»Türken-Terror« schrieb die Bild, Politiker forderten Ausweisung: Der wilde Streik in den Kölner Ford-Werken stieß auf Ablehnung. Für die türkeistämmigen Arbeiter war er ein Moment der Emanzipation. Zwei Zeitzeugen erinnern sich.
Es ist eine rhetorische Frage, die die Proteste entzündet: »Kollegen, wie lange sollen wir uns das noch gefallen lassen?« Die Antwort ist eine fünftägige Arbeitsniederlegung, die 1973 als der »Wilde Streik« in den Kölner Ford-Werken in die bundesdeutsche Geschichte eingehen wird. Zehntausend Arbeiter, aus Deutschland, Italien, Jugoslawien, vor allem aber aus der Türkei, treffen an diesem Freitag, dem 24. August, eine folgenschwere Entscheidung.
Rund 24.000 Lohnarbeiter sind 1973 im Ford- Werk in Köln-Niehl angestellt, ein Drittel davon sind »Gastarbeiter«, 12.000 allein aus der Türkei. Sie arbeiten hart, verdienen weniger als ihre deutschen Kollegen. Als Arbeiter an der Bandstraße bekommen die meisten Türken einen Stundenlohn zwischen 7,15 und 8,24 Mark, die Deutschen als Facharbeiter dagegen zwischen 8,98 und 10,59 Mark. Viele der türkischen Angestellten spüren dieses Gefälle nicht nur im Portemonnaie, sondern auch in der Art und Weise, wie die deutschen Vorgesetzten mit ihnen umgehen.
Im Jahr 1973 ging eine Welle von »wilden«, gewerkschaftsunabhängigen Streiks durch ganz Deutschland: In diesem Jahr legten in rund 300 Betrieben mindestens 275.000 Angestellte die Arbeit nieder. »Das war natürlich jedem bei Ford bekannt. Streikstimmung lag in der Luft«, erinnert sich Peter Bach, der im August 1973 dabei war.
Vor allem der erfolgreiche Arbeitskampf migrantischer Frauen beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss, bei dem die Arbeiterinnen eine Lohnerhöhung um 65 Pfennig und die Abschaffung des diskriminatorischen Lohngruppensystems erreichten, war in aller Munde.
Als Hunderten türkeistämmigen Arbeitern bei Ford in Köln-Niehl gekündigt wird, weil sie nicht pünktlich aus dem Urlaub am Fließband erschienen waren, kippt die Stimmung im Werk – schließlich war die Firmenleitung sonst kulant, wenn sich die Rückreise – meist per Auto – von der Türkei nach Deutschland verzögerte.
»Aber wegen der sich anbahnenden Ölkrise hat das Management das Zuspätkommen als Vorwand genutzt, um Kollegen entlassen zu können«, erzählt Peter Bach. Die verbliebenen Arbeiter sorgen sich nicht nur um das Schicksal ihrer Kollegen, zudem muss die nun dezimierte Belegschaft dasselbe Arbeitspensum bewältigen.
Der Streik beginnt spontan. Ein Protestmarsch zieht über das Gelände, von Halle zu Halle, und wächst mit jedem Meter. »Das war ein infernalischer Lärm, als die Demonstration hereinzog«, erinnert sich Peter Bach: »Die Stimmung war mehr als euphorisch, ein befreiender Jubel.«
Große Teile des Ford-Werks werden besetzt. Die Streikenden bleiben auch über Nacht, schlafen in Regalen oder halten Wache auf den Fabrikdächern. Sie wählen eine Streikleitung, die Forderungen formuliert: Wiedereinstellung der entlassenen Kollegen, Verlängerung der Urlaubszeit auf sechs Wochen, Erhöhung des Stundenlohns um eine D-Mark, Herabsetzung der Bandgeschwindigkeit und ein höheres Gehalt für Lehrlinge. Außerdem verlangen sie, dass Streikschichten bezahlt und nicht strafrechtlich verfolgt werden.
