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Erinnerungen and Menschen und Kultur in Gaza

Es war einmal in Gaza

Essay
Erinnerungen and Menschen und Kultur in Gaza
Kobalt Productions

Filmproduzentin Katrin Sandmann traf einst in Gaza auf eine Gesellschaft, die sich ihre Freiheiten schuf. Und auf Menschen, die Geschichten erzählten, die die Einwohner der Enklave in ihrer Menschlichkeit würdigen.

Als ich vor einem Vierteljahrhundert das erste Mal nach Gaza gefahren bin, war der heute schwer gesicherte Übergang Erez noch ein kleines Gebäude mit ebenfalls kleinem Wachturm und einem einfachen Eisentor. Damals konnte ich noch mit dem eigenen Auto nach Gaza fahren. Mit etwas Glück schaffte man als ausländischer Journalist den Grenzübertritt in 15 oder 20 Minuten. Einmal sah ein israelischer Grenzer bei der Passkontrolle, dass es zufällig mein Geburtstag war und sagte: »Herzlichen Glückwunsch, ich hoffe, es wird nicht Ihr letzter sein«. Gaza war für viele schon immer ein angstbesetzter Ort.

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Ich hingegen bin fast immer gerne in Gaza gewesen. Denn dieser schmale Streifen Land war in meinen Augen neben all den unlösbaren Problemen und Konflikten, der sich im Laufe der Zeit immer bedrohlicher inszenierenden Hamas und der teils bitteren Armut auch immer ein Ort von ganz eigener Schönheit und Lebensfreude. Der schier endlose Strand, an dem Familien picknickten, Kinder in den Wellen spielten, heranwachsende Jungs den Mädchen hinterherschielten, die aber nur Augen für die Surfer hatten, die damals die Inkarnation der Coolness waren.

 

Gaza, das war einmal ein Ort, an dem Palästinenser aus dem Ausland in die Zukunft investierten. Weil sie schon zu Zeiten, als Donald Trump noch ein müde belächelter Reality-Star war, das Potential dieses Ortes und – im Gegensatz zu Trump – seiner Menschen erkannt hatten. Wie der Architekt, Designer und Filmproduzent Rashid Abdelhamid, der dort mit Partnern um das Jahr 2000 herum das zauberhafte Hotel Al-Deira eröffnete.

 

Von der Terrasse des Al-Deira aufs Meer schauen, in den kühlen Zimmern in Ruhe ein Buch lesen: Kurzurlaub in Gaza, das ging einmal

 

Ein Juwel von einem Boutique-Hotel, mit wunderschönen, luftigen Zimmern, in denen es nach Sandelholz roch und durch die immer eine leichte Meeresbrise zog. Manchmal bin ich ein, zwei Tage länger geblieben, um von der Terrasse des Al-Deira aufs Meer zu schauen, oder in den kühlen Zimmern in Ruhe ein Buch zu lesen. Kurzurlaub in Gaza, das ging einmal.

 

Dann begann die Zweite Intifada. Fünf Jahre später, im Jahr 2007, übernahm Hamas die absolute Macht in Gaza. Wenn ich nun die Grenze passierte, durchwühlten auf palästinensischer Seite mitunter bärtige Typen meinen Kulturbeutel, weil sie glaubten, dass meine Flakons mit Kosmetik eine Form des Alkoholschmuggels waren. Ins Al-Deira kamen statt der erhofften Touristen nun überwiegend Kriegsreporter, und wenn gerade kein Krieg tobte, dann kam fast niemand mehr.

 

Ungefähr in dieser Zeit hatte ich das Gefühl, dass die Welt zu verlernen begann, die Einwohner von Gaza als Menschen zu betrachten. Sie wurden stattdessen als Teil einer Konfliktpartei wahrgenommen, oder besser gesagt, darauf reduziert: »In Gaza sind doch alle Hamas«, hieß es häufig, ein Narrativ, das sich vielerorts bis heute gehalten hat. Das spiegelte allerdings keineswegs meine Erfahrung wider.

