Am 5. Juni jährt sich der Sechstagekrieg zum 50. Mal. Der Historiker Helmut Mejcher erklärt im Interview, wie die damaligen Ereignisse die arabische Welt veränderten und noch heute prägen.
zenith: Herr Mejcher, am 5. Juni begann vor genau 50 Jahren der Sechstagekrieg zwischen den Staaten Israel, Ägypten, Jordanien und Syrien. Anlässlich der geplanten Feierlichkeiten verkündete Premier Netanyahu, dass dieser Krieg »einer der größten Siege in der Geschichte Israels« gewesen sei. Sehen Sie das genauso?
Mejcher: Keineswegs. Letztendlich hat der Sechstagekrieg dem Land große politische Probleme beschert. Zwar konnte die ägyptische Blockade des Zugangs zum Hafen von Eilat durchbrochen werden – mit der erneuten Besetzung des Sinai überspannte Israel jedoch den Bogen. Mit dem Westjordanland wurde ein großer Teil der palästinensischen Bevölkerung nun wieder unter israelische Kontrolle gebracht, nachdem man sich dieser im Jahr 1948 bereits entledigt hatte. Zudem konnte die ohnehin schon prekäre israelische Wasserinfrastruktur durch die Besetzung der Golan-Höhen kaum verbessert werden.
Netanyahu spricht weiter von einer »Befreiung« von Judäa, Samaria und den Golan-Höhen. Der Krieg habe Israel einen Teil seiner Heimat zurückgebracht.
Damit richtet Netanyahu das Wort an die Siedlerbewegung und deren Befürworter in der Knesset. Unter anderem seine Koalitionspartner.
Eine Siedlerbewegung, die im Sechstagekrieg ihren Anfang nahm ...
Das ist so nicht ganz richtig. Schon während des Zweiten Weltkriegs gab es zionistische und sogar jordanische Bestrebungen, jüdische Ackerbauern am Ostufer des Jordans anzusiedeln. Man hatte dort bereits im 19. Jahrhundert gute Erfahrung mit der Ansiedlung von Tscherkessen aus dem Kaukasus gemacht.
Der Siedlerbewegung ab 1967 ging es um Landwirtschaft?
Nein. Die Siedlerbewegung nach dem Sechstagekrieg zielte letztendlich auf die Sicherung von Grenzen und Korridoren ab. Zudem sollte Israels schmales Kernland an Tiefe gewinnen. Unter der Obhut der israelischen Arbeiterpartei orientierte man sich dabei vornehmlich am sogenannten »Allon-Plan« und dessen weiteren Varianten.
Und wie sieht es mit der Siedlerbewegung heute aus?
Bei der großflächig angelegten, zionistischen Besiedelung der palästinensischen Westbank handelt es sich meines Erachtens um ein ethno-religiöses Projekt der Likud-Regierungen. Bereits Ariel Scharon hatte dazu aufgerufen, möglichst viele Hügel zu besiedeln. Mit fanatischen Gruppierungen, wie der national-religiösen »Hügeljugend«, und deren Ziehkindern vom Schlage Naftali Bennetts ist ein Kompromiss in der Siedlungsfrage kaum möglich. Ganz zu schweigen von einer Lösung.
Nasser wollte seinen panarabischen Führungsanspruch wieder geltend machen. Hierfür schien der Sinai bestens geeignet – wie bereits im Rahmen der Suezkrise 1956
Kommen wir auf das zu sprechen, was vor 50 Jahren geschah. Können Sie die politische Lage im Nahen Osten vor dem Sechstagekrieg skizzieren?
Das Ansehen des ägyptischen Präsidenten, Gamal Abdel Nasser, war Mitte der 1960er Jahre stark ramponiert. Saudi-Arabien befeuerte zusammen mit Jordanien eine Kampagne gegen ihn. Nasser wurde schließlich zum Gedemütigten und Getriebenen, der einen großen politischen Sieg brauchte. Sein Ziel war es, seinen panarabischen Führungsanspruch wieder geltend zu machen. Hierfür schien ihm der Sinai, wie bereits im Rahmen der Suezkrise 1956, bestens geeignet.
Dort ließ Nasser schließlich seine Truppen aufmarschieren und verlangte den Abzug der stationierten UN-Truppen. Knapp drei Wochen später besetzte Israel schließlich die komplette Sinai-Halbinsel. Wie konnte dies gelingen?
