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Debatte um Nationalfeiertag im Irak

Einigkeit und Recht und Freiheit

Feature
Debatte um Nationalfeiertag im Irak
Während der Protestbewegungen im Irak seit 2019 war auch das Portrait von Abdel Karim Al-Kassem (1914-1963) auf Plakaten zu sehen. dge

Putsche, Revolutionen und Bürgerkrieg – die Geschichte des Irak ist geprägt von Gewalt und der Suche nach einer nationalen Identität. Ein neu angesetzter Unabhängigkeitstag soll dabei helfen.

Unabhängigkeitstage im Irak gibt es ungefähr so viele, wie es Putsche und Revolutionen im Land gab. Denn jeder Machtwechsel im Land brachte einen neuen Feiertag mit sich. Doch seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 blieben Feierlichkeiten im Land zur Unabhängigkeit aus. Doch das soll sich nun ändern. Ende September sprach sich die irakische Regierung für die Festsetzung eines neuen Nationalfeiertages aus. Nach mehreren Anläufen hat sich die irakische Regierung am 1. September 2020 dazu durchgerungen den 3. Oktober als Unabhängigkeitstag zu begehen, an dem es 1932 die Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte.

 

Der irakische Historiker Abbas Kadhim stand gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlern als Berater der irakischen Regierung zu Seite, als es um die Festsetzung des neuen Feiertages ging. Die Schwierigkeiten bei der Einigung sieht der Historiker in der blutigen Vergangenheit des Irak begründet: »Immer hat ein Iraker einen anderen Iraker aus Eigeninteresse bekämpft, geputscht oder getötet. Das ist keine Grundlage für die Schaffung einer nationalen Identität«, sagt der Historiker gegenüber zenith. Deswegen sei es nur schlüssig, dass sich die Mehrheit der Regierung schließlich auf den 3. Oktober einigte.

 

Nachdem das osmanische Reich am 30. Oktober 1918 kapitulierte hatte, war Großbritannien am 25. April 1920 das Mandat über den Irak vom Völkerbund übertragen worden. Vor 100 Jahren, am 27. August 1921, wurde der Haschemit Faisal Ibn Hussein zum König gekrönt. Von diesem Zeitpunkt an zelebrierten die Iraker ihre Unabhängigkeit an eben diesem Tag.

 

Mit der Aufnahme Iraks in den Völkerbund am 3. Oktober 1932 endete formal die britische Herrschaft

 

Doch bereits in den ersten Jahren der Monarchie häuften sich die Proteste in weiten Teilen der Bevölkerung, die in König Faisal I. und seiner Gefolgschaft lediglich Marionetten der britischen Mandatsregierung sahen. Als die Unruhen zunahmen und der Druck der Straße wuchs, sah sich der irakische König gezwungen, die Briten anzurufen, den Irak in den Völkerbund aufzunehmen, was das Land in die Unabhängigkeit führen sollte.

 

Mit der Aufnahme Iraks in den Völkerbund am 3. Oktober 1932 endete formal die britische Herrschaft und dem Irak wurde die Unabhängigkeit unter der Regierung des haschemitischen Königshauses übergeben. »Mit diesem Tag wurde der Irak das erste Mal international als eigenständiger Staat anerkannt und wahrgenommen«, sagt Historiker Kadhim. Faisal I. trat am 6. Oktober vor das Mikrofon, um seine Ansprache zur Unabhängigkeit des Irak in die Welt zu übertragen.

 

Um ihn herum saßen im Halbkreis Vertreter aus Großbritannien und folgten seinen Worten im Garten des Palastes. Über den Köpfen der Männer wehte die irakische Flagge, die sich, ähnlich wie die Nationalfeiertage im Irak, im Zuge der Landesgeschichte noch an die jeweiligen politischen Ereignisse im Land anpassen musste.

