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Evangelische Gemeinde in Istanbul

»Wir fühlen uns allein gelassen«

Reportage
Evangelische Gemeinde in Istanbul
Der Glockenturm der evangelischen Kreuzkirche in Istanbul Foto: Özgür Uludağ

Seit 175 Jahren bietet die evangelische Gemeinde der deutschen Diaspora in Istanbul ein Stück Heimat. Dabei operiert sie seit 1923 in einer rechtlichen Grauzone und die Entfaltungsmöglichkeiten sind in den vergangenen Jahren immer kleiner geworden.

Jeden Sonntagmittag erfüllt das Läuten der Glocke der evangelischen Kreuzkirche die kleinen Gassen im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu. In das Läuten mischt sich das Quietschen des Metallgelenks, an dem die Glocke seit 1889 hängt. Damit sie sich überhaupt bewegt, muss heftig am Seil gezogen werden. Unzählige Gottesdienste wurden so eingeläutet.

 

Vor 175 Jahren wurde die Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in Istanbul gegründet. Damals wie heute gab es Phasen, die schwierig waren. »Früher hatten wir 40 Lehrerfamilien hier, die alle mit Kind und Kegel hier waren. Das ergab natürlich ein besonders gutes, lebendiges Gemeindebild. Doch die meisten Familien sind jetzt weg. Nur noch einige, die sich trauen, sind hiergeblieben«, meint Margitta Arbatli, die schon seit mehr als vierzig Jahren in der Türkei lebt.

 

Sie heiratete einen Türken und kehrte mit ihm zurück in die Türkei

 

Die Westfälin heiratete in den 1980er Jahren einen Türken in Deutschland und kehrte mit ihm zurück in die Türkei. Obwohl ihr Ehemann starb und sie weitere private Schicksalsschläge ertragen musste, blieb sie in der Türkei. Auch Militärputsche, Putschversuche und Wirtschaftskrisen änderten nichts daran. »Jetzt fühle ich mich in Deutschland fremd«, sagt sie, »die Türkei ist jetzt meine Heimat.« Aber sie ist unzufrieden mit den Entwicklungen in der Türkei. Sie sagt es nicht offen, weil sie ihre Heimat gut kennt und es ist weniger die Politik, die sie entfremdet, als die gesellschaftlichen Entwicklungen: »Ich würde mich gerne neben meinem Mann beerdigen lassen. Mal sehen, ob das in Zukunft als Christin auch noch geht.«

 

Evangelische Gemeinde in Istanbul
Kirchenrätin Margitta Arbatli lebt schon seit mehr als vierzig Jahren in der Türkei. Obwohl ihr Ehemann starb und sie weitere private Schicksalsschläge ertragen musste, blieb sie in der Türkei.Foto: Özgür Uludağ

 

Wie Margitta Arbatli sind viele Frauen aus Deutschland der Liebe wegen in die Türkei gezogen und haben inzwischen haben das Rentenalter erreicht. Sie sind endgültig in der Türkei angekommen und verwurzelt. Deutsche Mitarbeiter und Beschäftigte in Unternehmen, Universitäten oder Institutionen haben einen anderen Blick auf die Entwicklung der vergangenen Jahre und fragen sich: Wie sicher ist die Türkei noch?

 

Die Diakonin der evangelischen Kreuzkirche in Istanbul hatte Glück im Unglück, als sie im Juni 2016, nur wenige Stunden vor einem weiteren Terroranschlag des IS am Istanbuler Flughafen Atatürk landete.

 

In den vergangenen drei Jahren wurden es zunehmend weniger Menschen, die sich für ein Leben in der Türkei entschieden – vor allem Familien mit Kindern bleiben fern. »Früher war Istanbul hip«, sagt Axel Brott, der Schulleiter der deutschen Schule in Istanbul. Ein großer Haufen Initiativbewerbungen habe jedes Jahr auf seinem Schreibtisch gelegen. »Seit drei Jahren bewerben sich nur noch Alleinstehende auf reguläre Stellenausschreibungen«, sagt er.

 

Die positive Wahrnehmung kippte spätestens 2016, als elf deutsche Touristen im Stadtzentrum bei einem Terroranschlag des sogenannten Islamischen Staates (IS) getötet wurden und einige Monate später IS-Terroristen den Istanbuler Flughafen Atatürk angriffen. Melanie Henke, die Diakonin der evangelischen Kreuzkirche in Istanbul, hatte damals Glück im Unglück. Sie landete nur wenige Stunden zuvor am Flughafen. Genau an diesem Tag hatte sie ihr Vorstellungsgespräch in der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Istanbul.