 

Nach längerer Abwesenheit nahm ich in den 2010er-Jahren meine Reisen nach Gaza wieder auf. Die Surfer hatten zwischenzeitlich ihren ersten Platz auf dem Sieger-Treppchen der Coolness an eine Truppe Parkour-Athleten abtreten müssen. Da es für junge Männer immer schwieriger wurde, aus Gaza herauszukommen, lag es auf der Hand, dass sich diese etwas halsbrecherische Jugendkultur rasend schnell ausbreitete. Und meine Güte, hatten sie Spaß dabei, über Mauern und Zäune zu springen oder über Dächer zu rasen.

 

In dieser Zeit lernte ich auch den Schriftsteller und späteren palästinensischen Kulturminister Atef Abu Saif in einem Café in Gaza-Stadt kennen. Um uns herum zockten 20-Jährige ziemlich vergnügt Karten, spielten Tavla und rauchten wie die Schornsteine. Das Café, erzählte mir Abu Saif, sei einmal ein berühmter Literatentreff gewesen. Die Hamas ging ihm und vielen anderen bereits damals heftig auf die Nerven.

 

Gaza hatte eine vibrierende Kulturszene, die ziemlich meisterhaft an der Hamas-Zensur vorbeiarbeitete

 

»Sie betrachten alles unter einer ideologischen Perspektive und haben ihre eigene Vision von Kultur, in der sich alles der religiösen Lehre und der islamischen Ethik unterordnen muss.« Abu Saif war ein Fatah-Mann, er lehrte damals an der Uni in Gaza und seine Sorge galt vor allem seinen Studenten. »Wenn die Generation die Hoffnung verliert, dann ist Gaza verloren. Wir müssen Hoffnung sähen, und ich bin überzeugt, dass die Literatur oder die Kunst dabei eine wichtige Rolle spielt.«

 

Oh ja, Gaza hatte eine vibrierende Kulturszene, die ziemlich meisterhaft an der Hamas-Zensur vorbeiarbeitete. Am faszinierendsten an dieser Kunstszene fand ich die ambitionierten Filmemacher und Regisseure. Man muss dazu wissen, dass es da schon lange kein funktionierendes Kino mehr in Gaza gab. Aber weder fehlende Lichtspielhäuser, ausbleibende Finanzierung, das Desinteresse der internationalen Filmwelt, noch die Gängelungen der Hamas hielten Regisseure wie Khalil Al-Muzayeen davon ab, Filme zu drehen. Als ich ihn in Gaza traf, drehte er gerade mehr oder weniger heimlich einen neuen Film über häusliche Gewalt. Er wollte die Geschichten der einfachen Menschen in Gaza erzählen, und er wollte, dass sie gesehen werden.

 

Ich habe leider schon vor längerer Zeit den Kontakt zu Khalil verloren. Nach jüngeren Filmen von ihm habe ich vergeblich gesucht. Aber zwei seiner Schüler, Zwillingsbrüder aus Gaza, die unter ihren Künstlernamen Arab und Tarzan Nasser in Europa mit ihrem Film »Gaza, mon amour« (2020) bekannt geworden sind, machen genau das: Sie erzählen einem internationalen Publikum Geschichten aus Gaza.

 

Ihr jüngster Film feiert gerade auf den Filmfestspielen in Cannes Premiere, und Khalil, wo auch immer er jetzt sein mag, ist sicherlich stolz auf sie. Letztlich gehe es in ihren Filmen um Menschlichkeit, um einfache Leute, die versuchen, irgendwie zu überleben, sagte Tarzan gerade in einem Interview. Ihr Film heißt: »Es war einmal in Gaza«.


Katrin Sandmann ist Journalistin, Regisseurin und Filmproduzentin. Seit 2010 ist sie Leiterin Dokumentation und Reporterin bei Kobalt Productions. In Gaza drehte sie unter anderem im Jahr 2013 die TV-Doku »Kulturkrieger in Gaza«.

Von: 
Katrin Sandmann

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