kleinsten Privaten stattfindet, aber seinen tiefsten Grund in der Politik und Ideologie der Islamischen Republik hat. Das Drama, die Probleme bilden sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen ab. Es geht um Lügen und Wahrheit, um Verdacht – komplexe alltägliche Auseinandersetzungen, die in Farhadis Filmen ein Vorwand sind, um von der Gesellschaft in einem totalitären System zu erzählen, die derart unter Druck und Überwachung steht, dass sie sich jeden Tag verleugnen muss.

 

Farhadis Filme erzählen von einer Gesellschaft, die derart unter Druck steht, dass sie sich jeden Tag verleugnen muss

 

In seinem neuesten Film »Nader und Simin – eine Trennung« treffen zwei Ehepaare aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen aufeinander. Farhadi seziert jeden einzelnen Hauptcharakter, er zeigt die Widersprüche in ihrem alltäglichen Leben auf. Das Ehepaar aus der Mittelschicht misstraut sich, die Ehe ist kaputt. Das andere Ehepaar ist der traditionalistischen Unterschicht zuzuordnen. Ihre Ehe ist überladen vom Zorn, der Frustration und Verzweiflung des Ehemannes. Der Riss in der iranischen Gesellschaft verläuft hier nicht nur zwischen den Klassen, sondern mitten durch sie hindurch. Der Film ist zugleich universell, weil die Motive der Charaktere auch westlichen Kinobesuchern bekannt sind. Und er stellt der Propaganda und Ideologie der Islamischen Republik die Wirklichkeit entgegen.

 

Mit dem Film gewann Farhadi 2011 den Goldenen Bären bei der Berlinale. Die Jury des Festivals ehrte auch gleich das gesamte Ensemble des Films mit dem Silbernen Bären für die besten Darstellerleistungen. Die Schauspieler in Farhadis Filmen sind stark; sie müssen brillant, vielfältig, subtil spielen. Und so wagemutig sein wie der Regisseur selbst. »Ich spreche in meinen Filmen nicht laut«, sagt Farhadi. So gelingt es ihm, der strikten Zensur seines Landes zu entgehen.

 

Und so wird »Nader und Simin« als Beitrag Irans in das Rennen um den Oscar 2012 geschickt. Er zeigt auf, aber er klagt niemanden an. »Als Mutter möchte ich nicht, dass sie unter diesen Umständen aufwächst«, sagt Simin zu ihrem Mann in »Nader und Simin« und meint ihre Tochter. Die Umstände werden nicht benannt. Das übernimmt der Zuschauer.

Von: 
Florian Bigge

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