Das Urteil zum Mord am armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink erklärt den Fall zu einer unpolitischen Einzeltat. Doch entscheidende Beweise blieben unberücksichtigt. Schon formiert sich Widerstand gegen den Richterspruch.
Letzte Woche Dienstag verkündete der vorsitzende Richter Rüstem Eryilmaz das Urteil im Mordfall an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink: siebzehn Freisprüche, einmal lebenslänglich. Der zur Tatzeit minderjährige Todesschütze Ogün Samast war schon zuvor zu 22 Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte Dink vor fünf Jahren beim Verlassen des Redaktionsgebäudes der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos, deren Chefredakteur er war, mit zwei Schüssen in den Kopf und einem in den Hals hingerichtet.
Samasts Komplize Yasin Hayal bekam lebenslänglich. Der Rechtsnationalist Hayal und sein junger Auftragnehmer sind damit vom Verdacht freigesprochen, Teil eines Mordkomplotts, organisiert durch die extreme Rechte der Türkei, gewesen zu sein – so sieht es zumindest das Gericht in Istanbul.
Sofort regte sich Widerstand. Der Staatsanwalt sprach von einem fehlerhaften Richterspruch: Ein Angeklagter wurde – aus Schludrigkeit oder mit Absicht – gar nicht berücksichtigt. Und das Gericht, selbst zuständig für organisiertes Verbrechen, sah keines im vorliegenden Mordfall – und wäre somit gar nicht zuständig gewesen. Minuten nach dem Urteil sagte die Anwältin der Familie Dink, Fethiye Çetin, vor dem Gericht vor laufenden Kameras: »Das Gericht hat sich mit diesem Urteil regelrecht über uns lustig gemacht.« Der Attentäter habe vor dem Mord stundenlang von einem Internetcafé in unmittelbarer Nähe des Tatorts aus telefoniert. Es sei jedoch nicht möglich gewesen, Aufnahmen seiner Telefonate zu bekommen.
Selbst Richter Eryilmaz gab sich in einem Interview mit der türkischen Zeitung Vatan unzufrieden mit der Urteilsfindung. »Es muss Anstifter gegeben haben, doch wir bräuchten dafür auch legale Beweise.« Er spricht von einem hohen Druck auf das Gericht, nach fünf Jahren zu einem Urteil zu kommen: »Hätte man auch noch die Aufzeichnungen der türkischen Telekom untersucht, dann hätte sich der Prozess unnötig in die Länge gezogen.«
»Wir sind alle Hrant Dink«
Sämtliche Aufzeichnungen der Sicherheitskameras der Gegend legte Anwältin Çetin dem Gericht vor, Eingang in die Polizeiakten fanden diese Dokumente jedoch nicht. Auf den Kamerabildern ist zu sehen, wie zwei Personen dem Attentäter helfen nach dem Mord zu entkommen. Auch war Dink vor dem Mord bereits lange Zeit Opfer von Morddrohungen aus rechtsnationalen Kreisen. Und doch befand das Gericht, es spräche nichts dafür, dass der Mord an Dink von langer Hand geplant und organisiert worden war. Eine Organisation wie »Ergenekon« stünde nicht dahinter. Und so sprach das Gericht jene siebzehn Verdächtigen frei, die wegen Verdachts auf Mitgliedschaft in der rechtsnationalen Terrororganisation bisher festgehalten worden waren.
»Die Behandlung des Falles als Einzeltat einiger junger Männer ignoriert deren bewiesene Verbindung mit den Sicherheitskräften«, sagt Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch. Die Polizei in Istanbul und Trabzon sei mehrfach über die Mordpläne informiert worden und habe nicht gehandelt. Auch das habe das Gericht absichtlich nicht in seine Betrachtungen mit einbezogen, so Sinclair-Webb. Im Abschlussplädoyer des Staatsanwalts sei auf die Existenz eines kriminellen Netzwerks mit Verbindungen zu »Ergenekon« hingewiesen worden. Entscheidendes Beweismaterial für solche Verbindungen sei aber von staatlichen Stellen zerstört und weitere Untersuchungen abgelehnt worden. Die Staatsanwaltschaft kündigte, wie auch die Anwälte der Familie Dink, Berufung an.