 

Diese ersten Jahre der Unabhängigkeit und Monarchie waren die vorsichtigen Schritte des Irak, in Richtung politischer Souveränität, wirtschaftlicher Entwicklung und eine Art kollektive Identität zu entwickeln. Doch wo die Menschen einerseits die neue Freiheit feierten, machte sich bereits Unmut innerhalb der Gesellschaft breit und das innerpolitische Kräfteverhältnis geriet in ein Ungleichgewicht, als sich ein Teil der Iraker für die Monarchie und der andere Teil dagegen aussprach.

 

Der Sturz der Monarchie und die damit verbunden sozialstaatlichen Reformen symbolisieren bis heute noch für viele Iraker einen progressiveren und unabhängigen Irak

 

Auch wenn mit dem Beitritt zum Völkerbund die internationale Anerkennung des Irak als souveräner Staat verbunden war, wurde die Einführung und Beibehaltung der Monarchie nicht als Gewinn von Freiheit wahrgenommen. Denn für viele Iraker schienen der Monarch und seine Gefolgsleute trotz Unabhängigkeit weiter enge wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Großbritannien zu pflegen, was zu mehreren anti-britischen Revolten führte.

 

Und schon bald standen keine jubelnden Menschen mehr vor dem Balkon des Königspalastes, sondern ein wütender Mob, der der Herrschaft der Königsfamilie ein blutiges Ende setzen sollte. Am 14. Juli 1958 marschierten Abdel Karim Al-Kassem und Abd al-Salam Arif in Bagdad ein, um die Monarchie zu stürzen. Nachdem die Königsfamilie hingerichtet wurde, riefen die beiden Revolutionsführer die irakische Republik aus und übernahmen die Führung im Land. Bereits im Dezember 1956, also zwei Jahre vor der sogenannten Julirevolution hatten Kassem und Arif mit der Geheimorganisation »Freie Offiziere« den Putsch auf das Königshaus geplant.

 

Nachdem Faisal II. und nahezu alle Mitglieder der Königsfamilie ermordet wurden, stellten die Putschisten die Leichen öffentlich an Balkonen gehangen zur Schau. Der Staatsstreich, der als »Julirevolution« in die Geschichtsbücher einging, markierte nach 20 Jahren Regentschaft das Ende der irakischen Monarchie und führte unter dem späteren Premierminister Abd al-Karim Al-Kassem am 14. Juli 1958 zur Ausrufung der Republik. Ab diesem Zeitpunkt wurde der irakische Nationalfeiertag jährlich an diesem Tag begangen.

 

Der Sturz der Monarchie und die damit verbunden sozialstaatlichen Reformen symbolisieren bis heute für viele Iraker einen progressiveren und unabhängigen Irak. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass während der Protestbewegungen im Irak seit 2019 auch Kassems Portrait auf Plakaten zu sehen war und von den Demonstrierenden in die Luft gestreckt wurde. Für viele Iraker verkörpert Kassem bis heute eine national-patriotische Ausrichtung und er wird dementsprechend von Teilen der Bevölkerung verehrt.

 

Deshalb wurde im Irak seit dem Sturz des Baath-Regimes kein Nationalfeiertag mehr zelebriert

 

Nicht zuletzt, weil unter seiner Regierung auch eine neue irakische Flagge im Land eingeführt wurde: Eine schwarz-weiß-grüne vertikale Trikolore mit einem gelben Kreis in der Mitte, der von einem roten achtzackigen Stern umgeben ist. Schwarz, Weiß, Grün und Rot stehen für den Panarabismus. Die gelbe kurdische Sonne in der Mitte steht für die irakischen Kurden und der rote Stern von Ischtar erinnert an das Erbe des antiken Mesopotamien. Diese Variante der irakischen Flagge ist bis heute die Einzige, in der auch die Kurden repräsentiert sind.