 

Evangelische Gemeinde in Istanbul
Der Garten der Kreuzkirche in IstanbulFoto: Özgür Uludağ

 

Während sie überlegte, ob sie für mehrere Jahre als Gemeinde-Diakonin nach Istanbul ziehen sollte, marschierten drei IS-Terroristen mit Kalaschnikows, Handgranaten und Sprengsätzen in die Wartehalle des Flughafens und ermordeten willkürlich über 40 Menschen. Verwandte und Freunde der Diakonin sagten, die Türkei sei zu gefährlich und sie sei verrückt, in dieses Land zu ziehen, das so häufig Opfer von Anschlägen ist.

 

Schwierige finanzielle Lage der evangelischen Gemeinde

 

Als sie wenig später die Zusage bekam, gab sie ihren Job und ihre Wohnung in Deutschland auf und zog nach Istanbul. Einen Abend zuvor hatten einige türkische Generäle versucht, am 16. Juni 2016 die Regierung Erdoğan zu stürzen. Der Staatsstreich scheiterte. Wieder stand Melanie Henke vor der Frage: Gehen oder bleiben? Sie blieb mit Gepäck für mehrere Jahre.

 

Inzwischen ist sie oft als Diakonin in der Stadt unterwegs und Kümmert sich um das Wohl der älteren Gemeindemitglieder, für die der Weg zur Kreuzkirche in die Innenstadt von Istanbul zu lang und beschwerlich ist. So hat auch Melanie Henke mittlerweile Wurzeln in Istanbul geschlagen, neue Freunde gefunden und sich in die Stadt verliebt. Die Ereignisse der vergangenen Jahre und die Berichterstattung haben aber vor allem bei Touristen aus Deutschland Eindruck hinterlassen. Es kommen nicht mehr so viele Touristen aus Deutschland wie in den Jahren vor den Anschlägen und dem Putschversuch.

 

Während im Jahr 2014 noch etwa 180 Gruppen aus Deutschland die Evangelische Gemeinde besuchten, waren es im Jahr 2018 nur noch drei.

 

Auch Pfarrerin Gabriele Pace ließ sich nicht abschrecken und sagte direkt zu, als sich die Möglichkeit für sie ergab, die Pfarrstelle in Istanbul anzutreten. Ein Herzenswunsch ging damit in Erfüllung, denn sie kannte die Türkei und die Kreuzkirche in Beyoğlu bereits durch Urlaubsreisen und hatte bereits angefangen, Türkisch zu lernen. Nach einer Pfarrstelle im Gefängnis und am Münchner Flughafen ist die Türkei ihre erste Auslandsstation. Zurzeit ist sie die einzige evangelische Pfarrerin aus Deutschland in der Türkei.

 

Drei dürre Jahre lägen nun hinter der Gemeinde, sagt sie. Während im Jahr 2014 noch etwa 180 Gruppen aus Deutschland zu Besuch kamen, waren es im Jahr 2018 nur noch drei. Seit über anderthalb ist sie jetzt Pfarrerin in der Türkei und betet dafür, dass die dürren Jahre bald überstanden sind. »Wir fühlen uns allein gelassen«, sagt sie und hofft, dass die Anzahl der Besucher bald wieder ansteigt. Denn die lassen nicht nur Spenden da, sondern geben ihr auch moralischen Rückhalt.

 

Evangelische Gemeinde in Istanbul
Im Innern der Kreuzkirche: Die fehlenden Spendeneinnahmen machen sich im Gesamtbudget bemerkbar. Die Gemeindemitglieder tragen die jährlich anfallenden Kosten zu 70 Prozent, während die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) 30 Prozen Özgür Uludağ

 

Die fehlenden Einnahmen durch Spenden machen sich im Gesamtbudget bemerkbar. Die Gemeindemitglieder tragen die jährlich anfallenden Kosten zu 70 Prozent, während die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) 30 Prozent übernimmt. Der Etat muss reichen, um die Pfarrerin und die Gemeindediakonin und den Hausmeister, den Gärtner, die Putzhilfe zu bezahlen sowie alle weiteren anfallenden Kosten, die für das Gebäude anfallen, zu decken. Dennoch reicht das Budget kaum. Alles andere wird eben durch Spendengelder finanziert und wenn die Besucherzahlen sinken, dann schmilzt auch die finanzielle Existenzgrundlage auf ein Minimum.

 

Die Pfarrerinnen und Pfarrer der Gemeinde arbeiten nicht als Geistliche in der Türkei, sondern als Angestellte des deutschen Konsulats, die mit kulturellen Aufgaben betraut sind.

