Mauerbau, Kalter Krieg – 1961 war ein Jahr der weltpolitischen Konfrontation. Deutschland und die Türkei schlossen ein Abkommen, das beide Länder für immer veränderte.
Settar Iksel wurde in den Jahren vor 1961 mehrfach bei Konrad Adenauer vorstellig. Die Bitten des türkischen Botschafters an den deutschen Bundeskanzler wurden immer dringlicher. Die Türkei benötige Finanzhilfe aus dem Westen – die Bundesregierung möge doch rasch einen Kredit in Millionenhöhe bewilligen.
Die Verhandlungen zogen sich hin – nachdem Außenminister Heinrich von Brentano im Februar 1960 betont hatte, dass der Türkei »aus politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gründen« sofort geholfen werden müsse, stimmte das Kabinett letztlich dem Kredit in Höhe von 60 Millionen D-Mark zu. Über eine andere Bitte der türkischen Regierung wurde in den Bonner Kabinettssitzungen vor gut 60 Jahren gar nicht beraten, sie wurde offenkundig nicht als allzu bedeutsam wahrgenommen: einen regulierten Zuzug türkischer Arbeitskräfte in die Bundesrepublik zu ermöglichen.
Letztlich entschied sich die Bonner Regierung auch hier dafür, auf die Türkei zuzugehen. Der Vollzug geschah auf denkbar unspektakuläre Weise. 2011, als das Anwerbeabkommen anlässlich des 50. Jahrestags erstmals ausführlich gewürdigt wurde, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Festveranstaltung, sie habe sich die Vereinbarung gerade gemeinsam mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan angesehen. Ein Dokument, »das so unscheinbar ist, aber vieles in unserem Land verändert hat. Es war ein Verbalnotenwechsel zwischen dem Auswärtigen Amt und der türkischen Botschaft, der 1961 die Vermittlung türkischer Arbeitnehmer in die Bundesrepublik festschrieb.«
Für den CDU-Politiker Brentano war die Unterzeichnung am 30. Oktober 1961 eine der letzten Amtshandlungen als Außenminister. Am selben Tag erklärte er seinen Rücktritt. Die Union hatte bei den Bundestagswahlen gut einen Monat zuvor die absolute Mehrheit verloren, Brentano wollte sich mit dem zunehmenden Einfluss des künftigen Koalitionspartners FDP im Außenministerium nicht arrangieren.
Dass das deutsch-türkische Abkommen damals keine große Aufmerksamkeit erhielt, lag auch daran, dass es im Schatten der weltpolitischen Ereignisse stand: Der Kalte Krieg war 1961 auf einem Höhepunkt angelangt. Im Januar wurde im Kongo der ehemalige Premierminister Patrice Lumumba ermordet, UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld starb einige Monate später bei einem bis heute nicht aufgeklärten Flugzeugabsturz, als er im Kongo-Konflikt vermitteln wollte. Im April landeten von der CIA ausgerüstete und angeleitete kubanische Exilanten in der Schweinebucht mit dem Ziel, Fidel Castro zu stürzen.
Connie Francis besang den »schönen fremden Mann«
Die Operation scheiterte und brockte dem frisch ins Amt gekommenen US-Präsidenten John F. Kennedy eine schwere außenpolitische Niederlage ein. Wenige Tage vorher hatten die Sowjets die Ära des bemannten Raumflugs eingeläutet. Am 12. April 1961 verkündete Nachrichtensprecher Juri Lewitan: »Hier spricht Radio Moskau. Das erste Raumschiff der Welt, ›Wostok‹, ist heute von der Sowjetunion aus mit einem Menschen an Bord in einen Orbit über der Erde gestartet worden. Der Kosmonautenpilot ist ein Bürger der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Fliegermajor Juri Alexejewitsch Gagarin.«
Im Zentrum der weltpolitischen Konfrontation stand aber Berlin. Seit August wurde die Mauer hochgezogen und Ende Oktober standen sich am Checkpoint Charlie US-amerikanische und sowjetische Panzer gefechtsbereit direkt gegenüber. 50 Jahre später würdigte Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung diese Tage mit der ihm eigenen Mischung aus Pathos und Ironie als »Neubeginn der deutschen Geschichte« – dabei meinte er aber nicht die für alle sichtbare Systemkonkurrenz in Berlin, sondern die stille Diplomatie in Bonn: »Das Anwerbeabkommen mit der Türkei war eine der Folgen des Mauerbaus. Walter Ulbricht wurde so zum Vater eines neuen Deutschland, indirekt, ungewollt und ohne dass es jemand hierzulande oder in der Türkei geahnt hätte.«
Der Ost-West-Konflikt war tatsächlich in doppelter Hinsicht ein Geburtshelfer des Anwerbeabkommens. Die Bundesregierung und nicht zuletzt die Wirtschaft hatten sich schon vor dem Mauerbau für die Ausweitung der Ausländerbeschäftigung nach dem Vorbild des Anwerbeabkommens mit Italien von 1955 ausgesprochen: Wenn keine Flüchtlinge aus der DDR mehr in den Westen kämen, würden im Wirtschaftswunderland Arbeitskräfte fehlen. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht 1956 hatte den Bedarf noch verstärkt.