 

Der Umsturz der Monarchie und die progressive Politik mystifizieren und glorifizieren den Staatsmann, dem in Bagdad ein eigenes Museum gewidmet ist. So liegt nur wenige Gehminuten zwischen Tigris und Tahrir-Platz entfernt das Abdel-Karim-Al-Kassem-Museum, das dessen persönliche Gegenstände ausstellt und von seinen Errungenschaften für den Irak erzählt. Auch wenn der 14. Juli mittlerweile nicht mehr als Unabhängigkeitstag gefeiert wird, wird er weiter als »Tag der Republik« begangen.

 

Dabei hatte die Regierung Kassem nicht lange Bestand. Nur fünf Jahre später wurde der Premier von seinem ehemaligen Mit-Putschisten Abd al-Salam Arif sowie Anhängern der Baath-Partei am 8. Februar 1963 gestürzt und ermordet. An diesem Tag wurde in den darauffolgenden fünf Jahren die Unabhängigkeit im Irak gefeiert. Nach innerpolitischen Unruhen und einem Putsch gegen Arif etablierte sich die Baath-Partei letztlich am 17. Juli 1968 vollständig als neues Regime im Irak und führte auch einen neuen Nationalfeiertag ein.

 

Saddam Hussein festigte über Jahrzehnte sein Regime, das Land versank in inner- sowie außerpolitischen Auseinandersetzungen und Kriegen. Als das Saddam-Regime am 9. April 2003 mittels US-amerikanischer Militärintervention zu Fall gebracht wurde, erstarkten Stimmen, die sich dafür aussprachen, diesen Tag als neuen Nationalfeiertag im Land zu begehen. Dass man sich gegen die Benennung dieses Tages als Unabhängigkeitstag entschieden hat, begründet der Historiker Abbas Kadhim damit, dass er für viele Iraker auch dien Beginn der US-Besatzung im Irak markiert. Auch deshalb wurde im Irak seit dem Sturz des Baath-Regimes kein Nationalfeiertag mehr zelebriert.

 

»Alle anderen Tage wären radioaktiv für den Irak«

 

Abbas Kadhim empfindet den 3. Oktober als das »neutralste Datum der irakischen Regierungsgeschichte«. Dieser Tag sei nicht mit Herkunft, Religions- oder Stammeszugehörigkeit verbunden. Er stelle keine Gruppe in den Vordergrund und schließe auch keine aus. Außerdem sei er auch nicht unter der Monarchie begangen worden. »Außerdem«, so führt der Historiker weiter aus, »fehlt es im Irak an Alternativen«.

 

Aus Sicht der irakischen Rechtssoziologin Ruba Ali Al-Hassani könnte die Wahl des 3. Oktobers auch damit zusammenhängen, dass der Betritt des Völkerbundes für eine progressive Politik steht, die den Irak als internationalen Akteur markierte. Das stünde im Einklang mit Premier Kadhimis politischen Streben, »ein wichtiger und strategischer regionaler Akteur zu werden, der Beziehungen zu Saudi-Arabien und Iran aufbauen möchte, sowie die Verhältnisse zu den Golfstaaten und dem Assad-Regime fördern und den Handel mit Libanon, Jordanien und Ägypten ausbauen möchte.« Für Kadhim symbolisiert der Anschluss an den Völkerbund auch den einzigen unblutigen Regierungswechsel und stelle damit weder Putschisten, Stammesführer noch einzelne Politiker in ein positives Licht: »Alle anderen Tage wären radioaktiv für den Irak.«

 

Kritik kommt allerdings von Teilen der kurdischen Bevölkerungsgruppe, insbesondere von Anhängern der »Patriotischen Union Kurdistan« (PUK). Sie tun sich laut Kadhim schwer, den 3. Oktober als neuen Nationalfeiertag zu akzeptieren, da das Datum mit dem Todestag des ehemaligen irakischen Präsidenten und PUK-Gründungsvorsitzenden Dschalal Talabani zusammenfällt, der am 3. Oktober 2017 in Berlin verstarb. Kadhim sieht in diesem Einwand lediglich eine Blockade seitens der Politiker, die sich, wie im Irak oft üblich, auf ihre eigenen Interessen konzentrieren würden. Seiner Meinung nach würde der 3. Oktober als Nationalfeiertag auch Talabani ehren.

