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Unterwegs durch Georgien und Armenien

Der Balkon Europas und das Kap Asiens

Reportage

Georgien und Armenien navigieren ihren Weg durch russischen Einfluss, Nato- und EU-Anbindung und ökonomische Umbrüche. Dabei bietet sich Besuchern ein vielfältiges Bild. Ein Reisebericht.

Überquert man die Grenze von Armenien nach Georgien auf dem Landweg, stellt sich beim Reisenden schnell das Gefühl ein, man sei vom Norden in den Süden gereist. Dabei ist es umgekehrt: Georgien liegt nördlich von Armenien. Gleich hinter der Grenze aber verändert sich das Landschaftsbild dramatisch. Durchfuhr man im Norden Armeniens eine von Steinen und Stille, von Felsen und Bergen beherrschte Landschaft, Schluchten, in denen das industrielle Erbe der Sowjetunion verrottet, so wartet Georgien mit Weinfeldern, winkenden Kindern am Straßenrand, mit Palmen und Obstbäumen auf, in denen sich das Sonnenlicht bricht.

 

Georgien wirkt im Vergleich zu Armenien wohlhabend, die Häuser gepflegter, das Vieh auf den Weiden fetter. »In den letzten Jahren ist viel Geld nach Georgien geflossen», bestätigt Katrin Bastert-Lamprichs den Eindruck. Die Archäologin arbeitet auch als Reiseleiterin für den Reiseveranstalter Studiosus und bereist die Staaten des Südkaukasus seit vielen Jahren regelmäßig. »Die West-Orientierung Georgiens hat sich rentiert, zumindest was die Infrastruktur und das Straßenbild angeht« sagt sie und verweist dabei auf die nagelneuen Polizeistationen, die man inzwischen in jeder Kleinstadt findet, und die frisch renovierten öffentlichen Gebäude, deren Wände in Pastellfarben erstrahlen.

 

»Vor einigen Jahren sah es hier noch aus wie in Armenien.« Auch die Hauptstadt Tiflis hat keine postsowjetische Ausstrahlung. Der Rustalweli Prospekt ist die Flaniermeile der georgischen Hauptstadt. An einem Sonnabend im Juni herrscht auf dem Prospekt, der sich mehrere Kilometer durch Tiflis zieht, dichtes Gedränge. Passanten und Straßenbild wirken mediterran, vielleicht auch levantinisch. Und dann ist da noch etwas anderes in der Luft, etwas, das daran erinnert, dass im Südkaukasus der mediterrane Kulturkreis seit Jahrtausenden auf den Persischen im Süden und auf den Slawischen im Norden stößt.

 

Tiflis hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Einerseits durch die Neubauten – spektakulär, und teilweise ordinär –, die im Volksmund als Saakaschwili-Bauten bekannt sind, weil sie zur Amtszeit des energetischen Ex-Präsidenten entstanden. Außerdem durch die teils prachtvoll, teils kitschig sanierten Altstadtviertel. Doch vor allem ist ein Prozess im Gange, der auch in den südkaukasischen Nachbarstaaten zu beobachten ist: Der Ausbau der Hauptstadt auf Kosten der Provinz. Letztere wird vernachlässigt und verarmt immer mehr, Ausnahmen sind allein einige Touristenziele.

 

Die Cafés und Restaurants sind gut besucht. Viele Besucher sind in die Hauptstadt gekommen, aus den anderen Regionen Georgiens, aus Adscharien, Mingrelien, Kachetien, darunter auch um die 100 junge Leute, die ausgestattet mit Trillerpfeifen, Megaphonen und Spruchbändern durch die Straßen bis vor das Parlamentsgebäude ziehen. Die Demonstration wird durch ein auffälliges Transparent geschmückt, die eine Karikatur des amtierenden Präsidenten zeigt, aus dessen Mundwinkel ein Joint baumelt. Die jungen Leute, kaum einer von ihnen dürfte über 30 sein, demonstrieren für die Legalisierung von Marihuana. »Wir wollen endlich so leben wie die Menschen im Rest Europas«, erklärt Thea, eine Grafikerin, die für die Demonstration extra aus Batumi am Schwarzen Meer angereist ist.

 

»EU ja, NATO nein!«

 

»Natürlich gehört Georgien zu Europa«, ergänzt sie, als hätte man sie danach gefragt, »wenn auch nicht zur EU.« »Ich will nicht in die EU«, brüllt ein junger Mann dazwischen. »In Georgien bin ich der letzte Arsch, in der EU wäre ich es auch!« Auf dem EU-Gipfel in Brüssel wurde kürzlich ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, Moldau und Georgien unterzeichnet. Dieses Vertragswerk löst in der Region neue Spannungen aus, die schon im November letzten Jahres begannen, als der damalige, inzwischen gestürzte Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, seine Unterschrift verweigerte.

