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40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 6

»Die Türkei ist zurecht frustriert«

Feature
40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 6
Journalist Hugh Pope im Gespräch mit Erdoğan Hugh Pope

Zeitzeugen, Journalisten und Forscher schildern in zenith, wie der Putsch vor 40 Jahren die Türkei bis heute prägt. Heute mit dem Soziologen Ali Ergur und dem Journalisten Hugh Pope.

Prof. Dr. Ali Ergur (*1966), Soziologe, Istanbul

Ali Ergur studierte Verwaltung, Politik- und Sozialwissenschaften in Istanbul und promovierte 1997 in Soziologie an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara. Seit 2000 unterrichtet er an der französischsprachigen Galatasaray-Universität in Istanbul, daneben als Gastprofessor an verschiedenen Hochschulen in der Türkei und Frankreich, einschließlich Paris. Seine zahlreichen Veröffentlichungen widmen sich neben Kommunikation, Informationstechnologie und der post-industriellen Gesellschaft insbesondere der Soziologie der Musik als Spiegel moderner Entwicklungstheorien.

40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 6

 

zenith: Wie haben Sie den 12. September 1980 erlebt?

Ali Ergur: Ich war mit meinen Eltern im Urlaub in Los Angeles. In unserem familiären Umfeld wurde niemand verhaftet. Ich war erst 14 Jahre alt, aber durchaus in der Lage, die Ereignisse einzuschätzen. Wir erlebten das Chaos einer gespaltenen Gesellschaft. In Anbetracht der zahlreichen politischen Morde hatten viele auf ein Eingreifen des Militärs gewartet.

 

Was führte zum Putsch?

Dahinter steckte mehr als lediglich ein Komplott von fünf Generälen. Offiziell ging es darum, die innenpolitisch geschwächte Türkei militärisch und ökonomisch wieder an die Welt anzubinden. Ich behaupte nicht, dass die CIA (etwa wie in Chile 1973) in Ankara mitmischte; jedoch können wir die Ereignisse nicht vom globalen Kontext trennen. So sehe ich Verbindungen zu einem Konfliktherd, der sich in der Türkei mindestens bis zum ersten Militärputsch von 1960 zurückverfolgen lässt.

 

Die ausgesprochen demokratische Verfassung von 1961 räumte den Gewerkschaften neue Freiheiten ein. Das wiederum missfiel der Großindustrie, und so übte man in den 1970er Jahren – nicht zuletzt durch das Memorandum von 1971 – politischen Druck aus, um die Berufsverbände zu schwächen. Solche Mittel waren spätestens mit den unter Süleyman Demirel verabschiedeten Entscheidungen vom 24. Januar 1980 aufgebraucht. Um die Gesetze zur Kapitalisierung der Türkei gegen massiven Widerstand zu implementieren, schien der Staatsstreich notwendig.

 

Welche Veränderungen der 1980er Jahre betrachten Sie als besonders wichtig?

Nach den Wahlen 1983 zog sich das Militär zurück. Kenan Evren wurde Staatsoberhaupt und Turgut Özal der Vollstrecker eines autoritären Staatsmodells mit konservativen und islamistischen Tendenzen. Das Gesundheitswesen wurde privatisiert. Im Wettbewerb des neuen ökonomischen Modells war nun jeder für sich selbst verantwortlich. Die politische Linke wurde dem Erdboden gleich gemacht. Als Resultat verarmten weite Teile der Bevölkerung.

 

Besonders hart traf es das Bildungssystem, das man zunehmend vereinfachte, um es zu de-politisieren. Nicht zuletzt wurde in den Schulen zum ersten Mal Religionsunterricht eingeführt. Die Gesellschaft degenerierte zu einer Art Durchschnittsmensch – unfähig, die Ereignisse in der Welt zu verfolgen, geschweige denn zu verstehen. Was zählte, war allein ihre Kaufkraft. So rühmte sich Erdoğan 2018 damit, die Zahl der Universitäten in der Türkei von 76 auf 206 erhöht zu haben. Der rapide Qualitätsverlust, der damit einherging, wurde ausgeklammert. Den höchsten Preis zahlte das kulturelle Leben. In den 1960er Jahren gab es in der Türkei neben den staatlichen rund 200 unabhängige Theater. Selbst auf den Boulevard-Bühnen wurde Brecht gespielt. Neben dem Verlust ihrer intellektuellen Vielfalt wurde die Türkei auch von ihrer traditionellen Kultur entfremdet.

 

Wie wirken diese Veränderungen heute nach?

