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Theaterstück »WAR ZONE«

Eine utopische Begegnung im Prenzlauer Berg

Feature

In »WAR ZONE« setzen sich Dea Loher und Lydia Ziemke sowie die Schauspielerinnen Lucie Zelger und Tahera Hashemi mit dem Phänomen Krieg auseinander – und stellen eine Utopie direkter Begegnung zweier Frauen aus verschiedenen Kulturkreisen entgegen.

Die Bühne im Berliner Ballhaus Ost gleicht einer Insel in der Nacht, umgeben von fließendem Wasser. Auf ihr begegnen sich die Schweizerin Lucie Zelger und die Afghanin Tahera Hashemi, verzehren Trauben und nähern sich einander derart furios an, dass ihre Dialoge noch lange nach der Aufführung nachhallen. Ihre Begegnung in der Pappelallee ist exemplarisch und utopisch, da sie so nur im Theater stattfinden kann.

 

In »WAR ZONE« führt die Dramaturgin Dea Loher ihre Auseinandersetzung mit dem Phänomen Krieg und seinen Folgen für das Menschsein weiter. Inszeniert wird das intensive und sehr empfehlenswerte Kammerspiel von Lydia Ziemke. Inhalte aus dem Werk »Down the Wires« des Autoren Chris Thorpe aus Manchester sowie Berichte israelischer Ex-Soldaten und Ex-Soldatinnen der NGO »Breaking the Silence« kollagieren Lohers exemplarischen wie eingehenden Text. Begleitet wird das Ganze mit beeindruckender Live-Musik des Londoner Videokünstlers Owen Lasch.

 

Tahera hat Krieg in Afghanistan selber erlebt und ist vor drei Jahren unter Morddrohungen der Taliban aus Kabul geflohen. Die Genferin Lucie kennt Krieg nur aus Bildern, Nachrichten und Erzählungen. Gemeinsam untersuchen sie, was in Extremsituationen von Gewalt und Vertreibung mit Menschen passiert, und wie Manipulation und Willkür funktionieren. Dabei verschwimmen die Kategorien von Tätern, Täterinnen und Opfern, aber auch Zeuginnen und Zeugen in der Spirale der Perspektiven.

 

Strudel von Albtraum und Wahn

 

Die Texte von »Breaking the Silence« richten den Blickwinkel auf diejenigen, die Krieg führen. Die Abtrünnigen der israelischen Armee wissen: Im Krieg leiden nicht nur die Opfer. Sondern auch auf sie selber hatte die Kriegsführung eine traumatisierende Wirkung. Sie erläutern, wie die Prinzipien der Armeeführung – »Jeder ist verdächtig« und »Präsenz zeigen« – jede Aktion der Streitkräfte rechtfertigen können und diese somit in einem rechtsfreien Raum agieren, wo sie zur (unverhältnismäßigen) Gewaltanwendung ermuntert werden.

 

In einer Audioeinlage erzählt eine Ex-Soldatin von ihrer Naivität, als sie sich für den Militärdienst entschied – und was dann passierte. Sie wollte eigentlich mehr Menschlichkeit in die Armee bringen. Doch stattdessen verlor sie ebendiese und entwickelte sich zum »Monster«. Sie erinnert sich, wie sie zusammen mit anderen israelischen Truppen ein palästinensisches Dorf dem Boden gleichgemacht hat. Erst als es in Trümmern lag, wurde ihr bewusst, was sie getan hatte. Es verfolgt sie bis heute.

 

Tahera Hashemis Kriegserfahrungen lenken den Fokus auf die direkt vom Krieg Betroffenen. Bei der Frage, ob Deutschland in einem Konflikt intervenieren soll, befragt die deutsche Gesellschaft ihre Werte, ihre Finanzen und ihre Interessen. Sollte sie nicht besser jene Menschen befragen, die von Drohnen und Kampfbombern beschossen werden?

