Das Massen-Todesurteil von Minya schockiert und befremdet den Westen. Doch in Ägypten wird das Recht in einem System geschaffen, das 2011 noch als Alternative zu Mubarak bejubelt wurde, meint Naseef Naeem vom zenithCouncil.
Allein zahlenmäßig hat die ägyptische Justiz am 24. März 2014 neue Maststäbe gesetzt: Gegen 529 Anhänger der Muslimbrüder wurde in der Stadt Minya ein Todesurteil verhängt. Das Menschenrechtskommissariat der Vereinten Nationen nannte den Richterspruch einen Verstoß gegen internationales Recht. Human Rights Watch beklagte, dass die Anwälte der Verteidigung in dem Prozess nicht einmal ihre Argumente hätten vorbringen können.
Der Vorsitzende des Ägyptischen Berufungsgerichts, Ahmed Midhat El-Maraghy, lobte dagegen die Unabhängigkeit der Justiz. Die Urteile sind, dies sei vorangestellt, noch nicht rechtskräftig. Und man kann bezweifeln, dass sie jemals und vollständig vollstreckt werden. Aber die Schockwirkung wurde erreicht. Nach dem Urteil ging ein Aufschrei durch die internationalen Medien. Viele Kommentatoren und Politiker trauern der Rechtsstaatlichkeit in Ägypten nach – ganz so, als gäbe es eine allgemeingültige Theorie des Rechtsstaates, die für alle geografischen und zeitlichen Räume gilt.
zenithCouncil ist eine unabhängige Gruppe aus dem Expertennetzwerk des Magazins zenith und des Vereins forum zenith e.V. zenithCouncil sieht sich als Denkfabrik und Schnittstelle zwischen den Nahost-Wissenschaften, Recht, Medien und Politik.
Die wenigsten haben sich die Frage gestellt, wie die Lage auf Basis der Kriterien des ägyptischen Strafrechts und der ägyptischen Strafprozessordnung zu beurteilen ist. Und darüber hinaus müssen wir uns fragen, ob selbst diese Kriterien in Ägypten überhaupt noch gelten: Denn seit dem Rücktritt von Präsident Hosni Mubarak im Februar 2011 herrscht in Ägypten de facto ein Militärkonstitutionalismus – ein Zustand, der durch den Putsch vom Juli 2013 erneuert, beziehungsweise wieder hergestellt wurde. Dabei ist nicht zu verneinen, dass viele Medien, Politiker und Politikberater eben diesen Militärkonstitutionalismus einmal implizit bejubelten: nämlich als eine alternative, neue Ordnung nach Mubarak.
Der Militärkonstitutionalismus prägt in Ägypten heute, was normal und legal ist
Die Tatsache, dass dessen Rücktritt verfassungswidrig ablief, spielte damals keine Rolle. Heute schon: Ein verfassungswidriger Bruch mit der alten staatlichen Ordnung kann zu massenhaften Todesurteilen wie denen in Minya führen. Nämlich dann, wenn ein Bruch mit der alten Ordnung revolutionäre Züge annimmt. Das Urteil von Minya ist nicht zuletzt auch eine blutige Folge jenes revolutionären Wandels, der ja die Auflösung der alten Ordnung zum erklärten Ziel hat. Solche Bewegungen lösen Gegenbewegungen und – im Fall Ägyptens – einen Gegenputsch aus, die sich ihrerseits nun auch nicht mehr im Rahmen der alten Ordnung und ihrer Normen bewegen.
Wenn wir auf den Verlauf der Revolutionen in Frankreich 1789 oder Russland 1917 und deren jeweilige Schauprozesse und Schreckensregime blicken, dürfte uns das nicht überraschen. Es geht hier nicht darum, die Herrschaft Mubaraks oder die des Militärs zu legitimieren. Auch die Tatsache, dass die Verurteilung der Anhänger der Muslimbrüder prozessual- und strafrechtlich problematisch in vielerlei Hinsicht ist, steht nicht in Frage. Die Todesurteile und ihre schiere Zahl können uns allerdings kaum erschüttern: In einem »revolutionär-militärischen Rechtsstaat« kommen sie geradezu Akten der »legalen Normalität« gleich.
Das erklärt vielleicht, wie eine ägyptische Justiz ein Urteil sprechen kann, das dem Westen so fremd und bizarr erscheint und das auf den ersten Blick an die Schauprozesse des Stalinismus erinnert. Viele Ägypter mögen in diesem Urteil aber nicht nur eine »legale Normalität«, sondern sogar eine »normale Legalität« sehen. Denn derzeit befindet sich Ägypten in einer Phase, in der durch die Armee das Recht geschaffen wird. Der Militärkonstitutionalismus beantwortet die Frage, was »legal« ist und was »normal«. Und dabei kann eine Rechtskultur entstehen, die sich von unserer deutlich unterscheidet.
Dr. Naseef Naeem ist Verfassungsrechtler und Mitgründer der Expertengruppe zenithCouncil, die sich unter anderem mit staatspolitischen und Verfassungsfragen im Nahen Osten auseinandersetzt.