Lassen Sie mich bei der Kultur beginnen. Auch vor dem Putsch konnte man in Symphonie-Konzerten durchaus Frauen mit Kopftuch sehen. Dennoch waren die ästhetischen Sparten generell an gewisse soziale Milieus gekoppelt, in denen sich jeweils ein ganz eigenes Bürgerprofil ausdrückte und die miteinander wenig Austausch unterhielten. Parallel zur Vermischung der Land- und Stadtbevölkerung gingen aus dem hybriden, am Markt orientierten Arabesk neue Synthesen hervor, die seither fortlaufend mutieren und sich schwer eingrenzen lassen. Dieser Trend hat sich auf die kemalistisch geprägten Konservatorien und Opernhäuser ausgebreitet.

 

Übertragen wir das auf die sozialen Aspekte: In der jungen Generation wächst die Gesellschaft wieder stärker zusammen in eine, ich würde sagen, ganz neue Türkei. 1980 lebten 80 Prozent der Bevölkerung auf dem Land, 20 Prozent in den Städten. Heute ist das umgekehrt, und doch hat nicht nur die Elite, sondern jedes Dorf Zugang zum Internet. Zwangsläufig werden da, bis hin zur Regierung, auch Reaktionäre das Wort ergreifen, die sich von der fortschreitenden Globalisierung überfordert fühlen.

 

Dennoch kann sich eine durch Informationstechnologie vernetzte Gesellschaft demokratischer entfalten, als dies früher möglich war. Infolge der unzähligen Menschenrechtsverletzungen hat der Respekt vor dem Militär seit den 1980er Jahren dramatisch abgenommen. All das geschah im Namen Atatürks, und die Verunsicherung über die Rolle des Staatsapparats hat viele zum Nachdenken angeregt. Insbesondere die Frauen haben sich von den Werten der patriarchalischen, autoritären Gesellschaft distanziert, und diese Emanzipation lässt sich auch in den konservativen Milieus verfolgen. Wie ein zusammenhängendes Dorf ist heute die ganze Welt ähnlich betroffen.

 

Hugh Pope (*1959), Journalist, Buchautor, International Crisis Group, Brüssel

Hugh Pope studierte Persisch und Arabisch in Oxford und berichtete aus Krisengebieten des Nahen Ostens für den Independent, die Los Angeles Times, BBC und Reuters. In Istanbul leitete er das regionale Büro des Wall Street Journal und das Türkei/Zypern-Projekt der International Crisis Group, für die er 2015 als Direktor für Öffentlichkeitsarbeit nach Brüssel zog. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen gehören »Turkey Unveiled: A History of Modern Turkey« (1997) und »Dining with al-Qaeda: Three Decades Exploring the Many Worlds of the Middle East« (2010).

 

zenith: Wie wurde der Militärputsch in der Türkei 1980 im Westen aufgenommen?

Hugh Pope: Vor dem Hintergrund der Islamischen Revolution in Iran, der sowjetischen Intervention in Afghanistan und der Besetzung der Großen Moschee von Mekka sorgten die Ereignisse in der Türkei kaum für alarmierende Schlagzeilen. Prinzipiell empfand man sie als einen Segen, immerhin war die Zustimmung in der türkischen Mittelklasse nicht unerheblich; zu blutigen Ausschreitungen war es auch nicht gekommen. Die Folgen – Unterdrückung, Verhaftung, Folter und Hungerstreik – ließen sich außerhalb der Türkei kaum voraussehen.

 

Wie wurden Sie auf die Ausschreitungen des Militärregimes aufmerksam?

Ich selbst reiste erst nach dem Putsch, 1982, in die Türkei – damals von Syrien aus, das im Vergleich zur Türkei über eine starke Wirtschaft und eine moderne, gebildete Gesellschaft verfügte. Erst damals wurde mir klar, wie sehr sich der Putsch von 1980 von früheren Militärinterventionen unterscheidet. Wir besuchten den Berg Nemrut Daği, wo man eben die erste Straße baute. Ich erinnere mich an einen Abend in einem ausgesprochen gepflegten kurdischen Dorf.

 

Mein Begleiter fragte nach den Auswirkungen von 1980, und über den Raum fiel ein Schweigen, das bis zum Morgen anhielt. Später in einem Café in Istanbul hörte ich, wie sich die Leute über ihre Erfahrungen im Gefängnis austauschten. Als Journalist kam ich mit zahlreichen Opfern in Kontakt. Die Gespräche waren von spürbarer Angst geprägt.

 

Ohne Zweifel wurde das »Eisen« der PKK in türkischen Gefängnissen zu »Stahl« geschmiedet. Allerdings muss ich hinzufügen, dass das Militär die Inspektionen ausländischer Delegationen wenig einschränkte und wir gerade deswegen so viel über die Ausschreitungen wissen. Das Ausland behandelte die Türkei damals etwa wie ein Versuchslabor für Menschenrechte.

