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Taksim-Proteste in der Türkei

Der Tag von Taksim

Feature

Wie eskalierte die friedliche Demo für die Erhaltung des Gezi-Parkes zur stadtweiten Machtprobe mit Polizei und Regierung? Fotojournalist Daniel Etter beschreibt den Verlauf des Sonntags am Istanbuler Taksim-Platz.

Ungewöhnliche Allianzen auf dem Taksim-Platz: Umweltschützer, Kommunisten, Schwule und Lesben, Kurden und Kemalisten. Demonstranten, die alle vereint sind in ihrem Widerstand gegen einen demokratisch gewählten und autoritär regierenden Premier. Sie protestieren gemeinsam heute, doch könnten in ihrem Widerstand kaum unterschiedlicher sein. Kurden und Anhänger des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk sind verfeindet. Normalerweise. Als Besucher nimmt man ihn kaum wahr: den Park, der diesen einenden Protest entfacht hat. Ein bisschen Grün in einem Meer von Beton. Doch er vereint Feinde. Für heute. Friedlich, tanzend, singend während des Tages, zwischen den Bäumen des Gezi-Parks: Es gleicht mehr einem Festival als einer Demonstration.

 

Freiwillige sammeln Müll ein, der Köftemann grillt, Musiker stehen auf der Bühne. Die Schwulenrechtler rufen: »Spring, wenn du kein Faschist bist.« Und alle springen. Keine Polizei zu sehen. Sie ist sonst immer hier, immer bereit für die nächste der tagtäglichen Demonstrationen in Istanbul. Hunderte müssen es jährlich auf dem Taksim-Platz sein. Eine Wasserflasche fliegt, dann Steine, Schreie, mehr und mehr. Junge Kurden greifen Kemalisten an. Die Harmonie droht zu zerbrechen. Demonstranten aus beiden Lagern gehen dazwischen, versuchen die Wut zu bändigen. Nach wenigen Minuten gelingt es, Taksim bleibt friedlich.

 

Der Lärm ist zu einem allabendlichen Solidaritätsritual geworden

 

Es dämmert. Die Stadt versinkt in einem Meer aus Lärm. Vom hippen Cihangir bis zum verarmten Tarlabasi, von Europa nach Asien; alte Hausfrauen, Taxifahrer, eine junge Frau mit Schoßhund: tausend hauen auf Töpfe, knallen Fenster zu, hupen. Der Lärm ist zu einem allabendlichen Solidaritätsritual geworden. Premier Erdogans Beschreibung dieser seltsam vereinten Opposition: »Nur ein Haufen Plünderer.« Der Park wird weichen. Die Shoppingmall wird gebaut. Keine Diskussion. Die Polizei hat sich zum Bosporusufer zurück gezogen. Hier, neben dem Dolmabahce-Palast, hat Erdogan sein Büro. Zu Tausenden rücken die Demonstranten darauf vor. Die Friedlichkeit hört auf. Steine fliegen, Männer bauen Barrikaden aus Gartenstühlen, Plakatwänden und Sonnenschirmen.

 

Die Polizei schießt Tränengaskanister horizontal in die Menge. Sie treffen einen Mann am Hinterkopf. Er knallt flach auf den Asphalt. Sofort wird ihm geholfen. Demonstranten tragen ihn in Sicherheit. Aktivisten haben die Dolmabahce-Moschee in ein Feldlazarett verwandelt. Röchelnd, hustend, spuckend suchen sie hier Schutz vor dem Tränengas, sitzen erschöpft unter der Kuppel des Vorbeters. Medizinstudenten behandeln sie. Wenn sie nicht mehr weiter wissen, schleppen sie ihre Patienten auf Absperrgittern zu einem Krankenwagen, der sie in einem Hagel aus Steinen und Tränengaskanister zum nächsten Krankenhaus fährt. 

 

Drei Uhr nachts ist es inzwischen. Der Bagger brennt

Draußen schließt ein Demonstrant einen Bagger kurz. Die Menge jubelt. Der Bagger fährt in Richtung der Polizei. Die Schaufel ragt bedrohlich in den Nachthimmel. Im Schutz des Baggers rücken Steinewerfer vor. Die Polizei zieht sich zurück. Vor dem Tor des Palasts stehen drei große LKW. Innerhalb von Minuten sind auch sie kurzgeschlossen. Die Demonstranten klettern auf die Ladefläche, schmeißen Steine von dort. Immer weiter rücken sie vor, immer näher kommen sie Erdogans Büro. Drei Uhr nachts ist es inzwischen. Der Bagger brennt. Die wenigen Mutigen werfen ganz vorne weiter Steine, Tausende stehen dahinter, wo die geschossenen Tränengaskanister keine Knochen mehr zertrümmern können. Und dann stürmt die Polizei, rast mit dem Wasserwerfer-LKW in die Menge.

 

Von zwei Seiten rücken sie vor. Die Demonstranten rennen in Panik. Hunderte Meter. Tränengaskanister regnen herab. Einen matschigen Hügel hinauf kämpfen sie sich in ein sicheres Wohngebiet, zurück Richtung Taksim. Hier oben ist es friedlich. Kein Türkischer Frühling vielleicht, aber viel mehr als der tagtägliche Istanbuler Protest.

Von: 
Daniel Etter

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