 

Doch nicht nur Teile der Kurden halten sich bedeckt, was die Festtagsstimmung im Land betrifft. Spricht man Menschen im Irak auf die Feiertagsmodalitäten oder die Wahrnehmung des Nationalfeiertages an, stößt man vielerorts auf Ernüchterung. Große Festlichkeiten im Land blieben in diesem Jahr aus, stattdessen wurde landesweit zu Demonstrationen gegen die Regierung in Bagdad aufgerufen.

 

Splitterparteien, Demonstrationen und Menschen, die sich bewusst dagegen entscheiden, sich an den Wahlen zu beteiligen

 

»Die Ausrufung des neuen Unabhängigkeitstages durch den Premierminister geschah zu einem fragwürdigen Zeitpunkt, nur wenige Tage vor der Wahl«, meint Ruba Ali Al-Hassani. Sie ist der Auffassung, dass dieser Tag keinen Einfluss auf die Zivilgesellschaft haben werde und sie auch an diesem Tag keinen Grund zum Feiern hätten. Die Bevölkerung sei ihrer Meinung nach vielmehr besorgt darüber gewesen, welche Ergebnisse die Wahlen zeitigen würden, etwa im Umgang mit der gestiegenen Präsenz der Milizen im Land.

 

»Der Irak ist ein junges Land. Gerade einmal 16 Jahre sind seit dem Sturz Saddam Husseins vergangen. Es braucht Zeit, um die Vergangenheit zu bewältigen und eine nationale Identität aufzubauen«, beschreibt Historiker Kadhim die aktuelle Lage im Irak. Dieser Herausforderung war schon Faisal I. begegnet. So hielt der Haschemiten-Monarch in einem Memorandum fest, dass es »[…] im Irak kein irakisches Volk gibt. Es gibt nur verschiedene Gruppen ohne Patriotismus. Sie sind voll von abergläubischen und fehlerhaften religiösen Traditionen. Es gibt keine Grundlagen für Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Sie lassen sich leicht von Gerüchten beeinflussen und neigen zum Chaos, da sie immer bereit sind, sich gegen jede Regierung aufzulehnen. Es ist unsere Aufgabe, aus dieser Masse ein Volk zu formen, das wir dann leiten, ausbilden und erziehen werden.«

 

Noch immer scheint die irakische Politik die vorherrschenden Familien-, Clan-, und Stammesbeziehungen widerzuspiegeln. Laut Hassani blicken viele Iraker fälschlicherweise nostalgisch auf die Zeit des irakischen Königsreiches zurück. »Sie denken, dass es eine Zeit der Stabilität war. Dabei wurde das Land von einem König regiert, der nicht aus dem Irak stammte und der Bevölkerung von den Briten vorgesetzt wurde.« Die Soziologin glaubt nicht, dass das Gedenken an die Monarchie die irakische Bevölkerung eint. Denn sie sei auch eine Zeit des Völkermordes an Assyrern und anderen Minderheiten im Land gewesen, von denen viele bis heute noch mit einem »vererbten Trauma« leben und sich von der irakischen Regierung vernachlässigt fühlen.

 

Splitterparteien, Demonstrationen und Menschen, die sich bewusst dagegen entscheiden, sich an den Wahlen zu beteiligen: aus Unmut gegenüber der Politik und aus Hoffnungslosigkeit. Vielleicht ist es gerade deshalb wichtig, dass es im Irak einen neuen Unabhängigkeitstag gibt. »Wo die Reise im Irak hingeht, bleibt fraglich. In den letzten Jahren wurde das Land von einem hybriden Regime regiert, das zwar demokratische Elemente aufzeigt aber doch eine starke autoritäre Führung aufweist«, konstatiert Hassani.

Von: 
Sina Schweikle

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