Das Blitzkrieg-Konzept mittels Luftwaffen und Panzerkorps war in der israelischen Militärplanung von zentraler Bedeutung. Das wusste auch das Pentagon: Als israelische Unterhändler vor Kriegsausbruch neue Waffen in den USA kaufen wollten, sah man dort keine Notwendigkeit . Mit den vorhandenen israelischen Waffenbeständen prognostizierte man einen Sieg innerhalb einer Woche – und das sogar im Falle eines arabischen Angriffs. Dennoch sollte es zwei Tage dauern, bis die von den Sowjets ausgerüsteten ägyptischen Verbände im Sinai aufgerieben waren.
Angesichts der Drohgebärden des ägyptischen Präsidenten Nasser: Traf dieser Blitzkrieg die Araber wirklich so unerwartet?
Die laute Rhetorik des ägyptischen Präsidenten offenbarte eher dessen Ohnmacht. Gegenüber US-Präsident Lyndon B. Johnson hatte Nasser betont, dass er die Massen brauche, um Stärke zu zeigen – hinter jedem Wort eines amerikanischen Präsidenten dagegen stünde eine ernstzunehmende Macht. Der listige israelische Vernichtungsschlag kam für die ägyptische Luftwaffe unerwartet. Das lag nicht zuletzt daran, dass der ägyptische Vizepräsident Zakaria Mohieddin sich am 7. Juni 1967 nach Washington begeben sollte, um eine Deeskalation im Sinai herbeizuführen.
Abgesehen vom gemeinsamen Feind Israel: Wie standen die arabischen Staaten seinerzeit zueinander?
Die Arabische Liga war in sich völlig zerrissen. Deshalb erhielt Ägypten im Sechstagekrieg auch mehr Hilfsangebote aus den Maghreb-Staaten als aus dem arabischen Osten. Schon die Vereinigung Ägyptens mit Syrien war nicht von langer Dauer gewesen. Den Royalisten der Arabischen Halbinsel standen die Republikaner und Panarabisten sozialistischer Couleur gegenüber. In Syrien war ein arabischer »Kalter Krieg« in vollem Gange. Dabei standen sich die Anhänger der Neo-Baath-Partei und alawitische Militärs gegenüber.
Die Sowjetunion verbreitete vor Ausbruch des Krieges nachweislich eine Falschmeldung über eine angebliche Truppenverstärkung der israelischen Armee an der syrischen Grenze
Und welche Rolle spielten die beiden Großmächte Sowjetunion und die USA?
Obwohl sich die beiden Großmächte im Vietnamkrieg gegenüberstanden, verfolgten sie im heraufziehenden Sechstagekrieg eher eine Art Eindämmungspolitik. Die USA favorisierte eine »Zurechtstutzung« Nassers und signalisierte Israel deshalb grünes Licht. Israel wünschte sich von Washington eine Zusage, nach dem Krieg keinen Rückzug Israels aus den eroberten Gebieten zu fordern oder zu erzwingen – im Gegensatz zum Sinai-Krieg 1956. Obwohl für Israel der Sieg bereits feststand, wurde das US-Spionageschiff »Liberty« ins östliche Mittelmeer beordert.
Und wie handelte die Sowjetunion?
Die Sowjetunion verbreitete vor Ausbruch des Krieges nachweislich eine Falschmeldung über eine angebliche Truppenverstärkung der israelischen Armee an der syrischen Grenze. Klar ist, dass damit das Aktionsfeld des Krieges vom Sinai in den nördlichen Nahen Osten verschoben werden sollte. Was weitere Motive der Konfliktparteien angeht, darüber kursieren zahlreiche Spekulationen.
Zum Beispiel?
Es stellt sich etwa die Frage, ob Moskau in der marxistisch orientierten syrischen Neo-Baath-Partei einen »natürlicheren« Partner sah als im ägyptischen Präsidenten, der eher der Blockfreien-Bewegung zugeneigt war. Außerdem ist ungeklärt, welchen Stellenwert die israelische Atomanlage Dimona einnahm ...
... die Sowjets gingen davon aus, dass dort Atomwaffen produziert wurden.
Fest steht lediglich, dass Schimon Peres für den Fall eines Worst-Case-Szenarios das Mittel einer atomaren Abschreckung erwog. Dies lehnte Generalstabschef Jitzchak Rabin jedoch ab.
Welche Rolle spielte seinerzeit eigentlich Deutschland?