 

Gerne beschuldigt man das Militär der Fahrlässigkeit. Bei der Lektüre von Kenan Evrens fünfbändigen Memoiren kam ich eher zu dem Eindruck, dass er seine Entscheidungen genau abwog. Er wartete lange auf Rückendeckung, bevor er die Panzer vorfahren ließ. Weit hergeholt ist das nicht, schließlich stützen sich auch autoritäre Machthaber wie Erdoğan oder Donald Trump auf ein bestimmtes Maß an Zustimmung.

 

Was bedeutete der Putsch für die Stellung des Militärs?

In der Türkei finden sich auch im Chaos immer Momente, wenn sich die Wolken lichten und die Demokratie hineinscheint. Bei den Wahlen 1983 schickte der »Nationale Sicherheitsrat« erfolglos zwei Parteien (eine für den linken, eine für den rechten Flügel) ins Rennen. Stattdessen gewann die »Mutterlandspartei« (ANAP) mit Turgut Özal, den man nicht wollte. Bis 1989 blieb Kenan Evren Staatspräsident, bis dahin hatte sich das Militär zurückgezogen.

 

1997 kam es noch einmal zur sanften Intervention, dem so genannten postmodernen Staatsstreich, der mit dem Verbot von Erbakans »Wohlfahrtspartei« (RP) und zahllosen Entlassungen lediglich die Islamisierung eindämmte. Der erneute Schwenk zum Laizismus führte aber zur Gründung der AKP, die sich zum kemalistischen Staat bekannte. Obwohl Erdoğan die Verantwortlichen zehn Jahre später ausnahmslos verhaften ließ, erlebte ich bei einem Treffen mit hohen Regierungsbeamten, dass man Offizieren noch beachtlichen Respekt erwies.

 

Das hat sich spätestens mit dem Fiasko von 2016 erledigt. Die Türkei ist zu komplex geworden, als dass das Militär die Macht so leicht wie im 20. Jahrhundert übernehmen könnte. 1980 bestand die Exportwirtschaft der Türkei, grob gesagt, aus Haselnüssen und getrockneten Feigen. Heute haben wir es mit einer expandierenden Großmacht zu tun, die ihre ökonomischen Interessen mit Militärbasen im Ausland festigt.

 

Was führte zum Vertrauensbruch zwischen der Türkei und Europa?

Özal war es wichtig, von der Öffentlichkeit verstanden zu werden. Die Kommunikation mit ihm empfand ich immer als stimulierend. Demirel dagegen war ein Fuchs: Seine Aussagen hörten sich im ersten Moment deutlich an; musste man das Material danach in einen Bericht fassen, kam man durcheinander. Vor 1999 waren der Dialog mit dem Ausland von den Beziehungen mit der NATO und Handel mit der damaligen EWG bestimmt. Die Türkei gehörte zum Westen, das war politischer Tatbestand.

 

Bis 1975 war man erpicht, sie mit Griechenland als gleichwertig zu behandeln. Als Griechenland die Verhandlungen einleitete, wurde auch Demirel gefragt. Er jedoch hätte seinen Koalitionspartner Necmettin Erbakan verloren und musste ablehnen. Gewiss war das eine Art ewiges Schachspiel, an das niemand ehrlich glaubte. So führte die frühe Strategie türkischer und europäischer Regierungen zu gegenseitigem Respekt, manchmal sogar zu einer Freundschaftsbasis.

 

Aber an dieser Stelle wendete sich das Blatt. Den Staatsoberhäuptern der Türkei ist es weder gelungen, einen Rechtsstaat nach europäischen Vorbild zu bauen, noch reizte sie das europäische Projekt, einer vereinigten Oberhoheit in Brüssel. Die EU wiederum war in der Zypernfrage nicht aufrichtig, Und, trotz des Angebots einer EU-Kandidatur von 1999, gaben europäische Politiker unmissverständlich zu erkennen, dass sie die Türkei, wie sie auch sich entscheiden würde, als zu arm, zu rau und zu muslimisch ansahen, um ihrem Club beizutreten. Zurecht ist die Türkei frustriert, was wir erneut im Zuge der Spannungen im östlichen Mittelmeer beobachten.

 

Dabei muss man den Konfliktherd Zypern im Ganzen betrachten. Als ich die Insel vor dem Einmarsch der türkischen Armee 1974 besuchte, lebten türkische Zyprioten in Ghettos hinter Stacheldraht. Die Griechen hatten mit der Teilung angefangen. Wenn sich die EU also nicht um Vertrauen bemüht, wird sie die Türkei als Partner verlieren. Seien wir ehrlich, wie auch immer sich die Politik der Stunde gestaltet, ist die Türkei ebenso kulturell wie ökonomisch mit Europa verwachsen. Wir sollten der Fragmentierung nicht untätig zusehen, sondern die Scherben auf den Tisch legen und sie wieder zusammenfügen. Die westliche Presse liebt es, Erdoğan zu hassen, und übersieht, dass auch die »andere« Türkei weiterlebt.

Von: 
Stefan Pohlit

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