 

Dieses führte zu den Protesten auf dem Maidan, der Flucht Janukowitschs, der Annektierung der Krim durch Russland und den anhaltenden Kämpfen in der Ost-Ukraine. Mit dem Vorstoß der EU in Richtung Kaukasus gibt es neuen Konfliktstoff, auch wenn es dabei nicht um eine Vollmitgliedschaft der betreffenden Länder geht. Wie denken die jungen Teilnehmer der Demonstration darüber? »EU ja, NATO nein!« sagt Swiad, der inmitten der Menschenmenge zusammen mit seinem kleinen Sohn auf einer gestylten Vespa sitzt.

 

»Wir Georgier geben uns keinen Illusionen hin. Im Ernstfall, wenn es wieder zu einem Konflikt mit Russland kommt, sind wir wieder auf uns alleine gestellt wie 2008. Russland bleibt aber unser Nachbarland. Obwohl ich pro-westlich eingestellt bin, bin ich der Meinung, dass wir nicht alle Verbindungen zu Russland einstellen dürfen.« Nino, eine flachsblonde Hotelangestellte, meint dagegen, dass die Nato-Mitgliedschaft Georgien vor Russland schützt, und der Beitritt zur EU neue ökonomische Perspektiven mit sich bringen wird. Ein Viertel der Einwohner Georgiens lebt heute im Großraum Tiflis, und auch die armenische Hauptstadt Eriwan wird von einem Drittel der Bevölkerung bewohnt – wenn man diesen Maßstab auf Deutschland überträgt, müssten in Berlin nicht etwa 3,5 Millionen Menschen leben, sondern etwa 20 Millionen.

 

Der Rustaweli Prospekt endet am Freiheitsplatz und mündet in den Stadtteil Sololaki, der auf sanften Hügeln gebettet liegt, ein Viertel, in dem sich noch viel des alten Charmes von Tiflis erhalten hat. Hier verkauft Sebastian Bücher an seinem Straßenstand, überwiegend belletristische Werke auf Georgisch, aber auch Russisch und Französisch, seiner Lieblingssprache, die er früher an der Universität lehrte. »Ach Paris,« schwärmt er, im perfekten Französisch. »Da wollte ich immer hin.

 

Zu Sowjetzeiten ging es nicht, da gab es keine Reisefreiheit. Heute kann ich nicht, denn es gibt kein Geld. Tiflis ist eine Stadt für junge Menschen, für uns Alte bleibt nur der Lebensabend auf niedrigen Niveau, mit kümmerlichen Renten«, seufzt er, während er Bücher sortiert. »Ob Georgien zu Europa gehört, fragen Sie. Sicher, wir sind doch der Balkon Europas. Aber, wie sagte doch der französische Schriftsteller Paul Valery: Europa ist doch nur ein Kap Asiens. Wenn Sie die wahre Stimmung in Georgien kennenlernen möchten, dann bleiben Sie nicht nur in Tiflis, fahren Sie raus aufs Land, reden mit den Menschen dort.« Gesagt, getan.

 

Auf der alten Heerstraße in Richtung Norden, in den Großen Kaukasus hinein, entdeckt der Reisende die Schönheit Georgiens. Uralte Kirchen und Klöster schmiegen sich an sanfte Hügelketten, smaragdgrüne Seen glitzern im Sonnenlicht. Hirten in malerischer Tracht führen Schafherden über die Felder und schauen den vorbeifahrenden Fahrzeugen hinterher. Die Reiseroute eignet sich auch, um über den Zustand Georgiens zu reflektieren. Die alte Heerstraße verbindet Georgien mit Russland. Sie wurde 1863 erbaut, aber schon seit Jahrtausenden als Handelsroute genutzt und durchquert die atemberaubende Gebirgslandschaft des Kaukasus.

 

»Wie weit wollt ihr die EU eigentlich noch nach Osten treiben?«

 

Die Straße schlängelt sich entlang der Grenze mit Süd-Ossetien. Doch die Idylle trügt, im Jahr 2008 tobte hier der sogenannte Fünftagekrieg zwischen Georgien und Russland. Schon Anfang der 1990er Jahre, vor und nach dem Untergang der Sowjetunion, wurde Georgien von den Sezessionskriegen der abtrünnigen Republiken Süd-Ossetien und Abchasien erschüttert. Tausende Menschen kamen ums Leben, Hunderttausende wurden zu Flüchtlingen, teilweise sind sie es bis heute geblieben.