Die damalige Bundesrepublik war in ihrer Funktion als Waffenlieferant involviert. Westdeutschland war in den 1960er Jahren maßgeblich am Aufbau des israelischen Panzerkorps beteiligt. Aus seinen reichhaltigen Beständen lieferte es neben Schnellbooten, Haubitzen, Hubschraubern und Flakgeschützen vor allem die von Israel damals heißbegehrten amerikanischen Panzer vom Typ M48. Diese waren in großer Stückzahl vorhanden und den sowjetischen Panzern überlegen, die von Ägypten benutzt wurden.
Handelte es sich beim Sechstagekrieg letztendlich um einen Verteidigungs- oder um einen Angriffskrieg?
Zunächst einmal war es eher ein israelischer Präventivkrieg, der von Nasser mit erstaunlicher Leichtfertigkeit provoziert wurde. Erst nach dem Waffenstillstand mit Jordanien und Ägypten wurde – mit der Erstürmung der Golan-Höhen – aus dem Sechstagekrieg schließlich ein regelrechter Angriffskrieg. Den Befehl dazu erteilte der israelische Kriegsminister Moshe Dayan, nachdem der Geheimdienst eine Nachricht des ägyptischen Präsidenten abgefangen hatte. In dieser gestand Nasser die ägyptische Niederlage ein und forderte den syrischen Präsidenten Nureddin Al-Atassi dazu auf, den Kampf einzustellen und somit dessen Armee zu retten. Jahre später bezeichnete Dayan seinen Befehl im Übrigen als Fehlentscheidung.
Mit der totalen Blockade von Gaza wurde die Enklave am Mittelmeer zum Hort des palästinensischen Widerstands unter islamistischen Vorzeichen
Mit der Eroberung des Gazastreifens, der Sinai-Halbinsel, des Westjordanlands, Ostjerusalems und der Golan-Höhen wurden die Karten neu gemischt. Welche Folgen hatte das für den arabisch-israelischen Konflikt?
Mit der totalen Blockade von Gaza wurde die Enklave am Mittelmeer zum Hort des palästinensischen Widerstands unter islamistischen Vorzeichen. Gleichzeitig wurde jede Möglichkeit genommen, einen arabischen, beziehungsweise jordanischen Korridor zum Mittelmeer zu schaffen. Der Sinai erwies sich für Israel als wertvolles Faustpfand im Rahmen der späteren Friedensverhandlungen mit Ägypten. Mit der Annexion Ostjerusalems und der Golan-Höhen sowie der systematischen Besiedelung des Westjordanlandes hat Israel unmissverständlich klargemacht, dass es auf diese Eroberungen nicht verzichten will. Dadurch ist der Konflikt zum Gordischen Knoten geworden.
Wie sah aus israelischer Sicht die Bilanz dieses Krieges aus?
Bereits am Vorabend des Krieges herrschte in Israel innenpolitisch eine depressive Stimmung. Aufgrund einer tiefen Wirtschaftskrise wanderten immer mehr aschkenasische Juden nach Amerika und Südafrika aus. Die wenigen Einwanderer waren zu dieser Zeit größtenteils sephardischer Herkunft. Nach dem Krieg verschoben die Araber aus dem besetzten Westjordanland das demographische Gewicht nun zusätzlich. Anders als in den Jahren 1947 und 1948 – als etwa 700.000 Palästinenser vertrieben wurden – hatte es im Sechstagekrieg keine derartigen Flüchtlingsströme gegeben. Es blieb daher eine Unsicherheit darüber, wie nun mit der großen Zahl an Palästinensern verfahren werden sollte.
Aus israelischer Sicht überwogen also die Nachteile?
Die bereits erwähnte Ausweitung des schmalen israelischen Kernlandes ist sicherheitspolitisch von großer Bedeutung. Eine positive Bilanz ist also höchstens aus militärstrategischer Sicht möglich. Ansonsten war mit der Eroberung Ostjerusalems der Zugang zur Klagemauer frei. Das hat die Moral der jüdischen Bevölkerung gestärkt.
Wie hat der Sechstagekrieg Israels Stellung in der Welt verändert?
