In dem Buch »Sex und die Zitadelle« erkundet Shereen El Feki die Sexualkultur in der arabischen Welt. Im Interview erklärt sie die Gründe alter und neuer Tabus und beschwört die Macht der Sprache.
zenith: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die sexuelle Kultur eines Landes die sozialen und politischen Rahmenbedingungen widerspiegelt. Können Sie uns das erläutern?
Shereen El Feki: Nehmen wir das Beispiel von sexueller Belästigung in Ägypten. Damit meine ich nicht die Exzesse sexueller Gewalt, die auf dem Tahrir-Platz zu beobachten waren, sondern das Phänomen generell, das seit Jahren dokumentiert ist. Manche sagen, es handele sich dabei um »natürliche sexuelle Frustration«. Ich würde dagegen sagen, es handelt sich um Frustration an sich. Um Frustration aufgrund von politischer, wirtschaftlicher und sozialer Marginalisierung.
... die sich dann in sexuellen Übergriffen äußert?
Sexualität wird zu einem Ventil, über das man seinen Ärger und seine Frustration über die Entwürdigung und das Unrecht herauslassen kann. Sie hat also einen eminent politischen Hintergrund. Ein anderes Beispiel: Warum gibt es in fast allen arabischen Ländern keine Sexualerziehung in den Schulen? Kurz gesagt: Weil die älteren Menschen den jüngeren Menschen nicht trauen. Sie haben Angst, der jungen Generation dieses Wissen in die Hand zu geben. Sie glauben, das würde Chaos und Instabilität produzieren.
Vor allem ist Sexualität im arabischen Raum aber doch ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern, oder?
Ja, beispielsweise was die fehlende Möglichkeit von Frauen angeht, ihren Ehemännern gegenüber sexuelle Wünsche zu äußern. Aber auch in dieser Sprachlosigkeit spiegelt sich ein politisches Phänomen: die generelle Position von Frauen in der Gesellschaft. Auch in anderen Bereichen, etwa bei der Berufswahl oder in der Politik, können sie ihre Wünsche nicht frei äußern. Für mich sind all diese Prozesse, sind das Private und das Öffentliche, miteinander verschränkt.
Shereen El Feki
wurde als Tochter einer Waliserin und eines Ägypters geboren und arbeitete als Wissenschaftsjournalistin unter anderem für den Economist und Al-Jazeera. Am 13. September 2013 präsentiert sie ihr Buch über Sex in der Arabischen Welt auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin.
Interessanterweise haben meine Erfahrungen aus Ägypten gezeigt, dass besser gebildete Leute dort mit einer hohen Wahrscheinlichkeit in sexuellen Fragen konservativer und engstirniger sind. Ich glaube, das ist eine der perversen Folgen des Bildungssystems – und zugleich ein Beweis dafür, wie schlecht dieses ist: Tatsächlich lässt es die Leute weniger weltoffen werden.
Das gilt auch für die jungen Wortführer der Revolution 2011?
Auf dem Tahrir-Platz in Kairo habe ich mit Revolutionären gesprochen – jungen, gebildeten Menschen. Diese Leute – die gleichen, die in der Mohamed-Mahmoud-Straße ihr Leben für politische Selbstbestimmung einsetzten – waren absolut entsetzt, als ich sie danach fragte, ob sie auch für sexuelle Selbstbestimmung kämpften. Auch der Fall von Aliaa Elmahdy zeigt das, der jungen Frau, die ein Nacktfoto von sich in ihrem Blog veröffentlichte. Als sie darauf beharrte, dies sei ihr Recht und ein Teil der Revolution, wurde sie von der 6.-April-Bewegung an den Pranger gestellt – also von einer der Speerspitzen der Revolution. Auf den Punkt gebracht, würde ich sagen: Jungfräulichkeit ist noch immer eine wichtige Sache – über alle Klassen hinweg.
Nur die Art und Weise, damit umzugehen, ist unterschiedlich ...
Genau. Wenn du reicht und gebildet bist, beispielsweise in Kairo, und eben doch vorehelichen Sex hattest und schwanger wirst – was sehr wahrscheinlich ist angesichts der Qualität der Sexualerziehung dort und des Zugangs zu Verhütungsmitteln –, dann hast du wenigstens die Möglichkeit, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Zwar illegal, aber immerhin sehr viel hygienischer, als wenn du in einem kleinen Dorf im Nildelta leben würdest.
Jungfräulichkeit und Ehe bleiben die Säulen, auf denen das arabische Sexualmodell ruht, kann man das so sagen?
Diese eine allgemeine Aussage lässt sich treffen: Der einzige sozial anerkannte Rahmen, in dem man seine Sexualität öffentlich leben kann, ist die Ehe. Das ist freilich problematisch, weil – wie ich in meinem Buch schreibe – immer mehr Leute dauerhaft außerhalb dieses Rahmens stehen. Die Frage ist nun, wie wir damit umgehen. Wie können auch diese Menschen ihre sexuellen Rechte ausleben? – die ja grundlegende Menschenrechte sind. Leugnen und Verteufeln führt nicht weiter.