Am Tag nach dem Urteilsspruch gingen mehrere zehntausend Menschen in Istanbul auf die Straße. Sie forderten Gerechtigkeit, eine transparente und vollständige Aufklärung des Falles. Wir schon nach dem Mord solidarisierten sich die Demonstranten mit der Familie des Opfers durch Schilder mit der Aufschrift: »Wir sind alle Hrant Dink, wir sind alle Armenier«. Am darauffolgenden Freitag fand zudem ein von den »Freunden Hrant Dinks« geplantes Konzert zugunsten der Hrant Dink Stiftung statt. Mit dabei waren verschiedene Künstler wie REDD, Moğollar, Mor ve Ötesi und Kardeş Türküler.
Im Mittelpunkt des Abends stand die Rockgruppe REDD mit ihrem kurze Zeit nach dem Mord an Hrant Dink komponierten Song »Özgürlük Sırtından Vurulmuş – Hinterrücks wurde die Freiheit erschossen«. Das Lied widmeten sie allen Journalisten, die in den vergangenen Jahren in der Türkei ermordet wurden.
Ein Lied über die hinterrücks erschossene Freiheit
Beim Gedenkkonzert für Hrant Dink war Vielfalt angesagt: Es wurden armenische, türkische, kurdische, griechische und hebräische Lieder gesungen, während im Hintergrund Bilder von Hrant Dinks Kindheit in Istanbul zu sehen waren. Cahit Berkay von der Gruppe Moğollar rief das Publikum auf: »Es gibt zahllose Morde in der Türkei, bei denen die Täter unbekannt sind. Dieser Mord unterscheidet sich dadurch, dass wir alle ganz genau wissen, wer der Mörder ist. Darüber müssen wir alle ersthaft nachdenken.«
Berke Hatipoğlu und Güneş Duru, Gitarristen der Gruppe REDD, sagten: »Als Hrant Dink vor fünf Jahren ermordet wurde, waren wir gerade auf dem Rückweg von einem Konzert. Wir waren tief betroffen, enttäuscht und wortlos. Darauf folgte Wut. Wir hatten so etwas schon befürchtet, denn damals gab es eine regelrechte Hetzkampagne gegen Hrant Dink.«
REDD sorgte schon im letzten Sommer vor einem Bon Jovi-Konzert in Istanbul für Schlagzeilen, wo sie als Vorgruppe auftraten. Sie brachten damals lebensgroße Bilder der verhafteten Journalisten Ahmet Şık und Nedim Şener mit auf die Bühne, gegen die absurderweise wegen Verdachts auf »Ergenekon«-Mitgliedschaft ermittelt wird. REDD kritisierte die ungerechten Gerichtsverhandlungen der Journalisten, die inzwischen seit über zweihundert Tagen in Haft sind. Beide arbeiteten unter anderem an Geschichten über den Mordfall Hrant Dink, die »Ergenekon«-Prozesse und die umstrittene islamische Bewegung von Fethullah Gülen.
Der Sänger der Gruppe, Doğan Duru, befürchtete von dem jüngsten Urteil im Dink-Prozess Schlimmes: »Der umstrittene, fehlerhafte Richterspruch wird die Verantwortlichen zu neuen Verbrechen und eventuellen Morden ermutigen, ja, er wird sogar eine Basis dafür sein. Wir empfinden grosse Enttäuschung, Erbitterung und Wut gegenüber der Justiz, den Institutionen und deren Handlungen.« Und Duru fügte noch hinzu: »Wir glauben nicht, dass heutzutage in der Türkei wahre Demokratie herrscht.«
Auch die Medien würden ihrer Rolle nicht gerecht. Sie stünden größtenteils auf der Seite der Regierung. »Unsere Medien tragen in diesem Fall eine gewisse Mitschuld, denn sie scheuen sich im nötigen Moment, eine klare Reaktion zu zeigen«, so Duru weiter. REDDs Lied über die hinterrücks erschossene Freiheit ist längst zum Symbol des Mordes an Hrant Dink geworden und ist auch in den sozialen Netzwerken weit verbreitet. Bei den offiziellen türkischen Musiksendern steht es allerdings bereits auf dem Index. Texte mit gewissen politischen Inhalten sind hier nicht willkommen.