Die Bundeswehr und weitere westliche Armeen ziehen sich aus Afghanistan zurück, die Taliban gehen in die Offensive. Wie es nun in Afghanistan weitergeht.
Fünf Tage früher als ursprünglich geplant, am 29. Juni 2021, war es soweit: Die Bundeswehr beendete ihr bisher längstes Auslands-Engagement, nachdem etwa 160.000 deutsche Soldaten über fast 20 Jahre hinweg ihren Einsatz in Afghanistan geleistet hatten. War es das wert? Diese Frage bewegt in diesen Tagen viele in Deutschland. Die Afghaninnen und Afghanen stellen sich gänzlich andere Fragen.
Viele fühlen sich alleine gelassen, manche gar verraten von einem Staat, der es zwar schafft, einen 27 Tonnen schweren Gedenkstein und etwa 22.500 Liter unverbrauchter Alkoholika aus »Camp Marmal« zurück nach Deutschland zu bringen, sich aber bei der Bearbeitung von Visa-Anträgen ehemaliger afghanischer Übersetzer und externer Mitarbeiter der Bundeswehr Monate oder gar Jahre Zeit lässt.
Etwa 800 sogenannte Ortskräfte und 2.500 ihrer Familienangehörigen wurden im Laufe von fast 20 Jahren Einsatz nach Deutschland geholt. Doch etwa 350 weitere warten bis heute auf eine Ausreise in die Bundesrepublik. Fast alle von ihnen haben in der Vergangenheit Drohungen erhalten. Für die Taliban ist jede Kooperation mit und Arbeit für westliche Armeen ein Verrat am eigenen Land. Dementsprechend besteht für alle ehemaligen Mitarbeiter und deren Familien Gefahr für Leib und Leben.
Einer von ihnen ist Ahmad Seyar Hakimi. »Da ich in Mazar-i Sharif lebte und wegen der Drohungen nach Kabul umgezogen bin, sagte mir die deutsche Botschaft 2015, dass ich heute nicht mehr gefährdet sei«, berichtet der 34-Jährige, der als Übersetzer für das »German Police Project Team« (GPPT), im Gespräch mit zenith. »Als könnten mich die Taliban nicht genauso gut hier erledigen.«
Hakimi und viele weitere ehemalige Mitarbeiter ausländischer Armeen haben sich bereits 2014 im Verein »No One Left Behind« zusammengeschlossen, um bei den Botschaften der Länder Druck aufzubauen, für deren Streitkräfte sie gearbeitet haben. Hakimi bangt nicht nur um sein Leben, sondern auch um das seiner Frau und seiner kleinen Tochter.
Ein Konsulat in Kabul, in dem er einen neuen Antrag einreichen könnte, gibt es währenddessen schon lange nicht mehr. Am 31. Mai 2017 ereignete sich in der Nähe der Botschaft im Zentrum Kabuls ein so schwerer Anschlag, dass das Botschaftsgebäude nur noch abgerissen werden konnte.
Für die meisten konsularischen Dienstleistungen müssen Afghanen heute in die pakistanische Hauptstadt Islamabad reisen. Der deutsche Staat, der seine Bürger vehement aus Sicherheitsgründen zur sofortigen Ausreise aus Afghanistan auffordert, erachtet das Land gleichzeitig als sicher genug, um Afghanen dorthin abzuschieben. Eine moralische Dichotomie, die nicht nur Menschenrechtsgruppen stark kritisieren.
Wie ist es heute tatsächlich um die Errungenschaften und die Sicherheit in dem Land mit seinen fast 40 Millionen Einwohnern bestellt? Die statistikverliebten Deutschen zählen gerne Erfolge, die sich in Zahlen messen lassen: Tausende Schulen und hunderte Kilometer Straßen konnten dank Investitionen und gestiegener Sicherheit errichtet werden – insbesondere im Verantwortungsbereich der Bundeswehr im Norden.
Alleine in Masar-i Sharif wurden fast die komplette Universität und nahezu das ganze Straßennetz mit deutscher Hilfe gebaut beziehungsweise erneuert. In Herat, der größten Stadt im Westen, sind heute mehr als 56 Prozent der Studentenschaft weiblich. In den Städten hat jeder Afghane 4G-Empfang auf dem Telefon, während 2001, nach fünfjähriger Taliban-Herrschaft, gerade einmal das erste Internetcafé eröffnet hatte.
Besonders die massive Investition in die Bildung von Frauen hat sich ausgezahlt. Eine abendliche Nachrichtensendung ohne eine Frau, die durch die Sendung führt, ist kaum mehr wegzudenken. In Städten ist es heute selbstverständlich, dass Mädchen zur Schule gehen und der Anteil von Frauen in der Arbeitswelt ist jedes Jahr stetig gestiegen.
Das spiegelt sich besonders in Kabul auch im Stadtbild wider. In der Cafeteria auf dem Campus der Universität Herat etwa sitzen junge Frauen wie die 19-jährige Shakila Ahmadi mit männlichen Kommilitonen an einem Tisch, auch die Lehrveranstaltungen besuchen Frauen und Männer gemeinsam. »Alle Menschen in Afghanistan fürchten sich um ihre Zukunft«, erzählt die Chemie-Studentin im Gespräch mit zenith. »Ich hoffe, dass insbesondere Frauen auch in Zukunft Bildung genießen können, um das Land zu gestalten und an einer globalen Gesellschaft mitzuarbeiten.«
Frauen wie Shakila, die in Afghanistan nach 2001 die Schule besucht haben, werden sich heute nicht mehr das Recht auf Bildung für sich oder ihre Kinder nehmen lassen. Vor 2001 ließen sich Frauen noch leichter unterdrücken, heute müssen die Taliban bereits in ihren Gebieten Mädchen in Schulen akzeptieren, um die Bevölkerung nicht gegen sich aufzubringen.
