»Und jetzt bitte direkt in die Kamera« lässt die Zuschauer an den Erlebnissen syrischer Kriegsflüchtlinge teilhaben. Die drastische Inszenierung im Neuköllner Heimathafen hinterlässt einen beklemmenden aber nachhaltigen Eindruck.
»Lasst nicht zu, dass unser Land stirbt«, steht in Großbuchstaben auf den Flugblättern, die den Zuschauern in den Schoß fallen. Gehetzt läuft Farah umher, verteilt Flugblätter und überträgt dabei ihre panische Angst auf das Publikum: Sie ist Aktivistin im syrischen Bürgerkrieg und in ständiger Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet und gefoltert zu werden.
»Und jetzt bitte direkt in die Kamera«, das neue Stück in der Reihe »LilaRisikoSchachmatt« im Heimathafen Neukölln, handelt von Menschen wie Farah, die ihr Leben riskieren für den Kampf gegen das Assad-Regime in Syrien, von ihren Erlebnissen im Gefängnis und von Noura, der Tochter einer wohlsituierten syrischen Familie, deren Vater und Bruder dem Regime nahestehen. Noura möchte, wie Farah, Karim und Zaid, ihren Beitrag zur Revolution leisten, weiß aber zunächst nicht wie, denn ihre Angst vor Demonstrationen und Verhaftungen ist zu groß – obwohl sie durch die Verbindungen ihrer Familie sicherer vor der Rache der Machthaber ist als viele andere junge Menschen im Land.
So beschließt sie, relativ naiv, die Erfahrungen von Gefängnisinsassen in Videointerviews zu dokumentieren. Nouras anfängliche Distanz schwindet schnell, als sie mit den brutalen Erlebnissen der politischen Häftlinge konfrontiert wird. Sie ist gefangen im Netz fremder Erinnerungen und kann die Stimmen in ihrem Kopf nicht mehr verstummen lassen.
Durch die 360-Grad-Nutzung des Zuschauerraums als Bühne gibt es kein Entrinnen mehr aus den Erinnerungen der Häftlinge
Regisseurin Lydia Ziemke gelingt es, durch die 360-Grad-Nutzung des Zuschauerraums als Bühne das Publikum Teil des Stücks werden zu lassen. Wenn Farah, Karim und Zaid gleichzeitig und immer lauter werdend ihre Erlebnisse immer und immer wieder schildern, gibt es auch für den Zuschauer kein Entrinnen mehr aus den Erinnerungen der Häftlinge. Als Grundlage für Ziemkes Inszenierung dient das Drehbuch des syrischen Autors Mohammad al-Attar.
Der 33-Jährige studierte englische Literatur und Theaterwissenschaften in Damaskus und London. Für Attar ist das Stück kein politisches Statement oder Propaganda, sondern eine Studie der Position der syrischen Mittelschicht, verkörpert durch Vater und Bruder von Noura. Die Geschichten der von Noura interviewten Häftlinge basieren auf Geschichten, die Attar in den syrischen Flüchtlingslagern im Libanon und der Türkei zugetragen wurden.
Eine besondere Rolle bei der Inszenierung von »Und jetzt bitte direkt in die Kamera« spielt die für jeden Charakter eigens komponierte Musik. »Das Stück war so sanft und leise«, so Regisseurin Ziemke, »ich habe mich gefragt, wo die Wut und die Schreie sind. Deshalb brauchten wir eine zusätzliche Ebene, um das aufgewühlte Innere der Charaktere darstellen zu können.« Und das ist den Machern, nicht zuletzt wegen der herausragenden Leistung des Schauspielerensembles, gelungen – wer sich nach knapp 100 Minuten von seinem kleinen Sitzhocker erhebt, hat das Gefühl, selber gerade nur knapp der psychischen und physischen Folter eines brutalen Systems entkommen zu sein.
Und jetzt bitte direkt in die Kamera
Regie: Lydia Ziemke
Text: Mohammad al-Attar
Weitere Aufführungen: 29./30./31. August im PIER 9 – Probebühne Heimathafen Neukölln
www.heimathafen-neukoelln.de