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Sahel nach Gaddafi

Gaddafis langer Schatten

Analyse

Der Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen bringt die Regierungen der Sahel-Staaten in Bedrängnis. In Niger sitzt Präsident Issoufou zwischen allen Stühlen – und steht vor der größten Bewährungsprobe seiner kurzen Amtszeit.

Muammar al-Gaddafi mag tot sein, doch das Beziehungsgeflecht mit Libyens südlichen Nachbarn, das der Diktator über Jahrzehnte geknüpft hat, sorgt nun erst Recht für Unruhe in der ohnehin instabilen politischen Landschaft der Sahel-Zone.

 

Besonders Niger kriegt die Auswirkungen des Krieges in und um Libyen zu spüren. Seit April sind mindestens 75.000 Menschen in Richtung Süden nach Niger geflohen – und es werden täglich mehr. Dem Norden des Landes droht eine humanitäre Katastrophe, auf die weder der Staat noch die internationale Staatengemeinschaft vorbereitet sind.

 

Die unübersichtliche Sicherheitslage im Wüstengebiet zwischen Libyen, Algerien, Niger und Mali tut ihr Übriges. Tausende Tuareg-Kämpfer, die einst in Gaddafis Diensten standen, strömen nach Niger, im Gepäck die Gefahr einer erneuten Rebellion, wie sie der Sahel-Staat zwischen 1990 und 1995 sowie 2007 bis 2009 erlebt hat – damals wurde der Konflikt unter maßgeblicher Vermittlung durch Muammar al-Gaddafi beigelegt.

 

Dutzende von Gaddafis Top-Offizieren haben sich nach Niger abgesetzt, darunter mindestens drei Generäle. Ebenso Saadi al-Gaddafi, drittältester Sohn des Diktators, den Interpol per »Red Notice« suchen lässt und der zurzeit in der nigrischen Hauptstadt Niamey unter Hausarrest steht. Sein Bruder Saif al-Islam al-Gaddafi konnte entgegen früherer Berichte in den vergangenen Wochen nicht lokalisiert werden – gut möglich, dass er sich über Niger inzwischen nach Mali abgesetzt hat.

 

Wohlwollende Erinnerung an den Vermittler und Investor Gaddafi

 

In jenem Grenzgebiet lauert für alle Staaten eine weitere Gefahr, die bisher kaum von den Umbrüchen in Nordafrika profitiert hatte: Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM). Fallen die in den Wirren des Krieges verschwundenen libyschen Waffen in die Hände der Terroristen, könnte der Al-Qaida-Ableger wieder Auftrieb bekommen und in die Offensive gehen. Mitte September wurde die nigrische Armee in ein Gefecht mit einem Konvoi von AQIM-Kämpfern in der nördlichen Region Agadez verwickelt.

 

Doch Muammar al-Gaddafis Tod schlägt auch in der nigrischen Innenpolitik beträchtliche Wellen. Obwohl die öffentliche Meinung in Niger nur schwer zuverlässig zu messen ist, genoss der getötete »Bruder Führer« starke Sympathien beim südlichen Nachbarn. Viele Nigrer, von der politischen Elite bis zum einfachen Mann auf der Straße, erinnern sich angesichts großzügiger Investitionen und der Vermittlung zum Ende der Tuareg-Rebellion wohlwollend an den »Oberst«.

 

Tuareg-Gruppen im Norden haben immer wieder ihre Unterstützung für Gaddafi bekräftigt. Und nachdem sich Nigers Führung Ende August dazu durchgerungen hatte, den Nationalen Übergangsrat (NTC) anzuerkennen, protestierte die größte Oppositionspartei MSND (Mouvement National pour la Société du Développement) des 2010 gestürzten Ex-Präsidenten Mamadou Tandja aufs Heftigste und warf der Regierung in Niamey vor, einen Zickzack-Kurs zu fahren, der die afrikanische Solidarität untergrabe.

 

Das anhaltende Vermächtnis des »Bruder Führers« bringt Niger in eine kaum beneidenswerte Lage. Niamey sitzt zwischen allen Stühlen – und sieht sich dem Druck der eigenen Bevölkerung, zurückkehrender Tuareg-Kämpfer, der internationalen Gemeinschaft und der neuen Führung in Tripolis ausgesetzt. Die Regierung versucht sich an einem riskanten Spagat: Einerseits soll die eigene Bevölkerung besänftigt und Spannungen mit den Tuareg abgebaut werden, andererseits müssen die Beziehungen zum Nationalen Übergangsrat auf eine funktionierende Geschäftsgrundlage gestellt und zu viel Ärger mit dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) tunlichst vermieden werden.

 

Neustart mit Altlasten

 

Dieser Balanceakt ist die wohl größte Herausforderung, der sich Präsident Mahamdou Issoufou bisher gegenüber sah. Issoufou ist aus den Wahlen im Januar 2011 als erster Zivilist im Präsidentenamt hervorgegangen, nachdem im Jahr zuvor das Militär gegen Machthaber Tandja geputscht hatte. Obwohl die Wahlen als Erfolg auf dem Weg zur Demokratisierung des Landes gewertet wurden, sitzt der Präsident alles andere als sicher im Sattel. Dazu reicht ein Blick in die jüngere Geschichte Nigers, die allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten drei geglückte Militärputsche aufweist.

 

So instabil das politische System, so andauernd ist die Bedrohung der nigrischen Bevölkerung durch chronische Nahrungsmittelknappheit und anhaltende Armut, die das Land von ausländischer Hilfe abhängig macht und ständig an den Rand einer humanitären Katastrophe drängt. Mit anderen Worten, schon bevor die Lage in Libyen in einen Krieg eskalierte, lasteten auf Issoufous Schultern gewaltige Bürden.

 

Es wird Zeit brauchen, bis die Spannungen infolge des Sturzes des Gaddafi-Regime ansatzweise gelöst werden können. Anfang November reiste eine Delegation des Nationalen Übergangsrates nach Niger – vielleicht ein Türöffner, um die bilateralen Beziehungen langfristig tragfähig und für beide Seiten gewinnbringend zu gestalten. Doch solange sich hochrangige Vertreter des alten Regimes weiter in Niger aufhalten, werden beide Länder daran erinnert, dass die Vergangenheit noch nicht wirklich vergangen ist.

 

Gaddafis Vermächtnis wird auch weiterhin den Norden des Landes heimsuchen, wo zehntausende Flüchtlinge auf Hilfe warten und die Führer der Tuareg ihre nächsten Schritte beraten. In dieser brisanten Gemengelage war die Regierung durch ihr vorsichtiges Handeln bisher gut beraten, um ihren Platz auf der neuen politischen Landkarte auszuhandeln. Nigers gewaltige Probleme sind dadurch aber noch lange nicht gelöst.

Von: 
Alex Thurston

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