Frauen haben gewiss von allen Gruppen am meisten profitiert in den letzten 20 Jahren, da sind sich viele Analysten und Besucher des Landes einig. Ebenso Konsens besteht in der Sorge bei vielen Beobachtern und Experten, was dem Land nach dem Abzug ausländischer Truppen bevorstehen könnte. Werden die afghanischen Streitkräfte das leisten können, wofür sie seit 2015 trainiert werden oder droht ein Zusammenbruch des Landes und ein Rückfall in die Taliban-Herrschaft?
Ein Ende Juni veröffentlichter Bericht der CIA hält »einen Zusammenbruch der Regierung in Kabul innerhalb von sechs Monaten nach Abzug der US-Kräfte für möglich« und zeichnet damit eher ein düsteres Bild der Lage. Alleine seit Anfang Mai sind laut einem UN-Bericht weitere 50 der 398 Bezirke Afghanistans an die Taliban gefallen. Insgesamt kontrolliert die Gruppe damit etwa 107 Distrikte, die Regierung nur etwa 90. Weitere 199 Distrikte sind umkämpft.
Konkret kann das bedeuten, dass sich entweder die Fronten dort schnell verschieben, oder – wie in den meisten Fällen – die Truppen der Regierung Orte und Straßen zwar tagsüber kontrollieren, die Taliban aber nachts dort herrschen. In einem Land wie Afghanistan, in dem über zwei Drittel der Bevölkerung noch auf dem Land lebt, haben die Taliban also heute bereits die Kontrolle über die Mehrheit der Bevölkerung.
Langfristig ist es wahrscheinlich, dass die chronisch klamme Armee, die den Sold vieler ihrer 180.000 Soldaten mit teilweise monatelanger Verspätung auszahlt, wohl nur die Städte halten können wird. Im Fall von Kunduz ist noch nicht einmal das sicher. Die Stadt ist umzingelt, bereits im September 2015 fiel sie überraschend für volle zwei Wochen an die Taliban. In Städten wie Herat gerät der Regierung heute schon zum Nachteil, dass der Flughafen der Stadt 20 Kilometer außerhalb liegt. Viele Taxis, die ihre Gäste in die Stadt bringen, rasen die Strecke deswegen in einem halsbrecherischen Tempo entlang.
Trotzdem haben 20 Jahre Militärhilfe Afghanistans Streikkräfte geprägt: Die Armee ist im Häuserkampf geschult, betreibt eine gut funktionierende Hubschrauberflotte mit etwa 200 Helikoptern und besitzt mehrere hundert minensichere Fahrzeuge amerikanischer Bauart, die in der vergangenen Dekade angeschafft wurden. Die afghanische Armee wird sich also zumindest für eine Weile zu helfen wissen, zumindest was den Erhalt der Macht in den Städten angeht. Die Frage ist nur, für wie lange.
Was bereits jetzt wieder zu beobachten ist: Viele Afghanen fangen wieder an, sich zu bewaffnen. So häuften sich in den vergangenen Wochen Demonstrationen von Bürgerinnen und Bürgern, etwa in der Provinz Parwan nördlich von Kabul, die sich so hilflos den Offensiven der Taliban ausgesetzt sahen und sich nun in bewaffneten Gruppen zusammenschließen.
Die schiitischen Hazara stehen seit Jahren im Fadenkreuz der Taliban sowie des afghanischen IS-Ablegers. Aus diesem Grund bilden sich besonders in ihren Siedlungsgebieten in Zentralafghanistan vermehrt Lokalmilizen. In der Provinz Daykundi etwa unterhält der Warlord Zulfiqar Omid eine Privatarmee. In der Provinz Wardak bei Bamyan bietet seit einigen Jahren Abdul Ghani Alipur, genannt »Kommandeur Shamshir«, den Taliban und seit neuestem auch der afghanischen Regierung die Stirn.
Während viele Hazara und auch Bamyans Provinzgouverneur, Sayed Anwar Rahmati, grundsätzlich das Recht der afghanischen Bürger auf Sicherheit durch Selbstbewaffnung unterstützen, sieht die Regierung in Kabul das anders. Seit dem Absturz eines Armee-Helikopters mit neun Toten am 18. März 2021 wirft Kabul Alipurs Miliz »Widerstandsfront« vor, nicht einfach seine Heimat gegen die Taliban zu verteidigen, sondern zu viel Macht anzuhäufen, um die Zentralregierung aus der Provinz zu verdrängen.
Mehrere hundert Mann stehen heute unter seinem Befehl, aber Alipour selbst kann sich seit Monaten nicht mehr öffentlich zeigen. Seit dem Hubschrauber-Absturz im März steht er auf der Liste gesuchter Terroristen der Regierung. »Die Hazara haben wie alle anderen auch ein Recht auf Sicherheit«, sagt sein Stellvertreter Hamidullah Asadi in einem Safe House im Distrikt Behsud bei einem Tee im Gespräch mit zenith. »Wenn uns die Regierung nicht hilft, müssen wir uns eben selbst helfen.«
Ähnlich wie in der zentralafghanischen Provinz Bamyan kann und wird es also in Afghanistan auch in Zukunft wohl Inseln von relativer Sicherheit und gesellschaftlicher Freiheit geben. Das Ziel, die afghanische Gesellschaft voranzubringen und vor allem Frauen Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen, wurde größtenteils erreicht. Afghanistan zu einem funktionierenden und vor allem für seine Bürger sichereren Staat zu machen, hingegen nicht. Dieses Problem wird sich nach dem vollständigen Abzug aller ausländischen Kräfte wohl verschärfen, ein baldiger Fall Kabuls an die Taliban bedeutet das jedoch nicht zwangsläufig.