Nach dem israelischen Sieg erwarteten die Vereinten Nationen zunächst zügige Friedensverhandlungen zur Beilegung des Nahostkonflikts. Man forderte einen Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten sowie – im Gegenzug – die Anerkennung des jüdischen Staates. Israel machte es allerdings zur Bedingung, sich erst nach direkten Friedensabkommen mit seinen arabischen Nachbarstaaten von den Waffenstillstandslinien zurückzuziehen. Viele Länder, einschließlich der UdSSR, lehnten dies ab. Auch die arabischen Staaten verweigerten zunächst jegliche Verhandlungen mit Israel. Das wurde mit einer noch umfassenderen Kontrolle der besetzten Gebiete beantwortet.
Welche direkten Folgen hatte der Sechstagekrieg für die beteiligten arabischen Staaten?
Jordanien hatte die palästinensische Westbank verloren, die es 1950 gegen den Willen der Arabischen Liga annektiert hatte. Das war mit großen wirtschaftlichen Verlusten verbunden. Ägypten hatte die höchste Zahl an Kriegstoten und Verwundeten zu beklagen. Die wichtigen Einnahmen aus dem Suezkanal waren bis auf weiteres versiegt. Allein Syrien kam glimpflich davon – von der Besetzung der Golan-Höhen mal abgesehen.
Und die Palästinenser?
Nasser hatte die Gründung der PLO bereits 1964 tatkräftig unterstützt. Aber schon einen Monat nach dem Ende des Sechstagekriegs organisierte Jassir Arafat Guerillaattacken gegen israelische Soldaten in der Westbank. Noch vor Jahresende verlegte er seine Kommandozentrale an das Ostufer des Jordans. Bis zur Vertreibung in den Libanon in Folge des »Schwarzen September« sollten noch drei Jahre vergehen.
Gerade Israel profitierte später vermutlich extrem stark von Amerikas Interesse am saudischen Öl
Wie hat der Sechstagekrieg das Verhältnis der Großmächte Sowjetunion und USA zu den arabischen Staaten verändert?
Die amerikanische Vermittlungsdiplomatie im Nahen Osten stand vor großen Herausforderungen. Die Prognose des US-Sicherheitsberaters Walt Rostows erfüllte sich nicht: Dieser hatte nach der »Zurechtstutzung« Nassers mit einer moderaten Politik unter einer neuen Führung gerechnet. Der arabische Nationalismus war zerschmettert – die vormals jubelnden Massen befanden sich in einer Schockstarre. Washington hatte bereits die aufsteigende Macht islamischer Außenpolitik wahrgenommen, wie sie vom neuen saudischen Monarchen Faisal ausging – und die galt es nicht nur im Jemen-Konflikt zu zügeln. Darüber gerieten die Machtturbulenzen in Syrien, Irak und Jordanien aus dem Blick. Es ist unklar, ob die USA den Baathismus den Sowjets überlassen wollte – quasi indem die Interessensphäre geteilt wurde, wie vormals von Briten und Franzosen. Saudisches Öl spielte jedenfalls im amerikanischen Kalkül noch keine größere Rolle.
Das änderte sich aber später.
Ja. Gerade Israel profitierte später vermutlich extrem stark vom großen Interesse Amerikas am saudischen Öl. Erst dieses Interesse zwang Washington Mitte des 20. Jahrhunderts zur Formulierung einer amerikanischen Nahostpolitik . Und genau diese Politik konnte Israel zu seinen Zwecken beeinflussen. Das ist keine Spekulation, dieses Kalkül ist in Archiven der amerikanischen Zionisten Organisation seiner Zeit dokumentiert.
Ist Israel nicht auch strategisch wichtig für den Westen?
Zur Zeit der »Kalten Kriege« war die militärische Stärke Israels für den Westen von großem Vorteil. Sie half dabei, eine Lücke zu schließen, die die NATO an ihrer Südostflanke im Mittelmeer hatte. Im Gegenzug hat auch Israel davon profitiert. Für Israel und den gesamten Nahen Osten könnte eine Abkehr des Westens aus energiepolitischen oder auch ideologischen Gründen fatale Folgen haben. Nur durch einen Schulterschluss der Konfliktparteien in der Region kann dies vermieden werden – selbst in einer russischen Umarmung.
Helmut Mejcher, Jahrgang, 1937, gehört zu den profiliertesten Nahost-Historikern Deutschlands. Von 1977 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2002 lehrte er als Professor für Neuere Geschichte des Nahen Ostens und Mittelmeerraumes an der Universität Hamburg. Zuletzt ist von Helmut Mejcher das Buch »Der Nahe Osten im Zweiten Weltkrieg« im Verlag Ferdinand Schöningh erschienen.