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Verhältnis zwischen Armee und Staat in der Türkei

Das Haupt der Medusa?

Feature

Ilker Basbug, Ex-Generalstabschef der türkischen Streitkräfte, wurde wegen angeblicher Putschvorbereitungen verhaftet. Das Verhältnis zwischen Armee und Staat durchläuft eine Revolution.

Es ist die nächste Etappe in einem seit 2007 laufenden Justizkrimi. Damals hatte die Staatsanwaltschaft Istanbul Ermittlungen gegen dutzende angebliche Mitglieder des nationalistischen Ergenekon-Netzwerkes aufgenommen, denen unter anderem Verschwörungen gegen die Regierung und diverse Anschläge vorgeworfen werden. In diversen Prozessen sind gegenwärtig mehr als 100 Personen, darunter vor allem aktive wie ehemalige Militärs und Journalisten angeklagt.

 

Doch noch nie zuvor wurde ein so hochrangiger Militärangehöriger in Untersuchungshaft genommen. Bis 2010 war Ilker Basbug Generalstabschef und damit im Kriegsfall Oberster Befehlshaber der türkischen Armee. Laut Zeitungsberichten ordnete die Staatsanwaltschaft nach einem fast acht Stunden dauernden Verhör in einem Istanbuler Gerichtsgebäude die Festnahme an. Er soll zum Führungskreis der Ergenekon gehören und die Schaffung dutzender regierungskritischer Webseiten beauftragt haben, eine formelle Anklageschrift liegt bislang aber noch nicht vor.

 

Während internationale Beobachter befürchten, die AKP-geführte Regierung nutze die Prozesse, um Kritiker mundtot zu machen, betonten Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Präsident Abdullah Gül stets, wie sehr die Staatsanwälte die Demokratie mit ihren weitreichenden Ermittlungen schützten. Die tausende Seiten schweren Anklageschriften beinhalten einen Großteil der bislang ungeklärten politisch motivierten Morde der jüngeren türkischen Geschichte, ebenso Bombenattentate auf öffentliche Gebäude und Zeitungsredaktionen. Teils werden auch persönliche Beziehungen zwischen türkischen Nationalisten, der kurdischen PKK und der Mafia nachgezeichnet.

 

Armee nicht mehr länger »Wächterin der Verfassung«

 

Trotz des offensichtlichen Versuchs, die Prozesse transparent zu gestalten – teils wurden Turnhallen zu Gerichtssälen umfunktioniert, um dem Besucherandrang gerecht zu werden – fußen weite Teile der Anklageschriften auf geheimen Dokumenten und Berichten anonymer Zeugen. Während das tatsächliche Ausmaß des Terrornetzwerkes unklar bleibt, ist schwer zu bestreiten, dass die islamisch orientierte AKP innerhalb des Militärs lautstarke Kritiker besitzt.

 

Diese Zustand veränderte sich erst, als mit Hilmi Özkök zwischen 2002 und 2006 ein Generalstabschef die Armeeführung übernahm, der jeder Form von Interventionismus kritisch gegenüberstand und Putschvorbereitungen seiner Generäle konsequent unterband. Ohne seine AKP-freundliche Personalpolitik wäre es vor der Ernennung von Gül zum Staatspräsidenten 2007 nach Einschätzung vieler Forscher zu einem weiteren Umsturzversuch gekommen. Bis heute könnten viele Soldaten einen offen islamischen Befehlshaber nur schwerlich akzeptieren.

 

Im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten, als die Generalität wie 1960, 1971 und 1980 in die Geschicke des Landes eingriff und verhinderte, dass mal sozialistische, mal islamische Parteien und Gruppierungen zu großen politischen Einfluss bekamen, mündet diese Kritik nun jedoch nicht mehr in einer Staatskrise. Stand es damals außer Frage, ob die Justiz gegen die selbsterklärte »Wächterin der Verfassung« vorgeht, sind die Prozesse heute der Lackmustest für den Stand der Demokratisierung - die AKP muss mit ihnen beweisen, dass auch sie politische Opposition duldet.

 

In mehreren Zeitungen wurde bereits die Vermutung geäußert, eine Rücktrittswelle unter aktiven Militärs drohe, sollte Ilker Basbug in Haft bleiben. Dieser wies alle Anschuldigungen von sich: »Wenn man mir vorwirft, ich hätte mit einigen Internetgeschichten putschen wollen, so ist das sehr schmerzlich. Als Kommandeur einer 700.000 Mann starken Truppe hätte es andere Methoden gegeben, das zu erreichen.« Gegenwärtig befinden sich nach Militärangaben 58 aktive oder ehemalige Generäle in Haft. Bereits im vergangenen Jahr war die gesamte Armeeführung aus Protest gegen die Verhaftungswellen zurückgetreten.

Von: 
Nils Metzger

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