Da über eine stärkere Einbeziehung von Frauen in den Arbeitsmarkt damals nur in Ansätzen nachgedacht wurde, blieben als Alternative die sogenannten Gastarbeiter aus Italien, Griechenland, Spanien und dann der Türkei. Entsprechende Abkommen mit Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien sollten in den kommenden Jahren folgen.
Das Interesse der Regierung in Bonn, die Türkei aus »politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gründen« zu unterstützen, stand ebenfalls im Zeichen des Kalten Krieges. Die Türkei war ein wichtiger Partner in der Nato in der Auseinandersetzung mit dem Warschauer Pakt. Da galt es, gute Beziehungen zu pflegen, unabhängig davon, ob in Ankara der frei gewählte Präsident Adnan Menderes regierte oder das Militär nach dem Putsch 1960.
Das deutsch-türkische Abkommen stand im Schatten der weltpolitischen Ereignisse
Bei der Pflege der Kontakte konnte die Bundesrepublik auch an ältere Verbindungen anknüpfen. In der 1953 in Bonn gegründeten Deutsch-Türkischen Gesellschaft (DTG) saßen Minister und Staatssekretäre gemeinsam mit Personen, die während der Nazizeit im türkischen Exil gelebt und gearbeitet hatten, wie der Ökonom und SPD-Politiker Fritz Baade. Bundeskanzler Adenauer wurde 1954 anlässlich seines ersten Besuchs in Ankara die Ehrenmitgliedschaft in der DTG angetragen.
Bei seinem Türkeibesuch sprach Adenauer nicht nur von einer »jahrhundertealten Freundschaft«, sondern überreichte auch sieben Studenten ein Stipendium zum Aufenthalt in der BRD. Bis 1961 stieg die Zahl der türkischen Studenten an westdeutschen Universitäten auf rund 2.000. Ähnlich hoch war die Zahl türkischer Arbeitnehmer, die durch private Initiativen in Westdeutschland Stellen gefunden hatten.
Durch das Anwerbeabkommen sollten diese Zahlen nach 1961 erst langsam, später massiv steigen, obwohl die deutsche Seite zunächst noch Einschränkungen durchsetzte. So war die Aufenthaltsdauer für die türkischen Arbeitnehmer anfänglich auf zwei Jahre begrenzt, der Familiennachzug nicht erlaubt. 1964 wurden beide Einschränkungen schließlich aufgehoben, vor allem auf Druck der Wirtschaft, die nichts davon hielt, einmal angelernte Arbeiter nach zwei Jahren wieder zu verlieren.
Grundsätzlich aber dienten die ausländischen Beschäftigten in den 1960er Jahren als »Flexibilitätsreserve«, wie es der Historiker Ulrich Herbert ausdrückt. Politik und Wirtschaft in der BRD setzten darauf, dass, sollte sich die Konjunktur abschwächen und die Arbeitslosigkeit steigen, die ausländischen Arbeiter wieder in ihre Heimatländer zurückgehen würden. Der Schweizer Journalist Ernst Schnydrig, angestellt beim Deutschen Caritasverband, bemängelte schon 1961 den verkürzten Blick auf die Bedürfnisse der Wirtschaft: »Wir wollten Arbeitskräfte importieren – und es kamen Menschen.«
Adenauer wurde 1954 anlässlich seines ersten Besuchs in Ankara die Ehrenmitgliedschaft in der Deutsch-Türkischen Gesellschaft angetragen
Es sollte noch mehr als 40 Jahre dauern, bis diese Beobachtung in der deutschen Politik konstruktiv aufgegriffen wurde – 2005 wurde in Nordrhein-Westfalen deutschlandweit der erste Minister für Integration ernannt, der heutige CDU-Vorsitzende Armin Laschet, geboren 1961.