 

Nach dem letzten militärischen Konflikt mit Russland 2008 scheinen Abchasien und Ossetien für Georgien verlorene Territorien zu sein, da Moskau deren Unabhängigkeit anerkennt. Die Gefahr besteht, dass jede weitere Annäherung Georgiens an die EU und Nato diese Teilung zementiert. Am Kreuzpass steht ein riesiges Denkmal im klobigen Stil des sozialistischen Realismus, das die Freundschaft zwischen Russland und Georgien künstlerisch darzustellen versucht. Das Denkmal entstand im Jahre 1983, als Russland und Georgien noch zur UdSSR gehörten, und erinnert an eine ferne vergangene historische Epoche, die nichts mehr mit der Gegenwart zu tun hat.

 

»Wie weit wollt ihr die EU eigentlich noch nach Osten treiben?«, fragt ein Hirte, der auf einem Pferd angeritten kommt. Er ist eine stattliche Erscheinung mit einer Fellmütze auf den schneeweißen Haaren. Er stellt sich als ehemaliger Oberst der Roten Armee vor, der einst in der DDR stationiert war. »Habt ihr in Brüssel, Berlin und Washington so wenig historisches Gespür? Schaut nach drüben, hinter den Bergen, dort liegt schon Tschetschenien. Von da kommen jede Nacht Reiter und klauen unser Vieh. Soll das eure neue EU-Außengrenze werden, oder wollt ihr uns mit euren Öko-Gesetzen beibringen, wie man Vieh hält?«, fragt er amüsiert.

 

»Das wird nie geschehen. Die Völker des Kaukasus lassen sich leicht erobern, aber beherrschen kann man uns nicht!«, mahnt er zum Abschied. 20 Minuten weiter liegt die Stadt Stepantsminda, 1.700 Meter hoch gelegen, direkt am Fuß des Kasbek, dem dritthöchsten Berg Georgiens. Hier endet der georgische Teil der Heerstraße, nur wenige Kilometer entfernt beginnt schon das Reich Putins. Die Trasse führt weiter nach Nord-Ossetien, welches nie zu Georgien gehörte, und in die dortige Hauptstadt Wladiwaskas.

 

»Aus Russland kommen wieder viele Touristen« sagt Andrey Vlasov, der Manager des Rooms Hotel in Stepantsminda. »Gut betuchte Touristen, aber natürlich haben wir auch Gäste aus anderen Ländern, aus Deutschland, Österreich, der Schweiz«, ergänzt der 31-Jährige. Das Rooms Hotel wurde erst vor einigen Jahren errichtet, auf den Trümmern einer heruntergekommenen Sowjet-Herberge. Die Terrasse gewährt einen atemberaubenden Blick auf die Gebirgslandschaft, das Hotel könnte auch in den Alpen stehen.

 

»Sicherlich hat Stepantsminda den westlichen Besuchern noch nicht so viel zu bieten wie ein Schweizer Urlaubsort, aber wir arbeitet daran. Bis dahin kommen die Gäste wegen der Ursprünglichkeit der Landschaft. Im Tourismus liegt die Zukunft Georgiens.« Andrey Vlasov hat ehrgeizige Pläne. Zwei weitere Hotelbauten in ähnlichem Stil sind in Planung. Das eine soll im Zentrum von Tiflis entstehen, das andere im subtropischen Badeort Batumi am Schwarzen Meer. Andrey Vlasov lädt zu einer Spritztour ein.

 

Per Jeep geht es über eine Schotterpiste hinauf zu der am Fuß des Kasbek gelegenen Dreifaltigkeitskirche. Die Sicht auf den Kasbek ist atemberaubend, die Kirche aus dem 14. Jahrhundert ruht malerisch auf einer Anhöhe, scheinbar völlig unberührt von den Stürmen der Zeit. »Georgien ist wie ein guter Kognak«, sagt Andrey beim Anblick des Landschaftsbildes. »Nicht jeder weiß, wie guter Kognak entsteht. Zur Herstellung von Kognak brauchst du Wein, Sonne, Eichenholz, guten Geschmack, und natürlich Zeit. Ein junger Kognak schmeckt rau und ruppig. Alter Kognak hingegen rinnt sanft und weich durch die Kehle. So ist es auch mit Georgien. Wir sind zwar ein altes Land, aber noch eine junge Nation. Was Georgien und Europa angeht, brauchen wir da wahrscheinlich auf beiden Seiten noch etwas Zeit«.


Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Studiosus Reisen München.

Von: 
Ramon Schack

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