Was wäre denn ein Ansatzpunkt, damit sich etwas ändert?
Der Wandel, der einsetzen muss, ist ein Wandel über alle Gesellschaftsbereiche hinweg – er muss Politik genauso wie Wirtschaft einschließen, den sozialen wie den kulturellen Bereich. Eigentlich muss alles gemeinsam passieren.
Irgendwo muss man doch anfangen können ...
Ja, wo anfangen? Die politischen Veränderungen, die eingesetzt haben und hoffentlich weitergehen werden, hin zu stärker demokratischen, transparenten, rechenschaftspflichtigen Institutionen und Prozessen, sind sicherlich zentral. Aber ebenso die Wirtschaft – viele Probleme rund um Sexualität hängen im Kern mit wirtschaftlichen Fragen zusammen. Dann natürlich Erziehung – und zwar nicht nur in den Schulen, sondern auch in der Familie. Was wiederum eine gleichere Verteilung der Geschlechterrollen erfordert und nach sich ziehen müsste. Aber natürlich auch Erziehung im Islam.
Der Islam gilt in Sachen Sexualität wie bei vielen Themen nicht unbedingt als progressiv ...
Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten, im Islam sexuelle Rechte zu verwirklichen. Das Problem ist, dass in den letzten Jahrzehnten konservative Islam-Interpretationen die Oberhand gewonnen haben – und dass junge Leute nicht über die Instrumente verfügen, diese zu hinterfragen. In der Generation meines Vaters beispielsweise, der in den 1930er Jahren geboren wurde, war das noch ganz anders – er hat eine religiöse Erziehung genossen, aber dennoch wesentlich mehr über Sexualität erfahren als junge Leute heute. Es ist daher kein Wunder, dass selbst gebildete Leute sich heutzutage an den Scheich oder Mufti wenden und ihn fragen: Wie ist dieses und jenes im Islam? Wir brauchen Leute, die die Autorität solcher Personen anzweifeln.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass neben Bildung auch Sprache ein wichtiges Mittel ist, um diesen Wandel voranzutreiben.
Das ist richtig. Eine der größten Herausforderungen ist es, ein positives Referenzsystem für Sexualität in der islamischen Welt zu entwickeln. Dabei hatten wir einst eines! Im Mittelalter wurde viel offener über Sexualität geschrieben – selbst der Prophet Muhammad hatte keine Probleme damit. Das war ja sogar einer der Hauptvorwürfe christlicher Autoren an den Islam im Mittelalter.
Also zurück zu den Wurzeln?
Nein, so einfach ist das nicht. Und ich bin kein sexueller Salafist. Aber wir sollten versuchen, den Geist, die Leichtigkeit dieser Zeit wiederzubeleben, in dem Islam und Sexualität offenbar koexistieren konnten – zumindest wenn wir der Literatur Glauben schenken. Sex darf nicht nur als Problem, Katastrophe, Skandal oder Krise gesehen werden, sondern als positives Instrument für die individuelle, aber auch kollektive Entwicklung.
Welche Rolle spielt die Sprache bei diesem Bewusstseinswandel?
In einem Buch aus abbasidischer Zeit, das ich zitiere, werden mehr als tausend Wörter für Geschlechtsverkehr genannt. Heute gibt es wesentlich weniger. Das Problem – und gleichzeitig ein gutes Beispiel – ist: Es gibt heute natürlich Slang-Wörter für Sex und Geschlechtsverkehr. Und dann gibt es die Wörter des klassischen Arabisch dafür – die aber gar nicht so viele Menschen verstehen. Es gibt jedoch wenig dazwischen. Die Herausforderung ist, diese Mitte zu finden: Wörter, die sowohl verständlich sind als auch akzeptabel. Das ist eine Herausforderung insbesondere für Frauen, die oft die Bezeichnungen für grundlegende Körperteile, -funktionen und sexuelle Handlungen nicht kennen – wiederum wegen der schlechten Sexualerziehung. Selbst die besser Gebildeten, die diese Bezeichnungen kennen, sprechen eher auf Englisch, Französisch oder sogar Hebräisch darüber als auf Arabisch. Wir müssen uns die Sprache zurückerobern.
Was glauben Sie: Wo wird Ihr Buch die größte Wirkung entfalten – und vielleicht sogar Veränderungen auslösen?
Mein Wunsch ist natürlich, dass es nicht nur außerhalb der arabischen Welt gelesen wird. Denn mein Hauptanliegen ist es, den Leuten in der Region zu helfen. Beim Schreiben des Buches ist mir klar geworden, wie wenig insbesondere die jungen Leute dort über das Thema wissen, wie isoliert sie sind. Mein Buch soll ihnen Möglichkeiten und Ansatzpunkte aufzeigen, um selbst mehr zu erfahren. Ich hoffe daher sehr, dass das Buch auch ins Arabische übersetzt werden wird. Allerdings bin ich sehr gespannt, ob es durch die Zensur kommen wird.
Sex und die Zitadelle
Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt
Shereen El Feki
Hanser Verlag, 2013
416 Seiten, 24,90 Euro