Gerade die migrantischen Arbeiter gehen ein hohes Risiko ein: Durch ihre Beteiligung am Streik setzen sie nicht nur ihre Arbeitsplätze aufs Spiel, sondern auch ihre Aufenthaltsgenehmigung. »Dieser Mut kam auf, weil die Schmerzgrenze erreicht war«, erzählt Mitat Özdemir, der damals Arbeiter in einem Wohnheim betreut: »Wenn einer entlassen wird, dann gehen wir auch. Wenn sie einen abschieben, dann sollen sie uns alle abschieben. So war die Stimmung.«
Von der IG Metall und dem Betriebsrat fühlen sich die migrantischen Arbeiter nicht vertreten. Die Gewerkschaften unterstützten den »wilden Streik« nicht und veranstalten stattdessen Gegendemonstrationen. Die Arbeiterschaft spaltet sich mehr und mehr, unter den Streikenden ist der Anteil der Deutschen klein: »Betriebsrat und Gewerkschaft machten es zu ihrer Hauptstrategie, uns Streikende als dumme Türken und linke Chaoten darzustellen«, erinnert sich Bach.
Der Boulevard schürt Angst, der Kölner Express etwa titelt: »Übernehmen die Gastarbeiter die Macht?«, die BILD spricht von »Türken-Terror«. Der Streik wird zum Wendepunkt im Selbstverständnis vieler Arbeiter, meint Mitat Özdemir: »Bis dahin habe ich mich gefühlt, als müsste ich immer machen, was mir gesagt wird. Ich war hier zum Arbeiten und zum Profitmachen. Ich durfte meinen Mund nicht aufmachen, keinen Widerstand leisten«, erinnert sich der Rentner. »Der Streik hat mir gezeigt: In Deutschland muss man seine Rechte einfordern und verteidigen, wenn es darauf ankommt.« Fünf Tage hält der Streik der Ford-Arbeiter an. Dann beenden Polizei, Management und Betriebsrat ihn gewaltsam.
Die Umstände der gewaltsamen Zerschlagung sind bis heute im Dunkeln – wie viele Zivilpolizisten unter den Streikgegnern waren, wie sehr die Gewerkschaft ihre Finger im Spiel hatte, weiß keiner. Viele der Streikenden werden entlassen, andere wollen nicht mehr zurück zu Ford.
Die Anführer nimmt die Polizei fest, es folgen Abschiebungen. Keine der Forderungen wird umgesetzt. »Der Respekt uns gegenüber ist gestiegen«, ist Mitat Özdemir dennoch überzeugt. »Der Sommer 1973 hat mir Kraft geschenkt, weiter in diesem Land leben zu können.«
In Köln ist die Erinnerung an den Streik heute noch lebendig. Ausstellungen, Konzerte und Veranstaltungen wie das Theaterstück »Fordlandia« (2007) am Schauspiel Köln gedenken des Ausstands. Auf solchen Veranstaltungen würden auch junge Menschen auf ihn zukommen und ihm und seinen Mitstreitern von damals Respekt zollen.
»Für die sind wir Helden«, erzählt Bach und muss dabei ein wenig schmunzeln. Denn, das findet auch Mitat Özdemir: »Das war nicht irgendein Streik. Die Auswirkungen waren in ganz Deutschland bemerkbar.«
Überall in der Bundesrepublik mussten sich Betriebe nach der Selbstbehauptung, die der Ford-Streik bedeutete, Gedanken darüber machen, wie sie ihre Arbeiter behandeln. Oder, wie Peter Bach es formuliert: »Die Zeit der braven Gastarbeiter war vorbei!«
Mitat Özdemir (73) kam 1966 aus der Türkei nach Köln und arbeitete in den Ford-Werken. 1972 wechselte er zum Jugendsozialwerk und wurde Betreuer in Kölner Arbeiterwohnheimen. Heute engagiert sich der Rentner bei der Initiative »Keupstraße ist überall«, die Opfer des NSU-Anschlags in Köln unterstützt. Peter Bach (73) arbeitete 1973 im Motorenwerk der Kölner Ford-Werke. Er beteiligte sich am Streik und blieb auch nachts im Werk. Nachdem er während einer Betriebsversammlung den Streik verteidigt hatte, verlor er seine Stelle bei Ford. Heute ist er Rentner und lebt in Köln.