Im November dieses Jahres kam Ali Başar mit dem zweiten Zug aus Istanbul am Münchner Hauptbahnhof an. Er hat 50 Jahre später, wie andere Zuwanderinnen und Zuwanderer der ersten Generation, den Journalistinnen Jeannette Goddar und Dorte Huneke für den Sammelband »Auf Zeit. Für immer: Zuwanderer aus der Türkei erinnern sich« seine Lebensgeschichte erzählt.
An seine Ankunft erinnerte er sich noch gut: Am Gleis elf wurde ihm und hundert anderen jungen Männern aus der Türkei per Megafon ein »Willkommen« zugerufen, bevor sie in einen alten Luftschutzbunker geführt wurden: »In einem großen Raum, einer Art Salon unterhalb des Bahnhofs, haben sie uns versammelt. Sie gaben uns Obst, frisches Brot, Käse – und Würstchen. Wir dachten natürlich, das sei Schweinefleisch, und wollten es nicht essen. Die Männer schauten uns an und machten ›Muuuh!‹. Wir verstanden und haben die Würstchen beruhigt gegessen.«
Einen Hauch von Willkommenskultur versprühten 1961 auch die Hitparaden in der BRD. Nana Mouskouri brachte »Weiße Rosen aus Athen« mit und Connie Francis besang den »Schönen fremden Mann«. Dass musikalisch bald andere Töne »in« sein würden, konnten wohl nur hartgesottene Club-Gänger in Hamburg erahnen, wo die Beatles seit einem Jahr auftraten.
Gesellschaftlich war 1961 ein Jahr einiger Neuanfänge – im Kleinen wie im Großen. Der Spiegel führte seine Bestsellerliste ein – Herausgeber Rudolf Augstein versprach den Lesern in einer ersten Bilanz »was Ihnen kein Sechs-Tage-Rennen und nicht einmal das Deutsche Fernsehen bietet: den Wettlauf von drei Spitzenkräften des schreibenden Vereins ›Gruppe 47‹, Böll, Grass und Johnson, um den ersten Platz, wobei freilich der Jugoslawe Ivo Andric, von den Wesiren des Königs Nobel zu einem dynamitenen Zwischenspurt auf die Bahn geschickt, nicht außer acht gelassen werden sollte«.
Grundsätzlich dienten die ausländischen Beschäftigten in den 1960er Jahren als »Flexibilitätsreserve«
In Bonn bot im Herbst die Regierungsbildung zwei Neuerungen. Nicht nur musste Kanzler Adenauer sich die Macht mit einem Koalitionspartner teilen, er wurde auch dazu gedrängt, erstmals eine Frau ins Kabinett aufzunehmen. Der Ernennung von Elisabeth Schwarzhaupt zur Gesundheitsministerin vorausgegangen war eine Art Frauenaufstand in der Union. Mehrere Parlamentarierinnen versammelten sich vor Adenauers Büro, teilten der Presse mit: »Die weiblichen Abgeordneten der CDU/CSU sind übereinstimmend der Überzeugung, daß dem vierten Kabinett Adenauer eine Frau in einem Ministeramt angehören muß.« Die Frauen wichen nicht, bis sie von Adenauer eine feste Zusage bekamen. In der DDR war die Regierung in dieser Hinsicht weiter – mit Elisabeth Zaisser und Hilde Benjamin gab es hier schon seit den 1950er Jahren Ministerinnen.
Noch größeren Einfluss auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sollte »Anovlar« haben. Offiziell verkaufte das Pharma-Unternehmen Schering die Pille seit 1961 als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden, die Schwangerschaftsverhütung stand als Nebenwirkung in der Packungsbeilage. Viele Ärzte verschrieben die Pille zunächst nur verheirateten Frauen mit mindestens drei Kindern und setzten auch die Erlaubnis des Ehemanns voraus. Auch deshalb dauerte es mehrere Jahre, bis sich die Anti-Baby-Pille massenhaft verkaufte.
Als Konrad Adenauer Ende 1961 seine – letztmals nur im Radio übertragene – Weihnachtsansprache hielt, sprach er von einer drückenden, einer atemberaubenden Zeit: »Sie ist erfüllt von Hast, Unsicherheit und Unfrieden.« Im Blick hatte er den Mauerbau, den Kalten Krieg, oder um mit Adenauers Worten zu sprechen, die Brände, die der »atheistische Kommunismus weltweit schürt«.
Die weltpolitischen Risse hatten 1961 alle vor Augen, die Relevanz gesellschaftlicher Neuanfänge wie der Beginn der Zuwanderung aus der Türkei sind leichter im Rückblick zu erkennen. Aber manchmal sind es die B-Seiten der Weltpolitik, die langfristig einen Wandel bewirken.