 

Gast und Gastgeberinnen

 

»WAR ZONE« verschont das Publikum nicht, sondern konfrontiert es mit unangenehmen Fragen und Tatsachen. Wenn wir nicht selber Krieg führen oder vor Gewalt geflohen sind, dann sind wir in Deutschland zumindest Zeuginnen und Zeugen der immer größer werdenden Flüchtlingsströme. Diese Beteiligung zwingt uns zur Positionierung und zum Nachdenken über unseren eigenen Handlungsspielraum. Unser privilegierter Status wird uns stärker denn je vor Augen gehalten.

 

Außerdem werden unsere Belastungsfähigkeit und unsere Empathie getestet. Wir verlieren nicht, wenn wir »helfen« – im Gegenteil. Was passiert, wenn die Erwartungen der Menschen enttäuscht werden, die zu uns flüchten? Auf einer Gastspieltour in Algerien sagte man Lucie einmal: »Wir haben den Terror in den 1990er Jahren durchgemacht, jetzt macht Ihr eure eigenen Erfahrungen.« Aber auch: »Wir haben Mitleid mit Euch. Die Europäer haben ihre Menschlichkeit an den Kapitalismus verkauft.«

 

Aufgrund der fortschreitenden Arbeitsteilung im Finanzkapitalismus entfremden sich Menschen zunehmend vom Produkt ihrer Arbeit. »WAR ZONE« thematisiert diese »ökonomische Gleichschaltung« als größte Herausforderung unserer Zeit. Was passiert, wenn Arbeitsprozesse derart fragmentiert sind, dass wir uns nicht mehr bewusst sind, welche Auswirkungen unsere Arbeit auf unsere Mitmenschen und die Umwelt hat? Dieses Thema behandelt insbesondere der Akt nach der Vorlage von Chris Thorpe. In dem Text geht es um einen Software-Ingenieur, der logistische Probleme für die Armee löst. Seine Arbeit am Computer führt dazu, dass Drohnenangriffe schneller vollzogen werden können. Als ihm klar wird, dass er Täter geworden ist, fällt er in eine Depression.

 

Das Persönliche ist politisch

 

»WAR ZONE« beschäftigt sich nicht nur außerordentlich intensiv mit den Textvorlagen, sondern auch mit den zwei Schauspielerinnen selbst. Es eint sie die berufliche Passion, aber auch, dass sie Deutsch beide als Fremdsprache sprechen, wenn auch nahezu perfekt. Es trennt sie nebst persönlichen Erfahrungen und Herkunft aber der grundverschiedene Aufenthaltsstatus. Dass die eine als Flüchtling auf der Bühne steht ist eine Besonderheit, weil Tahera diese Geflüchtete nicht nur spielt, sondern auch im richtigen Leben eine ist.

 

Hier sieht sich Regisseurin Lydia Ziemke mit einem Dilemma konfrontiert: Diese Besonderheit nicht zu erwähnen, sei keine Option, denn das Interesse daran sei berechtigt. Sie habe sogar einen essentiellen monetären Wert: »Das Publikum zahlt« – um genau das Duo Tahera und Lucie zu sehen. »Sobald aber erwähnt ist, dass Tahera eine Geflüchtete ist, wird die Wahrnehmung überlagert von Faszination und Empathie. Kritik wird zu Taheras Leidwesen unmöglich«, folgert die Regisseurin.

 

Indem es die reellen Identitäten der zwei Schauspielerinnen thematisiert, leistet »WAR ZONE« auch einen Beitrag in Richtung echter Normalisierung der Situation. Zu oft wird nur über »die Afghanin« gesprochen – darüber beschweren sich beide auf der Bühne. Die eine beschwert sich über zu viel, die andere über zu wenig Aufmerksamkeit. Für diesen Diskurs bietet das Theater – und dieses Stück dank seiner Inszenierung im besonderen – einen Ort, um über Zwiegespräch und Rollenspiel in die Haut des Gegenübers zu schlüpfen. Mithin wird eine reale Utopie geschaffen.