 

Doch Pfarrerin Gabriele Pace ist optimistisch und hat Gottvertrauen – sowohl, dass es finanziell wieder aufwärts geht, als auch, dass die politische Situation sich irgendwann entspannt und die Besuchergruppen wiederkommen. Der Austausch und die Begegnung mit ihren christlichen Glaubensbrüdern und -schwestern aus Deutschland, die zu Besuch kommen, ist ihr wichtig, um das Miteinander zu stärken.

 

Außerdem sei es auch gar nicht so schlimm, wie immer berichtet würde. »Sie können in der Türkei alles tun, so lange sie es nicht offiziell machen.« Wer sich an diesen Satz von Bartholomäus I., seit 1991 Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel, halte, bekomme auch keine Schwierigkeiten. Natürlich sei die Lage angespannt und schwierig, aber deutsche Touristen hätten nichts zu befürchten, da ist sich die Pastorin sicher.

 

Anders sieht es für das Grundstück oder die Kreuzkirche aus, denn religiöse Auslandsgemeinschaften in der Türkei befinden sich juristisch schon seit dem Jahr 1923 in einer Grauzone. Wer in der Türkei als Kleriker arbeiten will, muss die türkische Staatsangehörigkeit besitzen oder als Angestellter im Konsulat oder der Botschaft, zuständig für kulturelle Aufgaben, beschäftigt sein, so wie Pfarrerin Gabriele Pace. Ausländische Kirchengemeinden sind zudem nicht als eigene Rechtsperson geführt. Sie sind nicht geschäftsfähig – dürfen etwa kein eigenes Konto bei einer türkischen Bank führen – oder gar ein Grundstück erwerben.

 

Evangelische Gemeinde in Istanbul
Mitte des 17. Jahrhunderts erwarb die Preußische Gesandtschaft ein Grundstück in dem Stadtteil Beyoğlu, das damals Pera hieß, und überließ es 1843 der »Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache zu Constantinopel«. Kreuzkirche Istanbul

 

Schwierige Arbeitsbedingungen ist die deutschsprachige evangelische Gemeinde in der Türkei gewohnt und hat in den vergangenen 175 Jahren seit ihrer Gründung schon einige unruhige Zeiten erlebt. Die Kreuzkirche liegt auf der europäischen Seite Istanbuls im Stadtteil Beyoğlu. Hier wurden einst Botschaften, Handelskontore und Kirchen im Kolonialstil errichtet. Damals herrschte in Istanbul noch ein Sultan und Deutschland war aufgeteilt in Fürstentümer. Mitte des 17. Jahrhunderts erwarb die Preußische Gesandtschaft ein Grundstück in dem Stadtteil Beyoğlu, das damals Pera hieß, und überließ es 1843 der »Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache zu Constantinopel«, die von Kaufleuten, preußischen Offizieren in türkischem Dienst und Angestellten der Preußischen Gesandtschaft gegründet worden war.

 

Auf die deutsche Schule und der Pfarrwohnung wurde 1861 einfach ein zweites Stockwerk gebaut – fertig war die evangelische Kreuzkirche in Beyoğlu.

 

Als König von Preußen und oberster Bischof der Evangelischen Landeskirche in Preußen überließ Friedrich Wilhelm IV. das Grundstück der Evangelischen Gemeinde in Istanbul, die 1850 zunächst eine deutsche Grundschule und dann auch die Pfarrwohnung dort baute. Da die Protestanten in Istanbul zum Gottesdienst immer in die schwedische oder niederländische Gesandtschaftskapelle ausweichen mussten, wollten sie ihre eigene Kirche einweihen. 1861 war es dann soweit. Auf die Deutsche Schule samt Pfarrwohnung wurde einfach ein zweites Stockwerk mit Kirchenschiff gebaut – fertig war die evangelische Kreuzkirche in Beyoğlu. Für die Schule wurde unweit der Kirche ein neues Gebäude errichtet.

 

2018 jährte sich die Gemeindegründung zum 175ten Mal. Wie schon 1843 besteht auch heute die Gemeinde aus Mitarbeitern von Unternehmen, Institutionen und Konsulaten oder Lehrern und ihren Familien, die in der Türkei leben und arbeiten. Und Pfarrerin Gabriele Pace ist zuversichtlich, dass die Evangelische Gemeinde deutscher Sprache auch in Zukunft in der Kreuzkirche in Beyoğlu ein Stück Heimat in Istanbul bewahren kann.

Von: 
Özgür Uludag

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