 

Voyeurismus und Authentizität

 

Tahera regt sich also darüber auf, in Deutschland zuerst immer als Flüchtling gesehen zu werden. So behandelt zu werden. Hilfe annehmen zu müssen. Sie kämpft mit dem alltäglichen Voyeurismus. Die Schweizerin Lucie dagegen hinterfragt ihre eigene Authentizität, wobei sie vor Provokationen nicht zurückschreckt.

 

Auch sie sei geflohen – und zwar vor dem eidgenössischen Kapitalismus. »Da thront ein riesiger Drachen auf dem Berg, durch seine Adern fließt Gold, fließt Geld...«, empört sie sich in Anlehnung an den Drachen in Nietzsches »Also sprach Zarathustra«. »Du sollst verdienen, du sollst glücklich sein, du sollst Schokolade essen!« Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen konnte Lucie nicht aus sich selbst schöpfen. Ein erfülltes Leben war ihr in der vom »Geruch des Geldes« vereinnahmten Schweiz nicht möglich.

 

So ähnlich waren seinerzeit schon Voltaires Eindrücke von Lucies Heimatstadt. Als er Genf 1754 betrat und seiner Bevölkerung zum Ärger der calvinistischen Geistlichkeit zu einem Theater verhelfen wollte, beschrieb er die Stadt als »nobel, reich, stolz und hinterhältig«, wo gerechnet, aber nie gelacht werde. Sei es drum. Entscheidend ist hier, dass für Lucie ihre innere Regung wegweisend war, als sie sich entschied, ihre Heimat zu verlassen, während Tahera durch äußere Faktoren zur Flucht gezwungen wurde.

 

Putsch und Revolution in der Schweizer Geschichte

 

Dass Lucie nicht in einem Kriegsland geboren wurde, sondern in Zentraleuropa, ist allerdings Zufall. Selbst wenn sie zweihundert Jahre früher das Licht in der gleichen Stadt erblickt hätte, wäre für sie alles anders gewesen. Damals war das eigenständige Genf – eingekeilt zwischen der Schweiz, Frankreich und Savoyen (Teil des Königreichs Sardinien) – Schauplatz revolutionärer Bewegungen und militärischer Interventionen von außen.

 

Eine Minderheit von Adeligen und Großbürgerlichen häufte auf Kosten der Allgemeinheit Reichtum und Macht an. 1782 schlossen sich »Représentants« (Bürger) und »Natifs« (in Genf geborene Kinder von Immigranten) zusammen und stürzten das aristokratische Regime. Daraufhin belagerten Truppen aus Frankreich, Bern und Sardinien-Piemont die Stadt und stellten die Adelsherrschaft wieder her. Erst nach der Französischen Revolution bekamen die Genfer revolutionären Kräfte wieder Auftrieb.

 

Doch im Spannungsfeld zwischen der französischen Aufklärung und der konservativen Helvetik – dem Ancien Régime der Eidgenossenschaft – war ihr Triumph 1792 nur von kurzer Dauer. 1794 bereitete eine Konterrevolution den Boden für den Einzug der französischen Truppen zwei Jahre später. Nach 20 Jahren französischer Okkupation erwies sich für Genf der Anschluss an die Eidgenossenschaft 1815 als die beste aller Möglichkeiten, und es kehrten endlich ruhigere Zeiten ein. Krieg und Flucht sind kein Zufall.

 

Durch die Beschäftigung mit Einzelschicksalen bietet »WAR ZONE« die Möglichkeit, sich vorzustellen, wie man selber handeln würde, sollte man in einer Extremsituation vor harte Entscheidungen gestellt werden.


Im Rahmen der Wiederaufnahme von »WAR ZONE« im Ballhaus Ost vom 24. bis zum 28. Februar 2016 präsentiert suite42 ein Begleitprogramm mit zwei Monodramen, einem Dokumentarfilm, Workshops und einer thematischen Gesprächsreihe. Fokus dabei ist das Theater in Kabul und Berlin in den gegenwärtigen Krisenzeiten sowie der Austausch der Theaterkünstler.

Von: 
Julia Joerin

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